Nathanael

Nathanael antwortete und sprach: »Rabbi, du bist der Sohn Gottes, du bist der König Israels.« Johannes 1,49Philippus’ engster Gefährte, Nathanael, wird in allen vier Apostellisten als Bartholomäus aufgeführt. Im Johannes-Evangelium wird er dagegen stets Nathanael genannt. Bartholomäus ist ein hebräischer Nachname und bedeutet »Sohn des Talmai.« Nathanael bedeutet »Gott hat gegeben.« Somit ist er also Nathanael, Sohn des Talmai, oder Nathanael Bar-Talmai. Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte geben uns keine Details über Nathanaels Hintergrund, Charakter oder Persönlichkeit. Dort wird er jeweils nur einmal erwähnt – in der Auflistung der zwölf Jünger. Im Johannes-Evangelium taucht Nathanael nur an zwei Stellen auf: in Johannes 1 bei seiner Berufung und in Johannes 21,2, wo er zu denen gehörte, die nach Jesu Auferstehung und vor seiner Himmelfahrt nach Galiläa zurückkehrten und mit Petrus fischen gingen.Laut Johannes 21,2 kam Nathanael aus dem kleinen Ort Kana in Galiläa, wo Jesus sein erstes Wunder tat und Wasser in Wein verwandelte (Joh 2,11). Kana lag in unmittelbarer Nähe zu Jesu eigener Heimatstadt Nazareth. Wie wir im vorangegangenen Kapitel gesehen haben, brachte Philippus ihn zu Jesus, direkt nachdem er von Jesus gefunden und berufen wurde. Anscheinend waren Philippus und Nathanael gute Freunde, denn in den Apostellisten der drei synoptischen Evangelien sind ihre beiden Namen immer miteinander verbunden. Auch in den frühesten Aufzeichnungen der Kirchengeschichte und in vielen der frühen Legenden über die Apostel werden ihre Namen oftmals zusammen genannt. In den Jahren, die sie mit Christus verbrachten, waren sie anscheinend Freunde gewesen. Ähnlich wie Petrus und Andreas (die häufig als Brüder zusammen genannt werden) sowie Jakobus und Johannes (die ebenfalls Brüder waren) finden wir diese beiden immer Seite an Seite – nicht als Brüder, sondern als enge Gefährten. Nahezu alles, was wir über Nathanael Bar-Talmai wissen, stammt aus Johannes’ Bericht über seine Berufung zum Jünger. Diese Begebenheit ereignete sich in der Wüste, kurz nach Jesu Taufe, als Johannes der Täufer auf Christus als das Lamm Gottes hinwies, das die Sünde der Welt wegnimmt (Joh 1,29). Andreas, Johannes und Petrus (und möglicherweise auch Jakobus) waren die ersten Berufenen (V. 35-42). Am nächsten Tag, als er nach Galiläa gehen wollte, fand Jesus Philippus und berief auch ihn (V. 43). Laut Vers 45 »findet Philippus den Nathanael.« Offenbar waren sie Freunde. Ob es eine Geschäftsbeziehung, ein familiäres Verhältnis oder lediglich eine soziale Beziehung war, berichtet die Schrift nicht. Aber offenbar war Philippus eng mit Nathanael verbunden, und er wusste: Nathanael würde an der Neuigkeit interessiert sein, dass der lang erwartete Messias gefunden wurde. Er konnte es gar nicht erwarten, ihm dies mitzuteilen. Deshalb suchte er ihn sofort auf und brachte ihn zu Jesus. Anscheinend fand Philippus ihn in der Nähe desselben Ortes, wo auch er vom Herrn gefunden wurde. Die kurze Schilderung, wie Nathanael zu Jesus kam, bietet uns einen tiefen Einblick in seinen Charakter. Wir erfahren aus ihr, was für eine Art Mensch er war. Seine Liebe zur Schrift Eine bemerkenswerte Tatsache über Nathanael wird deutlich, als Philippus ihm sagte, dass er den Messias gefunden hatte: »Philippus findet den Nathanael und spricht zu ihm: Wir haben den gefunden, von dem Mose in dem Gesetz geschrieben und die Propheten, Jesus, den Sohn des Josef, von Nazareth« (Joh 1,45). Die Wahrheit der Schrift schien Nathanael offensichtlich etwas zu bedeuten. Da Philippus ihn kannte, war ihm klar, dass Nathanael von der Neuigkeit fasziniert sein würde, dass Jesus die Person war, die von Mose und den Propheten in der Schrift vorausgesagt wurde. Als Philippus ihm vom Messias erzählte, bezog er sich auf die alttestamentliche Prophetie. Dass Philippus Jesus auf diese Weise vorstellte, deutet an, dass Nathanael die Prophetien des Alten Testaments kannte. Das lässt möglicherweise darauf schließen, dass Nathanael und Philippus das Alte Testament gemeinsam studierten. Aller Wahrscheinlichkeit nach waren sie in die Wüste gegangen, um gemeinsam Johannes dem Täufer zuzuhören. Sie hatten ein gemeinsames Interesse an der Erfüllung alttestamentlicher Prophetien. Offenbar wusste Philippus, dass die Neuigkeit über Jesus Nathanael begeistern würde. Beachten Sie, dass er nicht zu ihm sagte: »Ich habe einen Mann gefunden, der einen wunderbaren Plan für dein Leben hat.« Oder: »Ich habe einen Mann gefunden, der deine Ehe in Ordnung bringt, deine persönlichen Probleme löst und deinem Leben Sinn gibt.« Er versuchte Nathanael nicht zu überzeugen, indem er ihm ausmalte, wie Jesus sein Leben verbessern würde. Philippus sprach von Jesus als der Erfüllung der alttestamenlichen Prophetien, weil er wusste, dass dies Nathanaels Interesse wecken würde. Als eifriger Schüler des Alten Testaments war Nathanael bereits auf der Suche nach Gottes Wahrheit. Übrigens scheint es, als wären alle Apostel, außer Judas Iskariot, bereits auf der Suche nach göttlicher Wahrheit gewesen, bevor Jesus ihnen begegnete. Gottes Geist wirkte bereits an ihnen und zog sie. Ihre Herzen waren offen für die Wahrheit und hungerten nach ihr. Sie besaßen eine aufrichtige Liebe zu Gott und ein tiefes Verlangen danach, die Wahrheit kennen zu lernen und den Messias aufzunehmen. In dieser Hinsicht unterschieden sie sich sehr vom religiösen Establishment, das von Heuchelei und falscher Frömmigkeit beherrscht wurde. Die Jünger waren echt.Sehr wahrscheinlich hatten Philippus und Nathanael viele Stunden gemeinsam über der Schrift gesessen und das Gesetz und die Propheten erforscht, um die Wahrheit über das Kommen des Messias herauszufinden. Dass sie sich in der Schrift so gut auskannten, erklärt zweifelsfrei, weshalb sie so schnell auf Jesus reagierten. In Nathanaels Fall fiel dies besonders auf. Eindeutig und sofort erkannte er Jesus, da er ein klares Verständnis von den Aussagen der Schrift über ihn besaß. Nathanael wusste, was die Verheißungen besagten, so dass er ihre Erfüllung erkannte, als er sie sah. Er kannte den, von dem Mose und die Propheten geschrieben hatten, und nach einem kurzen Gespräch mit ihm wusste er, dass Jesus diese Person war. Nathanael schätzte ihn schnell ein und nahm ihn auf der Stelle an. Das war möglich, weil Nathanael ein eifriger Schüler der Schrift war. Philippus erzählte ihm: »[Es ist] Jesus, der Sohn des Josef, von Nazareth.« »Jesus« war ein geläufiger Name – J’shua in seiner aramäischen Form. Der gleiche Name wird im Alten Testament mit »Josua« wiedergegeben. Bezeichnenderweise bedeutet er: »Jahwe ist Rettung« (»denn er wird sein Volk erretten von seinen Sünden« – Mt 1,21). Philippus gebrauchte den Ausdruck »Sohn des Josef« als eine Art Nachnamen – »Jesus Bar-Josef«, so wie sein Freund »Nathanael Bar-Talmai« hieß. Auf diese Weise wurden Menschen für gewöhnlich identifiziert. (Es war das hebräische Pendant zu heutigen Nachnamen wie Josephson oder Johnson. So wurde durch alle Zeitalter hindurch die Identität eines Menschen bestimmt – durch Nachnamen, die sich von ihren Vätern ableiteten.)In Philippus’ Stimme klang bestimmt eine gewisse Überraschung mit, so als würde er sagen: »Du wirst es nicht glauben, aber Jesus, der Sohn Josefs, der Sohn des Zimmermanns aus Nazareth, ist der Messias!« Seine Voreingenommenheit Vers 46 gibt uns einen weiteren Einblick in Nathanaels Charakter. Obwohl er ein Schüler der Schrift war, der die Wahrheit Gottes suchte, ein starkes geistliches Interesse besaß und dem Wort Gottes treu und aufrichtig hingegeben war, so war er doch nur ein Mensch mit gewissen Vorurteilen. Seine Reaktion war: »Kann aus Nazareth etwas Gutes kommen?« Er hätte sagen können: »Im Alten Testament sagt der Prophet Micha, dass der Messias aus Bethlehem kommt (Mi 5,1), nicht aus Nazareth.« Oder: »Aber Philippus, der Messias wird mit Jerusalem assoziiert, denn dort wird er herrschen.« Doch wie tief seine Vorurteile saßen, machen seine Worte deutlich: »Kann aus Nazareth etwas Gutes kommen?«Das war kein rationaler oder biblischer Einwand, vielmehr basierte er auf bloßen Gefühlen und eifernder Borniertheit. Er zeigt seine Verachtung für ganz Nazareth. Offen gesagt: Auch Kana war keine besondere Stadt! Bis heute ist sie nur durchschnittlich. Wäre da nicht das Heiligtum, das an der Stelle errichtet wurde, von der man annimmt, dass Jesus dort Wasser in Wein verwandelte, so gäbe es dort überhaupt keinen An-ziehungspunkt. Kana war abgelegen, während sich Nazareth wenigstens an einer Kreuzung befand. Die Menschen passierten Nazareth, wenn sie vom Mittelmeer nach Galiläa reisten. Niemand reiste durch Kana; es lag abseits von allem. Dass es in Nazareth keinen Anziehungspunkt gab, erklärt Nathanaels Vorurteil nicht vollständig. Wahrscheinlich spiegelt seine Bemerkung eine Art städtische Rivalität zwischen Nazareth und Kana wider. Nazareth war eine raue und unkultivierte Stadt. (Ganz ähnlich wie heute.) Es ist kein besonders malerischer Ort. Obwohl sie an den Hängen der galiläischen Hügel gelegen ist, ist es keine Stadt, an die man sich gern erinnert – zur Zeit Jesu war es sogar noch schlimmer. Die Judäer schauten auf alle Galiläer herab, und diese wiederum auf die Bewohner von Nazareth. Obgleich er aus einer noch niedrigeren Ortschaft kam, gab Na-thanael einfach die allgemeine Verachtung der Galiläer für Nazareth wieder. Es war die gleiche Art von regionalem Stolz, der jemanden, sagen wir einmal, aus Cleveland, dazu veranlasst, verächtlich über Buffalo zu sprechen.Hier sehen wir wieder, dass es Gott gefällt, das Gewöhnliche, Schwache und Niedrige dieser Welt zu gebrauchen, um das Weise und Mächtige zuschanden zu machen (vgl. 1Kor 1,27). Selbst aus den verachtetsten Orten ruft Gott Menschen. Auch einen fehlerhaften Menschen, der von seinen Vorurteilen geblendet ist, kann er nehmen und zu einem Menschen machen, durch den er die Welt verändert. Letzten Endes ist das nur durch Gottes Macht zu erklären, so dass alle Ehre ihm zufällt. Für Nathanael war es undenkbar, dass der Messias aus einer so schäbigen Stadt wie Nazareth kommen würde. Das war ein unkultivierter Ort, voll von bösen und sündigen Menschen. Nathanael erwartete einfach nicht, dass aus dort etwas Gutes stammen könnte. Und er war sich auch nicht der augenfälligen Tatsache bewusst, dass er aus einer ähnlich verachtenswerten Ortschaft kam.Voreingenommenheit ist etwas Schlimmes. Verallgemeinerungen, die auf Überlegenheitsgefühlen und nicht auf Fakten basieren, können geistlich lähmend wirken. Vorurteile sperren viele Menschen von der Wahrheit aus. Im Grunde genommen lehnten die meisten Israeliten ihren Messias aufgrund von Vorurteilen ab. Auch sie glaubten nicht, dass ihr Messias aus Nazareth kommen würde. Dass der Messias und all seine Apostel aus Galiläa kommen würden, war für sie unvorstellbar. Sie verspotteten die Apostel als ungebildete Galiläer. Die Pharisäer machten sich über Nikodemus lustig, als sie sagten: »Bist du etwa auch aus Galiläa? Forsche und sieh, dass aus Galiläa kein Prophet aufsteht!« (Joh 7,52). Sie mochten es nicht, wenn Jesus gegen das religiöse Establishment in Jerusalem sprach. Egal, ob es nun die religiösen Führer oder die normalen Menschen in den Synagogen waren: Es waren zu einem großen Teil ihre Vorurteile, welche sie dazu veranlassten, ihn abzulehnen. Selbst in Jesu eigener Heimatstadt. Sie verspotteten Jesus als Sohn Josefs (Lk 4,22). Auch in seinem eigenen Land war er ohne Ehre, weil er nichts anderes war als der Sohn eines Zimmermanns (V. 24). Und die ganze Synagoge in Nazareth – seine Synagoge, in der er aufgewachsen war – war so voller Vorurteile, dass sie ihn über eine Klippe stürzen und töten wollten, nachdem er zu ihnen gepredigt hatte (V. 28-29). Voreingenommenheit verzerrte ihr Bild vom Messias. Das Volk Israel hatte Vorurteile gegen ihn als Galiläer und Nazarener, als ungebildete Person außerhalb des religiösen Establishments. Insbesondere gegenüber seiner Botschaft waren sie voreingenommen, was sie jedoch vom Evangelium ausschloss. Sie wollten ihn nicht hören, weil sie kulturelle und religiöse Eiferer waren.John Bunyan verstand die Gefahr von Vorurteilen. In seiner berühmten Allegorie Der Heilige Krieg beschreibt er, wie Immanuels Truppen zu der Stadt Menschenseele kommen, um ihr das Evangelium zu bringen. Sie richteten ihren Angriff auf das Ohr-Tor von Menschenseele, da der Glaube durch das Hören kommt. Aber Diabolus, der Feind Immanuels und seiner Streitkräfte, wollte Menschenseele für die Hölle gefangen halten. Deshalb entschloss sich Diabolus, dem Angriff durch eine spezielle Wache am Ohr-Tor entgegenzutreten. Die Wache, die er auswählte, war der »alte Herr Vorurteil, ein zorniger und krankhafter Bursche.« Laut Bunyan machten sie Herrn Vorurteil »zum Hauptmann der Wache an diesem Tor, und unter-stellten ihm sechzig Mann, die ‚die tauben Männer’ genannt wurden. Sie waren für diesen Dienst insofern geeignet, als dass sie sich weder um die Worte der Hauptmänner noch um die der Soldaten scherten.« Das beschreibt sehr anschaulich, in welcher Weise viele Menschen für die Wahrheit des Evangeliums unzugänglich gemacht werden. Durch ihre eigenen Vorurteile werden sie für die Wahrheit taub.Vielerlei Vorurteile verschließen die Ohren der Menschen für das Evangelium – Rassenvorurteile, soziale Vorurteile, religiöse und intellektuelle Vorurteile. Vorurteile ließen die Mehrheit des jüdischen Volkes für den Messias taub bleiben. Satan stationierte Herrn Vorurteil und seine Schar tauber Männer an Israels Ohr-Tor. Deshalb »nahmen die Seinen ihn nicht an«, als »er in das Seine kam« (Joh 1,11).John Bunyan gebrauchte das Bild der Taubheit, der Apostel Paulus das der Blindheit: »Wenn aber unser Evangelium doch verdeckt ist, so ist es nur bei denen verdeckt, die verloren gehen, den Ungläubigen, bei denen der Gott dieser Welt den Sinn verblendet hat, damit sie den Lichtglanz des Evangeliums von der Herrlichkeit des Christus, der Gottes Bild ist, nicht sehen« (2Kor 4,3-4). Durch Vorurteile für die Wahrheit taub und blind gemacht, verstanden sie die Botschaft nicht. So ist es auch heute noch. Nathanael lebte in einer Gesellschaft, die von Natur aus mit Vorurteilen behaftet war. Alle sündigen Menschen sind das. Wir stellen voreingenommene Behauptungen auf und ziehen voreilige Schlüsse über andere Menschen, Bevölkerungsschichten und sogar ganze Gesellschaften. Wie wir alle besaß auch Nathanael diese sündige Neigung. Und seine Voreingenommenheit veranlasste ihn zunächst zur Skepsis, als Philippus ihm erzählte, der Messias sei Nazarener.Zum Glück waren seine Vorurteile nicht stark genug, um ihn von Christus fern zu halten. »Philippus spricht zu ihm: Komm und sieh!« (Joh 1,46). Das ist die richtige Art, mit Vorurteilen umzugehen: Mit den Fakten konfrontieren! Vorurteile basieren auf Gefühlen. Sie sind subjektiv und spiegeln nicht zwangsläufig die Realität einer Sache wider. Daher ist das Gegenmittel gegen Vorurteile ein ehrlicher Blick auf die objektive Realität – »komm und sieh.«Und Nathanael kam. Seine Vorurteile waren glücklicherweise nicht so stark wie sein suchendes Herz. Sein aufrichtiges Herz Den wichtigsten Aspekt von Nathanaels Charakter bringt Jesus selbst zum Ausdruck. Er kannte Nathanael bereits. Er »hatte nicht nötig, dass jemand Zeugnis gebe von dem Menschen; denn er selbst wusste, was in dem Menschen war« (Joh 2,25). Als er Nathanael sah, lobte er seinen Charakter: »Jesus sah den Nathanael zu sich kommen und spricht von ihm: Siehe, wahrhaftig ein Israelit, in dem kein Trug ist!« (Joh 1,47).Können Sie sich etwas Schöneres vorstellen als diese Worte aus dem Mund Jesu? Es wäre wunderbar, dies am Lebensende hören zu dürfen, zusammen mit den Worten: »Recht so, du guter und treuer Knecht! Über weniges warst du treu, über vieles werde ich dich setzen; geh hinein in die Freude deines Herrn« (vgl. Mt 25,21.23). Auf Beerdigungen hören wir oft Lobesreden, in denen die Tugenden des Verstorbenen gerühmt werden. Doch was würden Sie davon halten, wenn Jesus so etwas schon von Anfang an über Sie sagen würde? Das spricht Bände über Nathanaels Charakter. Er hatte von Anbeginn ein reines Herz. Natürlich war auch er ein sündiger Mensch. Seine Gedanken waren zum Teil von Vorurteilen geprägt. Aber in seinem Herzen fand sich kein Trug. Er war kein Heuchler. Seine Liebe zu Gott und sein Wunsch, den Messias zu sehen, waren echt. Er hatte ein aufrichtiges Herz ohne Arglist.Jesus sagt über ihn: »Wahrhaftig ein Israelit.« Das griechische Wort hier, alethos, bedeutet »wahrhaft, wirklich, echt.« Er war ein echter Israelit. Das ist kein Verweis auf seine physische Abstammung von Abraham. Jesus sprach nicht über Genetik. Er verband Nathanaels Status als wahrhaftiger Israelit mit der Tatsache, dass in ihm kein Trug war. Seine Truglosigkeit machte ihn zu einem echten Israeliten. Zur Zeit Jesu waren die meisten Israeliten nicht echt, sondern heuchlerisch. Sie waren Schwindler. Sie pflegten einen schönen, aber unechten geistlichen Schein in ihrem Leben; daher waren sie in Wirklichkeit keine geistlichen Kinder Abrahams. Aber Nathanael war echt.In Römer 9,6-7 sagt der Apostel Paulus: »Denn nicht alle, die aus Israel sind, die sind Israel, auch nicht, weil sie Abrahams Nachkommen sind, sind alle Kinder.« Und in Römer 2,28-29: »Denn nicht der ist ein Jude, der es äußerlich ist, noch ist die äußerliche Beschneidung im Fleisch Beschneidung; sondern der ist ein Jude, der es innerlich ist, und Beschneidung ist die des Herzens, im Geist, nicht im Buchstaben. Sein Lob kommt nicht von Menschen, sondern von Gott.« Hier war ein echter Jude, ein wahrer geistlicher Nachkomme Abrahams. Jemand, der den wahren und lebendigen Gott anbetete – ohne Trug und Heuchelei. Später würde Jesus in Johannes 8,31 sagen: »Wenn ihr in meinem Wort bleibt, so seid ihr wahrhaft meine Jünger.« Dabei verwendete er dasselbe griechische Wort: alethos.Nathanael war ein wahrer Jünger von Anfang an. In ihm war keine Heuchelei. Das ist sehr ungewöhnlich, besonders im Israel des ersten Jahrhunderts. Jesus beschuldigte das ganze religiöse Establishment seiner Zeit der Heuchelei. Matthäus 23,13-33 enthält eine erstaunliche Schmährede gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer, in der Jesus sie in jeglicher Hinsicht als Heuchler bezeichnete. Auch die Synagogen waren voller Heuchler. Von den höchsten Führern bis zu den Menschen auf der Straße war Heuchelei eine Seuche in diesem Volk. Aber hier war ein wahrhafter Jude ohne Heuchelei. Ein Mann, dessen Herz beschnitten und von Verunreinigung gesäubert war. Sein Glaube und seine Hingabe an Gott waren echt. Er war ohne Trug – nicht wie die Schriftgelehrten und Pharisäer. Er war ein wahrhaft gerechter Mann: Mit Sünde behaftet wie wir alle, aber vor Gott durch einen aufrichtigen und lebendigen Glauben gerechtfertigt. Sein Glaubenseifer Weil sein Herz aufrichtig und sein Glaube echt war, überwand Nathanael seine Vorurteile. Seine Reaktion auf Jesus und die darauf folgende Schilderung zeigen seinen wahren Charakter. Zunächst war er einfach erstaunt, dass Jesus alles über ihn zu wissen schien. »Nathanael spricht zu ihm: Woher kennst du mich?« (Joh 1,48).Wir müssen annehmen, dass Nathanael noch immer unschlüssig war, ob dieser Mann wirklich der Messias sein konnte. Nicht, dass er Philippus’ Urteil in Frage stellte; Philippus war sein Freund, von dem er wusste, dass er keine vorschnellen Urteile fällte. Mit Sicherheit stellte er weder die Schrift in Frage noch neigte er im Allgemeinen zu Skepsis. Doch dieser Mann aus Nazareth schien nicht in sein Bild vom Messias zu passen. Jesus war der Sohn eines Zimmermanns, ein namenloser, unauffälliger Mann aus einer Stadt, die mit keiner Prophetie in Verbindung stand. (Nazareth kommt im Alten Testament nicht einmal vor.) Und nun hatte Jesus zu ihm gesprochen, als wüsste er alles über ihn und könnte sogar in sein Herz sehen. Nathanael versuchte, das alles irgendwie zusammenzubringen.»Woher kennst du mich?« Er könnte gemeint haben: »Willst du mir etwa schmeicheln? Versuchst du, mich durch deine Komplimente zu einem deiner Nachfolger zu machen? Wie kannst du nur wissen, was in meinem Herzen ist?«»Jesus antwortete und sprach zu ihm: Ehe Philippus dich rief, als du unter dem Feigenbaum warst, sah ich dich« (V. 48). Das ließ die Dinge in einem ganz anderen Licht erscheinen. Das war keine Schmeichelei, sondern Allwissenheit! Jesus war nicht körperlich anwesend, um Nathanael unter dem Feigenbaum sehen zu können. Nathanael wusste das. Plötzlich erkannte er, dass er sich in der Gegenwart einer Person befand, die mit einem allsehenden Auge in das Innerste seines Herzens blicken konnte. Welche Bedeutung hatte der Feigenbaum? Höchstwahrscheinlich war dort die Stelle, an der Nathanael über die Schrift nachdachte. Damals waren die meisten Häuser klein, manchmal bestanden sie sogar nur aus einem einzigen Raum. Häufig wurde im Haus gekocht, so dass selbst im Sommer ein Feuer brannte. Innen war es stickig und voller Rauch. Um die Häuser herum pflanzte man Bäume, die die Häuser kühl hielten und Schatten spendeten. Feigenbäume waren besonders geeignet, da sie herrliche Früchte trugen und viel Schatten gaben. Sie werden nur etwa viereinhalb Meter groß. Ihr Stamm ist recht kurz und knorrig, und ihre Äste hängen tief herab und breiten sich siebeneinhalb bis neun Meter weit aus. Ein Feigenbaum in Hausnähe sorgte für einen großen schattigen und geschützten Ort draußen. Wollte man dem Lärm und der stickigen Atmosphäre des Hauses entkommen, konnte man nach draußen gehen und unter seinem Schatten ausruhen. Es war eine Art privater Platz an der frischen Luft, wo man in Ruhe nachdenken und für sich allein sein konnte. Nathanael ging dort zweifellos hin, um die Schrift zu studieren und zu beten. Im Grunde sagte Jesus: »Ich kenne deinen Herzenszustand, denn ich sah dich unter dem Feigenbaum. Ich weiß, was du dort gemacht hast. Es ist deine private Kammer, wo du zum Studieren und Beten hingehst. Dort denkst du über die Schrift nach. Und ich habe dich an diesem geheimen Ort gesehen. Ich weiß, was du gemacht hast.« Jesus sah nicht nur den Ort, an dem er sich aufhielt, er sah auch sein Herz. Er kannte Nathanaels aufrichtigen Charakter, weil er direkt in ihn hineinblicken konnte, während er unter dem Feigenbaum saß. Das reichte Nathanael. Er »antwortete und sprach: Rabbi, du bist der Sohn Gottes, du bist der König Israels« (V. 49). Das ganze Johannes-Evangelium wurde geschrieben, um zu beweisen, dass Jesus der Sohn Gottes ist (Joh 20,31). Die ersten Worte von Johannes erklären auf überzeugende Weise Jesu Gottheit (»Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.«) Alles in seinem Evangelium ist auf den Beweis hin ausgerichtet, dass Jesus der Sohn Gottes ist und dasselbe Wesen wie Gott besitzt: Johannes hebt seine Wunder hervor, sein sündloses Wesen, die göttliche Weisheit seiner Lehren und seine Wesensmerkmale, die dieselben sind wie die des Vaters. Er beschreibt, wie Jesus auf vielerlei Weise seine Gottheit bewies. Und das erste Kapitel enthält Nathanaels Zeugnis, dass dieser Jesus der allwissende Sohn Gottes ist. Er besitzt dasselbe Wesen wie Gott.Genau diese Wahrheit hatte Nathanaels Freund Philippus zwei Jahre später immer noch nicht verstanden, als er Jesus im Obersaal bat: »Zeige uns den Vater« (Joh 14,8-9). Was Philippus bis zum Schluss nicht erfasst hatte, begriff sein Freund Nathanael direkt zu Beginn. Nathanael kannte das Alte Testament. Er war mit den Propheten vertraut. Er wusste, wen er suchte. Jesu Allwissenheit, sein geistliches Verständnis und seine Fähigkeit, in Nathanaels Herz zu schauen, überzeugten ihn davon, dass Jesus wirklich der Messias war – obwohl er aus Nazareth kam.Dass Nathanael mit den messianischen Verheißungen des Alten Testaments vertraut war, zeigt sich an seiner Reaktion (»Du bist der Sohn Gottes, du bist der König Israels«). Psalm 2 lässt deutlich erkennen, dass der Messias der Sohn Gottes sein würde. Viele alttestamentliche Prophetien sprachen von ihm als dem »König Israels«, einschließlich Zefanja 3,15 (»Der HERR hat deine Strafgerichte weggenommen, deinen Feind weggefegt. Der König Israels, der HERR, ist in deiner Mitte, du wirst kein Unglück mehr sehen«) und Sacharja 9,9 (»Juble laut, Tochter Zion, jauchze, Tochter Jerusalem! Siehe, dein König kommt zu dir: Gerecht und siegreich ist er, demütig und auf einem Esel reitend, und zwar auf einem Fohlen, einem Jungen der Eselin«). Derselbe Vers, in dem seine Geburt in Bethlehem vorausgesagt wird, spricht von ihm als dem »Herrscher über Israel«, dessen »Ursprünge sind von der Urzeit, von den Tagen der Ewigkeit her« (Mi 5,1). Hier wird er nicht nur als Herrscher beschrieben, sondern auch als der Ewige. Als Nathanael den Beweis seiner Allwissenheit sah, erkannte er Jesus augenblicklich als den verheißenen Messias, als Gottes Sohn und als König Israels an. Nathanael war wie Simeon, der das Kind Jesus in die Arme nahm und sagte: »Nun, Herr, entlässt du deinen Knecht nach deinem Wort in Frieden; denn meine Augen haben dein Heil gesehen, das du bereitet hast im Angesicht aller Nationen: ein Licht zur Offenbarung für die Nationen und zur Herrlichkeit deines Volkes Israel« (Lk 2,29-32). Auch er erkannte Jesus sofort als denjenigen, auf den er gewartet hatte. Nathanael – ein Mensch, der die Schrift sorgfältig studierte – war ein wahrer Jude, der auf den Messias wartete und wusste, dass dieser der Sohn Gottes und König Israels sein würde. Er gehörte nicht zu denen, die mit einer halben Hingabe zufrieden waren. Gleich am ersten Tag kam er zu vollem Verständnis und ganzer Hingabe.»Jesus antwortete und sprach zu ihm: Weil ich dir sagte: Ich sah dich unter dem Feigenbaum, glaubst du? Du wirst Größeres als dies sehen. Und er spricht zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel geöffnet sehen und die Engel Gottes auf- und niedersteigen auf den Sohn des Menschen« (Joh 1,50-51). Er bestätigte Nathanaels Glauben und gab ihm die Verheißung, dass er noch größere Dinge sehen würde als eine einfache Demonstration seiner Allwissenheit. Wenn eine Aussage über den Feigenbaum ausreichte, um Nathanael zu überzeugen, dass er der Sohn Gottes und König Israels war, dann hatte er noch nicht viel gesehen. Von nun an würde alles, was ihm begegnete, seinen Glauben bereichern und vergrößern. Die meisten Jünger hatten schon zu kämpfen, um überhaupt dort hinzukommen, wo Nathanael nach seiner ersten Begegnung mit Christus bereits war. Aber für Nathanael war das Wirken Jesu nur eine Bestätigung dessen, was er sowieso schon für wahr hielt. Es ist wunderbar, jemanden zu sehen, der Jesus gleich von Anbeginn vertraute. Für ihn waren die drei Jahre mit Jesus ein sich entfaltendes Panorama einer übernatürlichen Realität!Im Alten Testament hatte Jakob einen Traum, in dem eine Leiter auf die Erde gestellt war, »und ihre Spitze berührte den Himmel; und siehe, Engel Gottes stiegen darauf auf und nieder« (1Mo 28,12). Im Gespräch mit Nathanael nahm Jesus Bezug auf diese alttestamentliche Begebenheit. Er war die Leiter. Und Nathanael würde die Engel Gottes auf ihn auf- und niedersteigen sehen. Mit anderen Worten: Jesus ist die Leiter, die Himmel und Erde miteinander verbindet. Das ist alles, was wir aus der Schrift über Nathanael wissen. Frühe Kirchenberichte deuten darauf hin, dass er in Persien und Indien diente und das Evangelium bis nach Armenien trug. Über seinen Tod gibt es keine verlässlichen Aufzeichnungen. Eine Überlieferung schildert, wie er in einen Sack gesteckt und ins Meer geworfen wurde. Eine andere berichtet, er wäre gekreuzigt worden. Alle Berichte stimmen darin überein, dass er wie die anderen Jünger – außer Johannes – den Märtyrertod starb.Allerdings wissen wir, dass Nathanael vom Anfang bis zum Ende treu blieb. Alles, was er mit Jesus in dessen irdischem Dienst und nach der Geburt der neutestamentlichen Gemeinde erlebte, machte seinen Glauben letzten Endes nur stärker. Wie alle anderen Jünger ist auch Nathanael ein Beweis dafür, dass Gott die gewöhnlichsten Menschen aus den unbedeutendsten Orten nehmen und sie zu seiner Verherrlichung gebrauchen kann.Fortsetzung: Matthäus und Thomas Teil 1 - Der Zöllner und Zwilling

Datum: 02.07.2007
Autor: John MacArthur
Quelle: 12 ganz normale Männer

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