Judas

Judas aber, der ihn überlieferte, antwortete und sprach: »Ich bin es doch nicht, Rabbi?« Matthäus 26,25 Der verachtetste aller Jünger ist Judas Iskariot, der Verräter. In jeder biblischen Apostelliste steht sein Name am Schluss, ausser in Apostelgeschichte 1, wo er überhaupt nicht aufgeführt wird. Immer wenn die Schrift seinen Namen erwähnt, wird ein Hinweis auf seinen Verrat angehängt. Er war der grösste Versager der ganzen Menschheitsgeschichte und verübte die schrecklichste, abscheulichste Tat, die ein Einzelner jemals beging. Er verriet den vollkommenen, sündlosen, heiligen Sohn Gottes für eine Hand voll Geld. Seine finstere Geschichte ist ein schmerzliches Beispiel dafür, wie tief das menschliche Herz sinken kann. Drei Jahre verbrachte er mit Jesus Christus, doch die ganze Zeit über war sein Herz hart und voller Hass. Die anderen elf Apostel sind für uns eine grosse Ermutigung, da sie veranschaulichen, wie normale Menschen mit ihren typischen Schwachpunkten von Gott auf aussergewöhnliche Weise gebraucht werden können. Auf der anderen Seite ist das Leben von Judas eine Warnung vor geistlicher Sorglosigkeit, verpassten Gelegenheiten, sündigen Begierden und einem harten Herz. Er war dem Herrn so nahe, wie es einem Menschen überhaupt nur möglich sein kann. Er genoss jedes Privileg, das Christus ihnen gab. Ihm waren alle Lehren Jesu vertraut. Dennoch verharrte er im Unglauben und ging ohne Hoffnung in die Ewigkeit. Judas war eine genauso normale Person wie alle anderen Jünger, ohne irdische Referenzen und ohne besondere Merkmale, die ihn aus der Gruppe hervorgehoben hätten. Sein Anfang glich dem der anderen. Allerdings machte er sich nie die Wahrheit durch Glauben zu Eigen und wurde daher auch nicht verändert wie die anderen. Während jene als Söhne Gottes im Glauben wuchsen, wurde er mehr und mehr zu einem Kind der Hölle. Das Neue Testament liefert uns reichlich Information über Judas – genug, um zwei Dinge zu begreifen: Erstens erinnert uns sein Leben daran, dass es möglich ist, Christus nahe und mit ihm (oberflächlich) verbunden zu sein, und dennoch von der Sünde völlig verhärtet zu werden. Zweitens erinnert es uns daran, dass Gottes Absichten nicht vereitelt werden können, ganz gleich, wie sündig ein Mensch auch sein mag oder wie verräterisch er sich gegen Gott auch stellen mag. Selbst der schlimmste Verrat trägt zur Erfüllung des göttlichen Plans bei. Gottes souveräner Plan kann nicht umgestossen werden, nicht einmal durch die listigsten Intrigen derer, die ihn hassen. Sein Name Judas’ Name ist eine Form von Juda. Er bedeutet »der Herr führt«, was die grosse Hoffnung seiner Eltern bei der Geburt andeutet, dass er von Gott geführt würde. Die Ironie seines Namens liegt darin, dass kein Mensch deutlicher von Satan geführt wurde als Judas. Sein Nachname, Iskariot, lässt seine Heimatregion erkennen. Er leitet sich von dem hebräischen iysh (»Mann«) und dem Namen der Stadt Kariot ab – »Mann aus Kariot.« Wahrscheinlich kam Judas aus Kerijot-Hezron (vgl. Jos 15,25), einer kleinen Ortschaft im Süden Judäas. Anscheinend war er der einzige Apostel, der nicht aus Galiläa stammte. Wie wir wissen, waren viele der anderen Brüder, Freunde und Arbeitskollegen, schon bevor sie Jesus begegneten. Judas war ein Einzelgänger, der von weither zu ihnen dazustiess. Obwohl es in der Schrift keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Gruppe ihn ausschloss oder auf ihn herabsah, mag er sich selbst für einen Aussenseiter gehalten haben, was ihm möglicherweise bei der Legitimation seines Verrats geholfen haben könnte. Dass Judas den galiläischen Jüngern fremd war, könnte ihn in seinem Lebenswandel noch bestärkt haben. Die anderen wussten wenig über seine Familie, seinen Hintergrund und sein Leben vor der Erwählung zum Jünger. Daher konnte er ihnen leicht etwas vorheucheln. Er schaffte es, sich die vertrauensvolle Position des Schatzmeisters der Gruppe zu erarbeiten und nutzte diese, um Geld in seine eigene Tasche zu stecken (Joh 12,6). Judas’ Vater hiess Simon (Joh 6,71). Ansonsten wissen wir nichts über diesen Mann. Offenbar war es ein häufig anzutreffender Name, den auch zwei Jünger trugen (Petrus und der Zelot). Darüber hinaus wissen wir über Judas’ Familie und sozialen Hintergrund nichts. In jeder Hinsicht war Judas eine ganz normale Person – so wie die anderen. Bezeichnenderweise deutete niemand mit dem Finger auf Judas, als Jesus vorhersagte, dass einer von ihnen ihn verraten würde (Mt 26,22-23). Er war ein so raffinierter Heuchler, dass ihm niemand Misstrauen entgegenbrachte. Aber Jesus kannte sein Herz von Anfang an (Joh 6,64).Seine Berufung Die Schrift sagt nichts über Judas’ Berufung. Allerdings ist klar, dass er Jesus bereitwillig folgte. Er lebte in einer Zeit erhöhter messianischer Erwartung, und wie die meisten Israeliten sehnte er das Kommen des Messias herbei. Als er von Jesus hörte, muss er zu der Überzeugung gelangt sein, dass dies der wahre Messias sei. Wie die übrigen Elf gab auch er alles auf und begann, Jesus vollzeitig nachzufolgen. Judas blieb auch dann noch bei Jesus, als weniger hingegebene Jünger die Gruppe verliessen (Joh 6,66-71). Er hatte sein Leben der Nachfolge Jesu gewidmet. Aber nie sein Herz. Judas war wahrscheinlich ein junger, eifriger, patriotischer Jude, der die römische Herrschaft nicht wollte und darauf hoffte, dass Christus die ausländischen Unterdrücker stürzen und das Reich Israel wiederherstellen würde. Es war ihm völlig klar, dass Jesus Macht besass wie kein anderer Mann. Es gab genügend Gründe, die einen Mann wie Judas anzogen. Doch ebenso deutlich ist, dass Judas in geistlicher Hinsicht nicht von Christus angezogen wurde. Er folgte Jesus aus egoistischem Gewinndenken, weltlichen Ambitionen und Habgier heraus. Er erkannte Jesu Macht und wollte sie für sich selbst eingesetzt sehen. Er war nicht um der Errettung oder Christi willen am Reich Gottes interessiert. Ihm war nur wichtig, was er für sich rausholen konnte. Reichtum, Macht und Prestige speisten seine Ambitionen. Einerseits ist klar, dass er die Entscheidung traf, Christus nachzufolgen. Selbst als die Nachfolge schwierig wurde, verliess er ihn nicht. Um andere darüber hinwegzutäuschen, wie es wirklich in ihm aussah, musste er seine Heuchelei noch klüger tarnen. Andererseits war es auch Jesu Entscheidung, ihn auszuwählen. Die Spannung zwischen göttlicher Souveränität und menschlicher Entscheidung wird in Judas’ Berufung genauso sichtbar wie bei den anderen Jüngern. Sie alle hatten sich für Jesus entschieden, aber er hatte sie zuerst erwählt (Joh 15,16). Auch Judas hatte sich für die Nachfolge Jesu entschieden. Und dennoch wurde er auch von Jesus erwählt, aber nicht zur Errettung. Seine Rolle als Verräter wurde vor Grundlegung der Welt festgelegt und im Alten Testament sogar vorhergesagt. In Psalm 41,10, einer messianischen Prophetie, heisst es: »Selbst mein Freund, auf den ich vertraute, der mein Brot ass, hat die Ferse gegen mich erhoben.« Jesus zitierte diesen Vers in Johannes 13,18 und sagte, dass er sich in seinem Verrat erfüllen würde. In Psalm 55,13-15 lesen wir: »Denn nicht ein Feind höhnt mich, sonst würde ich es ertragen; nicht mein Hasser hat grossgetan gegen mich, sonst würde ich mich vor ihm verbergen; sondern du, ein Mensch meinesgleichen, mein Freund und mein Vertrauter, die wir die Süsse der Gemeinschaft miteinander erlebten, ins Haus Gottes gingen in festlicher Unruhe!« Auch diese Stelle sagte Judas’ Verrat voraus. Und in Sacharja 11,12-13 heisst es: »Und sie wogen meinen Lohn ab: dreissig Silberschekel. Da sprach der HERR zu mir: Wirf ihn dem Töpfer hin, den herrlichen Wert, den ich ihnen wert bin! Und ich nahm die dreissig Silberschekel und warf sie in das Haus des HERRN dem Töpfer hin.« Aus Matthäus 27,9-10 wird deutlich, dass dies eine weitere Prophetie in Bezug auf Judas war. Somit war seine Rolle vorherbestimmt. Die Schrift sagt sogar, dass Jesus schon bei der Erwählung wusste, dass Judas derjenige sei, der die Prophetien über seinen Verrat erfüllen würde. Wissentlich erwählte er ihn, um den Plan zu erfüllen. Und trotzdem wurde Judas auf keinen Fall zu seiner Tat gezwungen. Keine unsichtbare Hand drängte ihn zum Verrat an Christus. Er handelte freiwillig und ohne Druck von aussen. Er war für sein Handeln selbst verantwortlich. Jesus sagte, dass er die Schuld seiner Tat in Ewigkeit tragen würde. Seine Habgier, sein Ehrgeiz und seine bösen Begierden waren die einzigen Kräfte, die ihn zum Verrat an Christus zwangen. Wie können wir die Tatsache, dass Judas’ Verrat vorhergesagt und im Voraus festgelegt wurde, mit dem Umstand vereinbaren, dass er aus freiem Willen handelte? Es ist überhaupt nicht nötig, diese beiden Fakten miteinander in Einklang zu bringen. Denn sie widersprechen sich nicht. Gottes Plan und Judas’ böse Tat stimmen perfekt überein. Judas’ Tat entsprang seinem bösen Herzen. Gott, der alle Dinge nach dem Rat seines Willens tut (Eph 1,11), hatte Jesu Verrat genauso vorherbestimmt wie sein Tragen der Sünden der ganzen Welt. In Lukas 22,22 bestätigte Jesus diese beiden Wahrheiten: »Und der Sohn des Menschen geht zwar dahin, wie es beschlossen ist. Wehe aber jenem Menschen, durch den er überliefert wird!« Spurgeon sagte über den Zusammenhang zwischen göttlicher Souveränität und menschlicher Entscheidung Folgendes: Wenn … eine Bibelstelle lehrt, dass alles vorherbestimmt ist, dann ist das wahr; und wenn ich an einer anderen Stelle finde, dass der Mensch für all seine Taten selbst verantwortlich ist, so stimmt das ebenfalls. Nur meine Torheit lässt mich annehmen, dass sich diese beiden Wahrheiten widersprechen könnten. Ich glaube nicht, dass ein irdischer Amboss sie jemals zusammenschweissen könnte, aber in der Ewigkeit werden sie gewiss eins sein. Sie sind wie zwei Linien, die so dicht parallel verlaufen, dass der Mensch niemals wahrnehmen kann, wo sie zusammentreffen, aber dennoch tun sie es. Irgendwo in der Ewigkeit, in der Nähe von Gottes Thron, wo alle Wahrheit entspringt, laufen sie zusammen. 1 Gott bestimmte die Ereignisse, die zu Jesu Tod führten, und dennoch war es Judas’ eigene Entscheidung, seine böse Tat auszuführen – frei und ungezwungen von jeglichem äusseren Einfluss. Beides ist wahr. Gottes vollkommener Wille und Judas’ böse Absichten stimmten überein, um den Tod Christi herbeizuführen. Judas beabsichtigte Böses, aber Gott wendete es zum Guten (vgl. 1Mo 50,20). Hier gibt es keinen Widerspruch. Aus menschlicher Sicht hatte Judas die gleiche Chance wie alle anderen – nur mit dem Unterschied, dass ihn die Person Jesu Christi niemals anzog. Er sah in ihm nur das Mittel zum Zweck. Judas’ geheimes Ziel war sein persönlicher Reichtum. Er nahm Jesu Lehren nie im Glauben an und verspürte nicht einen einzigen Funken echter Liebe für ihn. Sein Herz war unverändert, weshalb ihn das Licht der Wahrheit nur verhärtete. Judas hatte viele Gelegenheiten, sich von seiner Sünde abzuwenden. Christus bat ihn mehrfach, seine geplante Tat nicht auszuführen. Ihm entging keine Lektion, die Jesus während seines Dienstes lehrte. Viele dieser Lektionen wandten sich direkt an ihn: das Gleichnis vom ungerechten Verwalter (Lk 16,1-13), die Botschaft vom Hochzeitskleid (Mt 22,11-14) und Jesu Predigten über Geldliebe (Mt 6,19-34), Habgier (Lk 12,13-21) und Stolz (Mt 23,1-12). Jesus hatte den Zwölfen sogar offen gesagt, dass »einer von euch ein Teufel ist« (Joh 6,70). Er sprach ein Wehe über seinen Verräter aus (Mt 26,24). Judas hörte alldem ungerührt zu. Er wandte diese Lehren nicht auf sich an und hielt seine Heuchlerei aufrecht. Seine Desillusionierung Mit der Zeit wurde Judas in Bezug auf Christus zunehmend desillusionierter. Am Anfang dachten zweifellos alle Jünger, der jüdische Messias sei ein orientalischer Monarch, der Judäas Feinde besiegen, Israel von der heidnischen Besatzung befreien und Davids Königreich in einer noch nie da gewesenen Herrlichkeit aufrichten würde. Sie wussten, dass Jesus Wunder tat. Offensichtlich hatte er Macht über das Reich der Finsternis. Auch über die physische Welt besass er Autorität. Niemand zuvor lehrte, sprach und lebte wie er. Für die Jünger war er die Erfüllung der alttestamentlichen messianischen Verheissungen. Aber nicht immer erfüllte Jesus ihre persönlichen Erwartungen und Pläne. Um ehrlich zu sein: Hinter ihren Erwartungen standen nicht immer geistliche Motive. Ab und zu gibt es dafür Hinweise, beispielsweise, als Jakobus und Johannes um die wichtigsten Plätze im Reich baten. Die meisten machten sich Hoffnung auf ein irdisches, materielles, politisches, militärisches und wirtschaftliches Reich. Obwohl sie alles verlassen hatten, um Jesus nachzufolgen, so taten sie dies in der Erwartung, Lohn zu empfangen (Mt 19,27). Der Herr versicherte ihnen, dass sie belohnt würden, aber ihren vollen und endgültigen Lohn bekämen sie erst im zukünftigen Zeitalter (Lk 18,29-30). Wenn sie mit einer sofortigen materiellen Belohnung rechneten, würden sie enttäuscht werden. Die übrigen Apostel begannen langsam zu begreifen, dass der wahre Messias anders war, als sie anfangs dachten. Sie machten sich das höhere Verständnis der biblischen Verheissungen zu Eigen, die Jesus ihnen darlegte. Ihre Liebe zu Christus überwand ihre weltlichen Ambitionen. Sie nahmen seine Lehre über die geistliche Dimension des Reiches an und hatten daran mit Freude Anteil. Judas hingegen wurde einfach desillusioniert. Meistens versteckte er seine Enttäuschung unter einem Mantel von Heuchelei, wahrscheinlich, weil er nach einer Möglichkeit suchte, etwas Geld aus den Jahren zu schlagen, die er in Jesus investiert hatte. Die Weltlichkeit in seinem Herzen wurde nie besiegt. Zu keiner Zeit nahm er das geistliche Reich Christi an. Er blieb ein Aussenseiter, wenn auch im Geheimen. Wir können in den Evangelien nur an wenigen Stellen einen Blick auf Judas werfen. Aber all diese Stellen lassen darauf schliessen, dass er schon lange zunehmend desillusionierter und verbitterter wurde, dies aber vor allen versteckte. Schon in Johannes 6, während seines Wirkens in Galiläa, sprach Jesus von Judas als einem »Teufel«. Jesus wusste, was sonst niemand wusste: Judas war bereits verstimmt. Noch immer war er ungläubig, ohne Reue und nicht wiedergeboren; in der ganzen Zeit verhärtete sich sein Herz mehr und mehr. Als Jesus und die Jünger im letzten Jahr seines irdischen Wirkens zum Passahfest nach Jerusalem gingen, hatte Judas seinen geistlichen Tiefpunkt erreicht. Irgendwann in diesen letzten Tagen wurde aus seiner Desillusionierung Hass, und schliesslich mischte sich Habsucht unter den Hass, was dann zum Verrat führte. Wahrscheinlich redete sich Judas ein, dass Jesus ihm sein Leben gestohlen habe – ihm zwei Jahre raubte, in denen er Geld hätte machen können. Diese Gedanken nagten an ihm, bis er schliesslich zum Verräter Christi wurde. Seine Habgier Kurz nach Lazarus’ Auferweckung und direkt vor Jesu triumphalem Einzug in Jerusalem gingen Jesus und seine Jünger nach Betanien am Stadtrand Jerusalems. Dort wurde Lazarus auferweckt, und dort lebten dessen Schwestern Maria und Marta. Jesus war im Haus »Simons, des Aussätzigen« (Mt 26,6) zum Abendessen eingeladen. Anwesend waren auch sein Freund Lazarus sowie Maria und Marta, die beim Servieren halfen. Johannes 12,2-3 berichtet, was geschah: »Sie machten ihm nun dort ein Abendessen, und Marta diente; Lazarus aber war einer von denen, die mit ihm zu Tisch lagen. Da nahm Maria ein Pfund Salböl von echter, sehr kostbarer Narde und salbte die Füsse Jesu und trocknete seine Füsse mit ihren Haaren. Das Haus aber wurde von dem Geruch des Salböls erfüllt.« Ihre Tat war ausserordentlich kostspielig. Sie beinhaltete nicht nur offene Verehrung, sondern hatte ebenso den Anschein von Verschwendung. Parfüm, insbesondere ein so teures wie dieses, wird normalerweise in kleinen Dosen verwendet. Ist es erst einmal ausgegossen, kann es kein zweites Mal benutzt werden. Ein Pfund dieses teuren Parfüms auszugiessen und damit die Füsse eines anderen zu salben, wirkte wie grobe Verschwendung. »Es sagt aber Judas, der Iskariot, einer von seinen Jüngern, der ihn überliefern sollte: Warum ist dieses Salböl nicht für dreihundert Denare verkauft und den Armen gegeben worden?« (V. 4-5). Dreihundert Denare für Parfüm war in jeder Hinsicht viel Geld. Ein Arbeiter bekam im Allgemeinen einen Denar als Tageslohn (Mt 20,2). Dreihundert Denare waren also ein voller Jahreslohn (wenn man am Sabbat und an Feiertagen nicht arbeitet). Ich habe meiner Frau zwar schon teures Parfüm gekauft, aber ich würde nie auf die Idee kommen, für ein einziges Fläschchen Parfüm ein ganzes Jahresgehalt auszugeben! Das war eine überaus grosszügige Tat einer Familie, die vermögend gewesen sein musste. Judas’ Reaktion war ein raffinierter Trick. Er täuschte Sorge für die Armen vor. Auch den anderen Jüngern schien sein Einwand berechtigt, denn Matthäus 26,8 berichtet, dass sie ebenso entrüstet waren wie Judas. Judas war bereits zu einem Experten in Heuchlerei geworden! Jahre später schrieb der Apostel Johannes über diese Begebenheit: »Er sagte dies aber nicht, weil er für die Armen besorgt war, sondern weil er ein Dieb war und die Kasse hatte und beiseite schaffte, was eingelegt wurde« (Joh 12,6). Aber zum damaligen Zeitpunkt erkannten weder Johannes noch die anderen Apostel seinen Betrug; erst im Rückblick, als Johannes sein Evangelium durch die Inspiration des Heiligen Geistes schrieb, teilte er uns das Motiv mit: reine Habsucht. Jesus antwortete auf Judas’ Einwand: »Lass sie! Möge sie es aufbewahrt haben für den Tag meines Begräbnisses! Denn die Armen habt ihr allezeit bei euch, mich aber habt ihr nicht allezeit« (V. 7-8). Angesichts der momentanen Umstände, und weil Jesus genau wusste, was im Herzen von Judas war, scheint es eine eher leichte Zurechtweisung zu sein. Er hätte Judas aufs Schärfste verurteilen und seine wahren Motive aufdecken können, aber er tat es nicht. Dennoch scheint dieser milde Tadel Judas’ Groll gegen Jesus noch vergrössert zu haben. Er tat keine Busse. Er prüfte nicht einmal sein Herz. Anscheinend war diese Begebenheit sogar der Wendepunkt in seinem Denken. Dreihundert Denare wären viel Geld für die Kasse der Jünger gewesen und hätten Judas eine erstklassige Möglichkeit geboten, Geld in die eigene Tasche zu stecken. Sie entging ihm jedoch, da Jesus eine solch grosszügige Verehrung bereitwillig annahm. Für Judas schien es der Tropfen gewesen zu sein, der das Fass zum Überlaufen brachte, denn direkt nach Jesu Salbung schreibt Matthäus: »Dann ging einer von den Zwölfen, Judas Iskariot mit Namen, zu den Hohenpriestern und sprach: Was wollt ihr mir geben, und ich werde ihn euch überliefern? Sie aber setzten ihm dreissig Silberlinge fest. Und von da an suchte er Gelegenheit, ihn zu überliefern« (Mt 26,14-16). Er schlich sich weg, verliess Betanien, ging den etwa zweieinhalb Kilometer langen Weg nach Jerusalem, traf sich mit den Hohenpriestern und verkaufte Jesus für eine Hand voll Münzen an dessen Feinde. Dreissig Silberlinge. Das ist alles, was er bekommen konnte. Laut 2. Mose 21,32 war es der Preis für einen Sklaven. Das war nicht viel Geld. Aber mehr konnte er nicht aushandeln. Der Gegensatz raubt einem den Atem: Unser Herr wird von Maria mit einer überwältigenden Liebe gesalbt und gleichzeitig von Judas’ tiefstem Hass verraten. Das ist das erste Mal, dass Judas sein wahres Gesicht zeigt. Bis dahin hatte er sich der Gruppe vollkommen angepasst. Hier wird zum ersten Mal berichtet, dass er sich zu Wort meldete und Jesu direkten Tadel einstecken musste. Anscheinend reichte das schon aus, um seinen Verrat auszulösen. So lange wie möglich hatte er seine Bitterkeit und Desillusionierung in sich hineingefressen. Nun kamen sie durch seinen geheimen Verrat zum Vorschein. Seine Heuchelei In Johannes 13,1 beginnt der Apostel Johannes mit seinem ausführlichen Bericht der Dinge, die sich in der Nacht, als Jesus festgenommen wurde, im Obersaal ereigneten. Nachdem er das Geld für den Verrat bereits erhalten hatte, kam Judas zurück, mischte sich unter die anderen Jünger und tat, als wäre nichts Ungewöhnliches geschehen. Johannes sagt, dass der Teufel es Judas ins Herz gab, Jesus zu verraten (V. 2). Das überrascht nicht. Um es noch einmal zu betonen, Judas tat es freiwillig – ohne jeden Zwang. Satan konnte ihn nicht zwingen, Jesus zu verraten. Aber Satan initiierte die Verschwörung, verleitete Judas zur Ausführung und pflanzte den Samen des Verrats in sein Herz. Das Herz von Judas stand der Wahrheit so feindlich gegenüber und war so sehr mit Bösem erfüllt, dass er ein williges Instrument Satans wurde. Genau an diesem Punkt gab Jesus den Aposteln eine Lektion in Demut, indem er ihre Füsse wusch. Er wusch die Füsse von allen zwölf Jüngern – sogar die von Judas. Dieser sass da, liess Jesus seine Füsse waschen und blieb zutiefst ungerührt. Der schlimmste Sünder der Welt war also auch der allerbester Heuchler der Welt. Andererseits wurde Petrus durch Jesu demütige Tat tief bewegt. Zunächst war er beschämt und weigerte sich sogar, sich von Jesus die Füsse waschen zu lassen. Doch als Jesus ihm sagte: »Wenn ich dich nicht wasche, so hast du kein Teil mit mir« (V. 8), meinte Petrus: »Herr, nicht meine Füsse allein, sondern auch die Hände und das Haupt!« (V. 9). Jesus erwiderte: »Wer gebadet ist, hat nicht nötig, sich zu waschen, ausgenommen die Füsse, sondern ist ganz rein; und ihr seid rein, aber nicht alle« (V. 10). Als er dies sagte, musste ein Raunen durch den Raum gegangen sein. Sie waren doch nur zu zwölft, und nun sagte Jesus, dass einer aus der Gruppe nicht rein war. Johannes fügt hinzu: »Denn er kannte den, der ihn überlieferte; darum sagte er: Ihr seid nicht alle rein« (V. 11). In den Versen 18-19 wurde Jesus sogar noch direkter: »Ich rede nicht von euch allen, ich weiss, welche ich erwählt habe; aber damit die Schrift erfüllt würde: ›Der mit mir das Brot isst, hat seine Ferse gegen mich aufgehoben.‹ Von jetzt an sage ich es euch, ehe es geschieht, damit ihr, wenn es geschieht, glaubt, dass ich es bin.« Damit sagte er, dass sich durch Judas’ Verrat Psalm 41,10 erfüllte. All das schien über die Köpfe der meisten Apostel hinweggegangen zu sein. In Vers 21 sagte Jesus seinen bevorstehenden Verrat noch deutlicher voraus: »Als Jesus dies gesagt hatte, wurde er im Geist erschüttert und bezeugte und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Einer von euch wird mich überliefern.« Mit Ausnahme von Judas waren alle Jünger verblüfft und zutiefst beunruhigt. Anscheinend prüften sie ihre Herzen, denn Matthäus 26,22 berichtet: »Und sie wurden sehr betrübt, und jeder von ihnen fing an, zu ihm zu sagen: Ich bin es doch nicht, Herr?« Selbst Judas, der stets bemüht war, den Schein zu wahren, fragte: »Ich bin es doch nicht, Rabbi?« (V. 25). Aber in seinem Fall fand keine ernsthafte Selbstprüfung statt. Er stellte die Frage nur, weil er sich Sorgen machte, was die anderen über ihn dachten – er wusste bereits, dass er derjenige war, von dem Jesus sprach. Der Apostel Johannes beendet seinen Bericht über diese Begebenheit wie folgt: Einer von seinen Jüngern, den Jesus liebte, lag zu Tisch an der Brust Jesu. Diesem nun winkt Simon Petrus zu erfragen, wer es wohl sei, von dem er rede. Jener lehnt sich an die Brust Jesu und spricht zu ihm: Herr, wer ist es? Jesus antwortete: Der ist es, für den ich den Bissen eintauchen und ihm geben werde. Und als er den Bissen eingetaucht hatte, nimmt er ihn und gibt ihn dem Judas, Simons Sohn, dem Iskariot. Und nach dem Bissen fuhr dann der Satan in ihn. Jesus spricht nun zu ihm: Was du tust, tu schnell! Keiner aber von den zu Tisch Liegenden verstand, wozu er ihm dies sagte: Denn einige meinten, weil Judas die Kasse hatte, dass Jesus zu ihm sage: Kaufe, was wir für das Fest benötigen, oder dass er den Armen etwas geben solle. Als nun jener den Bissen genommen hatte, ging er sogleich hinaus. Es war aber Nacht. (Joh 13,23-30) Für Judas ging damit der Tag des Heils zu Ende. Gottes Gnade machte dem göttlichen Gericht Platz. Judas wurde Satan übergeben. In seinem Herzen hatte die Sünde gesiegt. Satan fuhr in ihn. Obwohl Jesus vom Verräter gesprochen hatte und Judas den Bissen gab, um ihn als diese Person zu identifizieren, verstanden es die Jünger noch immer nicht. Anscheinend rechnete niemand damit, dass Judas der Verräter war. Seine Heuchelei war so perfekt, dass er sie alle – ausser Jesus – bis ganz zum Schluss täuschte. Jesus schickte ihn weg. Das ist nur allzu verständlich. Jesus ist rein, sündlos, makellos und heilig. Auf der anderen Seite stand jedoch dieser elende, böse Mensch, in den buchstäblich der Satan hineingefahren war. Jesus wollte nicht das erste Abendmahl halten, während der Teufel und Judas im Raum waren. Geh raus. Erst nachdem Judas gegangen war, setzte unser Herr das Mahl des Herrn ein. Wenn wir zum Tisch des Herrn kommen, sind wir auch heute noch aufgefordert, uns selbst zu prüfen, um sicherzugehen, dass wir nicht heucheln und Gericht über uns bringen (1Kor 11,27-32). Der Apostel Johannes sagt, dass Jesus während der ganzen Zeit »im Geist erschüttert« war (Joh 13,21), bis Judas ihre Gemeinschaft verlassen hatte. Natürlich war er erschüttert! Diese niederträchtige, erbärmliche und vom Satan besessene Existenz vergiftete die Gemeinschaft der Apostel. Judas’ Undankbarkeit, seine Ablehnung der Freundlichkeit Jesu, sein verborgener Hass auf ihn, die widerwärtige Gegenwart Satans, die Abscheulichkeit der Sünde, der furchtbare Gedanke, dass die Klauen der Hölle auf einen seiner engsten Gefährten warteten – all das erschütterte Jesus. Kein Wunder also, dass er Judas wegschickte. Sein Verrat Anscheinend ging Judas vom Obersaal direkt zum Sanhedrin. Er berichtete ihnen, dass er den endgültigen Bruch vollzogen hatte und nun wusste, wo sie Jesus im Schutz der Dunkelheit ergreifen konnten. Seitdem er den Handel mit dem Sanhedrin gemacht hatte, suchte Judas nach einer passenden Gelegenheit, um Jesus zu verraten (Mk 14,11). Jetzt war der Augenblick gekommen. Wir sollten uns daran erinnern, dass Judas nicht in einem Anflug von Wahnsinn handelte. Seine Tat entsprang nicht einem Gefühl. Vielmehr war sie durchdacht und tagelang geplant, wenn nicht sogar schon seit Wochen oder Monaten. Das Geld dafür hatte er schon bekommen (Mt 26,15). Er hatte nur noch auf den geeigneten Augenblick gewartet. Die ganze Zeit hatte er Gelder unterschlagen, seine heuchlerische Fassade aufrechterhalten und sich zu den übrigen Aposteln gehalten, so als wäre er einer von ihnen. Jetzt aber hatte Jesus den anderen Jüngern offen gesagt, dass Judas ihn verraten würde. Beinahe wurde Judas in Gegenwart der anderen entlarvt. Nun war es Zeit für ihn zu handeln. Worauf hätte er auch noch warten sollen? Laut Lukas 22,6 hatte Judas nach einer Gelegenheit gesucht, »um ihn ohne Volksauflauf an sie zu überliefern«. Er war ein Feigling. Er wusste, wie beliebt Jesus war, und fürchtete die Menschenmenge. Wie jeder Heuchler dachte er nur daran, was die Leute von ihm hielten, deshalb wollte er Jesus so unauffällig wie möglich verraten. Er suchte den angenehmsten Weg in die Hölle. Und als er ihn fand, ging er ihn auch. In dem Augenblick, als Jesus das Mahl des Herrn im Obersaal einsetzte, traf Judas Vereinbarungen zu seiner Festnahme. Er wusste, dass Jesus mit seinen Jüngern regelmässig zum Beten nach Gethsemane ging. Lukas 22,39 berichtet, dass Jesus »der Gewohnheit nach« dorthin ging. In Johannes 18,2 heisst es: »Aber auch Judas, der ihn überlieferte, wusste den Ort, weil Jesus dort oft mit seinen Jüngern zusammen war.« Judas wusste also ganz genau, wo er Jesu Feinde hinführen musste, damit sie ihn festnehmen konnten. Das nächste Mal begegnet uns Judas in Johannes 18, wo sein Komplott den Höhepunkt erreicht. Der Abend war zu Ende. Jesus war vom Obersaal zu seinem gewohnten Gebetsort, dem kleinen Olivenhain Gethsemane, gegangen. Dort schüttete er vor seinem Vater sein Herz in einer solchen Seelenangst aus, dass sein Schweiss wie grosse Blutstropfen herabfiel. Acht Jünger hatte er in einiger Entfernung zurückgelassen und war mit Petrus, Jakobus und Johannes tiefer in den Garten hineingegangen (Mk 14,32-33). »Als nun Judas die Schar und von den Hohenpriestern und Pharisäern Diener genommen hatte, kommt er dahin mit Leuchten und Fackeln und Waffen« (Joh 18,3). Die »Schar« war wahrscheinlich eine römische Kohorte von der Festung Antonia, die an den Tempel angrenzte. Eine vollständige Kohorte bestand aus etwa sechshundert Soldaten. Es wird hier zwar keine genaue Zahl genannt, aber alle Evangelien sprechen von einer grossen Menge (Mt 26,47; Mk 14,43; Lk 22,47) – wahrscheinlich waren es Hunderte von Soldaten. Offenbar rechneten sie mit dem Schlimmsten und waren bis an die Zähne bewaffnet. »Jesus nun, der alles wusste, was über ihn kommen würde, ging hinaus und sprach zu ihnen: Wen sucht ihr?« (Joh 18,4). Er wartete nicht, bis Judas auf ihn zeigte. Er versuchte nicht, sich zu verstecken, sondern »ging hinaus«, um sich ihnen zu zeigen, und sagte: »Ich bin es« (V. 5). Judas hatte zuvor ein Zeichen vereinbart, um Jesus zu identifizieren: »Wen ich küssen werde, der ist es, den ergreift!« (Mt 26,48). Was für eine teuflische Art, um auf Jesus aufmerksam zu machen! Aber er war ein so elender und listiger Heuchler, dass er scheinbar kein Gewissen besass. Ausserdem wäre das Zeichen überflüssig gewesen, da Jesus freiwillig hervortrat und sich selbst zu erkennen gab, aber Judas – zynisch und schlecht, wie er war – küsste ihn trotzdem (Mk 14,45). »Jesus aber sprach zu ihm: Judas, überlieferst du den Sohn des Menschen mit einem Kuss?« (Lk 22,48). Küssen ist ein Kennzeichen von Ehrerbietung, Liebe, Zuneigung, Zärtlichkeit, Respekt und Vertrautheit. Judas’ geheuchelte Gefühle für Christus machten seine Tat nur noch schlimmer. Es war eine hinterhältige Heuchelei, weil er versuchte, den Anschein von Achtung bis zum bitteren Ende zu wahren. Selbst in dieser Situation blieb Jesus liebenswürdig und sprach ihn mit »Freund« an (Mt 26,50). Jesus war immer freundlich zu Judas, aber Judas war kein echter Freund Jesu (vgl. Joh 15,14). Er war ein Verräter und Betrüger. Seine Küsse standen für die schlimmste Art von Verrat. In dieser Nacht entweihte Judas das Passah, das Lamm Gottes, den Sohn Gottes und dessen Gebetsort. Er verriet seinen Herrn mit einem Kuss. Sein Tod Judas verkaufte Jesus für einen Hungerlohn. Doch sobald der Handel abgeschlossen war, regte sich sein Gewissen. Er fand sich in seiner selbst gemachten Hölle wieder; seine Tat nagte an seinem Gewissen. Das Geld, das ihm zunächst so wichtig war, zählte jetzt nicht mehr. Matthäus 27,3-4 berichtet: »Als nun Judas, der ihn überliefert hatte, sah, dass er verurteilt wurde, reute es ihn, und er brachte die dreissig Silberlinge den Hohenpriestern und den Ältesten zurück und sagte: Ich habe gesündigt, denn ich habe schuldloses Blut überliefert.« Seine Reue war nicht dasselbe wie Busse, wie die nachfolgenden Ereignisse deutlich zeigen. Es tat ihm nicht Leid, weil er gegen Christus gesündigt hatte, sondern weil seine Sünde ihn nicht wie erhofft zufrieden stellte. Die Hohenpriester und Ältesten waren jedoch abweisend. »Sie aber sagten: Was geht das uns an? Sieh du zu!« (V. 4). Sie hatten bekommen, was sie wollten. Judas konnte mit dem Geld nun tun, was er wollte. Nichts würde seinen Verrat ungeschehen machen. Matthäus sagt: »Und er warf die Silberlinge in den Tempel und machte sich davon und ging hin und erhängte sich« (V. 5). Judas sass bereits in seiner selbst gemachten Hölle. Sein Gewissen würde niemals zum Schweigen gebracht werden, und das ist das Wesen der Hölle. Sünde führt zu Schuld, und Judas’ Sünde brachte ihm unerträgliche Qualen ein. Ich sage es noch einmal: Seine Reue war keine echte Busse. Wäre das der Fall gewesen, hätte er sich nicht selbst getötet. Ihm tat es nur Leid, weil er seine Gefühle nicht ertragen konnte. Leider suchte er nicht Gottes Vergebung. Er bat weder um Gnade noch um Befreiung vom Teufel. Stattdessen versuchte er sein Gewissen durch Selbstmord zum Schweigen zu bringen. Es war die schmerzliche Verzweiflung eines Verrückten, der die Beherrschung verloren hatte. Matthäus beendet seinen Bericht über Judas wie folgt: »Die Hohenpriester aber nahmen die Silberlinge und sprachen: Es ist nicht erlaubt, sie in den Tempelschatz zu werfen, weil es Blutgeld ist. Sie hielten aber Rat und kauften dafür den Acker des Töpfers zum Begräbnis für die Fremden. Deswegen ist jener Acker Blutacker genannt worden bis auf den heutigen Tag« (Mt 27,6-8). In Apostelgeschichte 1,18-19 wird dem tragischen Leben von Judas eine abschliessende Bemerkung hinzugefügt, die Details über seinen Tod und den Kauf des Blutackers enthält: »Dieser nun hat zwar von dem Lohn der Ungerechtigkeit einen Acker erworben, ist aber kopfüber gestürzt, mitten entzweigeborsten, und alle seine Eingeweide sind ausgeschüttet worden. Und es ist allen Bewohnern von Jerusalem bekannt geworden, so dass jener Acker in ihrer eigenen Mundart Hakeldamach, das ist Blutacker, genannt worden ist.« Einige haben einen Widerspruch zwischen Matthäus und der Apostelgeschichte vermutet, aber alle scheinbaren Diskrepanzen sind leicht auszuräumen. Matthäus gibt zu verstehen, dass die Priester den Acker mit Judas’ Blutgeld kauften. Somit erwarb Judas den Acker mit dem »Lohn der Ungerechtigkeit.« Die Hohenpriester kauften ihn für Judas, aber es war sein Geld. Der Acker gehörte ihm. Seinen Erben – wenn er denn welche hatte – hätte dieser Acker zugestanden. Daher ist es richtig zu sagen, er habe »von dem Lohn der Ungerechtigkeit einen Acker erworben«, obwohl das Feld von einem Stellvertreter für ihn gekauft wurde. Warum gerade dieser Acker? Weil es der Ort war, an dem Judas sich erhängte. Anscheinend nahm er einen Baum an einem felsigen Überhang. (In den Feldern von Jerusalem gibt es einen Ort, der genau zu dieser Beschreibung passt; der Überlieferung nach soll sich Judas dort erhängt haben.) Entweder riss der Strick, oder der Ast brach ab, so dass Judas kopfüber auf die Felsen fiel. Die biblische Beschreibung ist anschaulich und abstossend zugleich: Er ist »mitten entzweigeborsten, und alle seine Eingeweide sind ausgeschüttet worden« (Apg 1,18). Judas war eine so tragische Gestalt, dass er sich nicht einmal wie beabsichtigt töten konnte. Dennoch starb er. Das ist praktisch das letzte Wort der Schrift über Judas: »Seine Eingeweide sind ausgeschüttet worden.« Sein Leben und sein Tod waren groteske Tragödien. Er war ein Kind der Hölle und ein Sohn des Verderbens, und er ging an seinen eigenen Ort, wo er hingehörte. Jesus sagte diese erschütternden Worte über ihn: »Es wäre jenem Menschen gut, wenn er nicht geboren wäre« (Mk 14,21). Die Moral seines Lebens Aus seinem Leben können wir einige wichtige Lehren ziehen.Erstens:

Judas ist ein tragisches Beispiel für ungenutzte Gelegenheiten. Zwei Jahre lang hörte er tagaus, tagein die Lehren Jesu. Er hätte Jesus jede beliebige Frage stellen können. Er hätte den Herrn um jede benötigte Hilfe bitten und sie empfangen können. Die erdrückende Last seiner Sünde hätte er gegen ein leichtes Joch eintauschen können. Christus hatte jedem diese Möglichkeit angeboten (Mt 11,28-30). Doch am Ende wurde Judas verdammt, weil er dem, was er hörte, keine Beachtung schenkte.

Zweitens: Judas ist der Inbegriff der verschwendeten Privilegien. Von allen Nachfolgern des Herrn gehörte er zu dem Kreis, der die grössten Vorrechte erhielt, doch er verschwendete diese Privilegien; er löste es für eine Hand voll Münzen ein, die er letzten Endes nicht mehr haben wollte. Ein wirklich dummes Geschäft!

Drittens: Judas ist das klassische Beispiel dafür, dass Geldliebe eine Wurzel alles Bösen ist (1Tim 6,10).

Viertens: Judas veranschaulicht, wie abstossend und gefährlich geistlicher Verrat ist. Wäre Judas doch nur der einzige Heuchler gewesen, der je den Herrn verriet! Aber das war er nicht. Es gibt diese Personen in jedem Alter – Menschen, die echte Jünger und treue Nachfolger Christi zu sein scheinen, die sich dann aber aus finsteren und egoistischen Gründen gegen ihn wenden. Judas’ Leben ist für jeden von uns eine Erinnerung daran, dass wir uns selbst prüfen sollen (vgl. 2Kor 13,5).

Fünftens: Judas ist ein Beweis für die geduldige Güte und Barmherzigkeit Christi. »Der HERR ist gut gegen alle, sein Erbarmen ist über alle seine Werke« (Ps 145,9). Selbst einem so ruchlosen Menschen wie Judas erwies er seine Güte. Jesus nannte ihn sogar noch »Freund«, als Judas gerade dabei war, ihn zu verraten. Jesus erwies Judas nie etwas anderes als Freundlichkeit und Barmherzigkeit, obwohl der Herr die ganze Zeit wusste, was Judas plante. Von Christus wurde Judas in keiner Weise zu seiner Tat getrieben.

Sechstens: Judas beweist, dass Gottes souveräner Plan durch nichts vereitelt werden kann. Auf den ersten Blick schien sein Verrat an Christus wie Satans grösster Triumph. Doch in Wirklichkeit brachte er die endgültige Niederlage für den Teufel und all seine Werke mit sich (Hebr 2,14; 1Jo 3,8).

Siebtens: Judas ist ein anschaulicher Beweis für die Falschheit und Fruchtlosigkeit der Heuchelei. Er ist wie die Rebe in Johannes 15,6, die nicht am wahren Weinstock bleibt. Diese Rebe bringt keine Frucht, wird abgeschnitten und zur Vernichtung ins Feuer geworfen. Judas war ein so raffinierter Heuchler, dass die übrigen Elf ihn nie im Verdacht hatten. Doch Jesus konnte er nicht täuschen. Ebenso wenig wie jeder andere Heuchler. Und Christus ist der gerechte Richter über jeden einzelnen Menschen (Joh 5,26-27). Heuchler wie Judas werden keinem anderen die Schuld für die ewige Verdammnis ihrer Seelen geben können – nur sich selbst.

Als Judas Christus verriet, verkaufte er in Wirklichkeit seine eigene Seele an den Teufel. Die Tragödie seines Lebens hatte er selbst geschaffen. Er ignorierte das Licht, das er jahrelang an seiner Seite hatte, und verbannte sich selbst in die ewige Finsternis.

Nach Jesu Auferstehung wurde Judas’ Amt von Matthias übernommen (Apg 1,16-26). Der Apostel Petrus sagte: »Denn es steht im Buch der Psalmen geschrieben: ›Seine Wohnung werde öde, und es sei niemand, der darin wohne‹! und: ›Sein Aufseheramt empfange ein anderer!‹« (V. 20). Ausgewählt wurde Matthias, weil dieser mit Jesus und den anderen Jüngern zusammen war, »angefangen von der Taufe des Johannes bis zu dem Tag, an dem er von uns hinweg aufgenommen wurde«
(V. 22).

Ansonsten ist nichts über Matthias bekannt. Sein Name erscheint in der Schrift nur an zwei Stellen – beide Male bei seiner Erwählung in Apostelgeschichte 1. Somit wurde am Ende ein weiterer ganz gewöhnlicher Mann ausgewählt, um den Platz eines aussergewöhnlich schlechten Menschen einzunehmen. Und so wurde Matthias zusammen mit den anderen ein kraftvoller Zeuge der Auferstehung Jesu (V. 22) – ein weiterer ganz normaler, gewöhnlicher Mann, den der Herr zu einer aussergewöhnlichen Berufung erhob.

1 Charles H. Spurgeon, »A Defense of Calvinism« in Susannah Spurgeon und Joseph Harrald, Hrsg., The Autobiography ofCharles H. Spurgeon, 4 Bände (Philadelphia: American BaptistPublication Society, 1895), 1:177.

Datum: 02.07.2007
Autor: John MacArthur
Quelle: 12 ganz normale Männer

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