Gewöhnliche Männer aussergewöhnliche Berufung Teil 2

Der Lehrer Erinnern wir uns daran, dass Jesus die Zwölf zu einem Zeitpunkt auswählte, als er bereits mit seinem bevorstehenden Tod konfrontiert wurde. Ihm schlug die wachsende Feindseligkeit der religiösen Führer entgegen. Er wusste, dass sein irdisches Wirken bald seinen Höhepunkt in Tod, Auferstehung und Himmelfahrt finden würde. Von da an veränderte sich der ganze Charakter seines Dienstes. Seine oberste Priorität war es nun, die Männer auszubilden, die nach seinem Abschied die wichtigsten Verkündiger des Evangeliums sein würden. Wie erwählte er sie? Zuerst ging Jesus in die Abgeschiedenheit, um mit seinem Vater zu sprechen: »Er ging auf den Berg hinaus, um zu beten; und er verbrachte die Nacht im Gebet zu Gott« (Lk 6,12). Schon in den ersten fünf Kapiteln seines Evangeliums macht Lukas deutlich, dass das Gebet untrennbar zum Leben Jesu gehörte. In Lukas 5,16 heisst es: »Er aber zog sich zurück und war in einsamen Gegenden und betete.« Es war seine Angewohnheit, sich in die Einsamkeit zurückzuziehen, um mit seinem Vater zu reden. In Galiläas Städten und Dörfern war er beständig dem Druck der Massen ausgesetzt. Wüsten- und Bergregionen boten ihm die nötige Abgeschiedenheit zum Beten. Uns ist nicht bekannt, auf welchen Berg er ging. Wäre es von Bedeutung, so würde die Schrift es uns mitteilen. Im nördlichen Galiläa gibt es viele Hügel und Berge. Dieser lag wahrscheinlich nahe Kapernaum, das eine Art Zentrum seines Dienstes darstellte. Er ging auf den Berg und verbrachte die ganze Nacht im Gebet. In Erwartung entscheidender Ereignisse in seinem Dienst finden wir ihn oft betend. (So wie in der Nacht seines Verrats, als er in einem Garten betete, wo er von Jerusalems hektischer Atmosphäre abgeschieden war. Judas wusste, dass er Jesus an diesem Ort finden würde, denn nach Lukas 22,39 war es Jesu Gewohnheit, zum Beten dorthin zu gehen.) Hier sehen wir Jesus als wahren Menschen. Er befand sich in einer sehr brisanten Situation. Die schwelende Feindschaft gegen ihn drohte bereits zu seinem Tod zu führen. Ihm war nur noch wenig Zeit verblieben, die Männer auszubilden, die der Welt nach seinem Weggang das Evangelium bringen würden. Und diese beunruhigenden Dinge führten ihn auf den Berg, wo er in völliger Abgeschiedenheit zu seinem Vater beten konnte. Er hatte sich selbst zu nichts gemacht und die Gestalt eines Dieners angenommen, indem er als Mensch auf die Erde kam. Jetzt nahte die Zeit, wo er sich bis zum Tod – ja, zum Tod am Kreuz – erniedrigen sollte. Deshalb wendet er sich an Gott, wie ein Mensch es täte, um ihn im Gebet zu suchen und mit dem Vater über die Männer zu sprechen, die er für dieses so wichtige Amt auswählen würde. Beachten Sie hier, dass er die ganze Nacht im Gebet verbrachte. Sollte er vor der Dunkelheit auf den Berg gegangen sein, so war es wahrscheinlich gegen 19 oder 20 Uhr. Wenn er vor der Dämmerung herabstieg, müsste es etwa 6 Uhr morgens gewesen sein. Er betete also mindestens zehn Stunden. Im Deutschen brauchen wir für die Aussage, dass er die ganze Nacht dort verbrachte, mehrere Worte. Im Griechischen steht nur ein einziges Wort: dianuktereuo. Das ist ein aussagekräftiges Wort. Es bedeutet, sich die ganze Nacht einer Aufgabe zu widmen. Allerdings kann es nicht verwendet werden, um zu beschreiben, dass jemand die ganze Nacht durchschläft. Ebenso wenig wird es gebraucht, um auszudrücken, dass es die ganze Nacht über dunkel war. Vielmehr trägt es die Bedeutung »die Nacht durcharbeiten«, »einer Aufgabe nachgehen«. Es legt nahe, dass er die ganze Nacht bis zum Morgen wach blieb und ständig im Gebet war – unter der enormen Last seiner auf ihm liegenden Pflicht. Die griechische Sprache macht noch eine weitere Besonderheit deutlich, die im Deutschen nicht deutlich wird. In der deutschen Übersetzung heisst es: »Er verbrachte die Nacht im Gebet zu Gott«. Im griechischen Text steht eigentlich, dass er die ganze Nacht im Gebet Gottes verbrachte. Immer wenn er betete, war es buchstäblich das Gebet Gottes. Er befand sich in einem Gespräch mit der dreieinen Gottheit. Sein Gebet war das Gebet Gottes. Die Personen der göttlichen Dreieinheit sprachen miteinander. Alle seine Gebete standen in vollkommener Übereinstimmung mit Gottes Gedanken und Willen – weil er selbst Gott ist. Darin erkennen wir das unglaubliche Geheimnis, dass er gleichzeitig Mensch und Gott war. Als Mensch musste Jesus die ganze Nacht hindurch beten, und als Gott betete er das Gebet Gottes. Verstehen Sie das nicht falsch: Seine bevorstehende Entscheidung war von solch grosser Bedeutung, dass er sich zehn bis zwölf Stunden im Gebet vorbereiten musste. Wofür betete er? Für Klarheit, wen er erwählen sollte? Ich glaube nicht. Als allwissender Gott in Menschengestalt war ihm der göttliche Wille nicht unbekannt. Zweifelsfrei betete er für die Männer, die er bald ernennen würde; er sprach mit dem Vater über die uneingeschränkte Weisheit seiner Entscheidung und hielt Fürsprache für die ausgesuchten Männer. Als seine Gebetsnacht vorbei war, ging er zu seinen Jüngern und versammelte sie. (»Und als es Tag wurde, rief er seine Jünger herbei« – Lukas 6,13.) Er rief nicht nur die Zwölf herbei. Das Wort Jünger wird in diesem Zusammenhang in einem breiteren Sinne gebraucht. Es bedeutet »Schüler, Lernende«. Es muss mehrere Jünger gegeben haben, aus denen er zwölf zum Apostelamt erwählte. Für einen bedeutenden Rabbi oder Philosophen war es damals sowohl in der griechischen als auch in der jüdischen Gesellschaft normal, Schüler um sich zu scharen. Der Ort, an dem sie lehrten, war nicht unbedingt ein Klassenzimmer oder Hörsaal. Viele waren umherreisende Lehrer, deren Jünger ihnen einfach durch den Lebensalltag folgten. Auch Jesus tat dies mit seinen Nachfolgern. Er war ein umherziehender Lehrer. Er ging einfach von Ort zu Ort, und während er lehrte, zog er Menschen an, die ihm folgten und seinen Lehren zuhörten. Lukas 6,1 gibt uns eine Vorstellung davon: »Und es geschah am Sabbat, dass er durch die Saaten ging und seine Jünger die Ähren abpflückten und assen, indem sie sie mit den Händen zerrieben.« Sie folgten ihm in seiner Lehrtätigkeit von Ort zu Ort, während sie zwischendurch Ähren zum Essen pflückten. Uns ist nicht bekannt, wie viele Jünger Jesus hatte. Einmal sandte er siebzig Nachfolger jeweils zu zweit aus, um in den Ortschaften zu evangelisieren, die er besuchen wollte (Lk 10,1). Doch die Gesamtzahl seiner Nachfolger war unzweifelhaft grösser. Aus der Schrift geht hervor, dass sie ihm scharenweise folgten. Warum auch nicht? In Klarheit und Autorität unterschieden sich seine Lehren vollkommen von denen anderer: Er konnte von Krankheiten heilen, Dämonen austreiben und Tote auferwecken. Er war voller Gnade und Wahrheit. Es überrascht nicht, dass er so viele Jünger anzog. Dass es aber Menschen gab, die ihn ablehnten, überrascht uns dagegen sehr wohl. Ihre Ablehnung war jedoch auf seine Botschaft zurückzuführen – sie war mehr, als sie ertragen konnten. In Johannes 6 sehen wir etwas von dieser Dynamik. Zu Beginn des Kapitels gab er mehr als fünftausend Menschen zu essen (Johannes 6,10 berichtet, dass allein die Zahl der Männer fünftausend betrug. Zählt man noch Frauen und Kinder hinzu, könnte die Gesamtmenge leicht auf das Doppelte oder mehr kommen.) Es war ein fantastischer Tag. Viele dieser Menschen folgten ihm bereits als Jünger; viele andere waren zweifellos darauf vorbereitet. Johannes schreibt: »Als nun die Leute das Zeichen sahen, das Jesus tat, sprachen sie: Dieser ist wahrhaftig der Prophet, der in die Welt kommen soll« (V. 14). Wer war dieser Mann, der aus nichts Essen machen konnte? Sie hatten in ihrem Leben gelernt, wie man Land bestellt, Ernte einbringt, Vieh züchtet und Essen zubereitet. Jesus konnte Nahrung einfach schaffen! Das würde ihr Leben verändern. Wahrscheinlich dachten sie an Freizeit und kostenlose, fertige Mahlzeiten. Das war die Art Messias, die sie sich erhofft hatten! Johannes schreibt: »Sie wollten kommen und ihn ergreifen, um ihn zum König zu machen« (V. 15). Er entkam ihnen durch eine Reihe von übernatürlichen Ereignissen, die darin gipfelten, dass er auf dem Wasser ging. Am nächsten Tag fanden sie ihn in Kapernaum auf der anderen Seite des Sees. Die Mengen suchten nach ihm offenbar in der Hoffnung, er würde ihnen noch mehr zu essen geben. Er rügte sie, weil sie ihm aus falschen Motiven gefolgt waren: »Ihr sucht mich, nicht weil ihr Zeichen gesehen, sondern weil ihr von den Broten gegessen habt und gesättigt worden seid« (V. 26). Als sie ihn noch einmal um Brot baten, sagte er ihnen: »Ich bin das lebendige Brot, das aus dem Himmel herabgekommen ist; wenn jemand von diesem Brot isst, wird er leben in Ewigkeit. Das Brot aber, das ich geben werde, ist mein Fleisch für das Leben der Welt« (V. 51). Das war für sie so schwer zu verstehen, dass sie ihn zu einer Erklärung drängten: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht das Fleisch des Sohnes des Menschen esst und sein Blut trinkt, so habt ihr kein Leben in euch selbst. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, hat ewiges Leben, und ich werde ihn auferwecken am letzten Tag; denn mein Fleisch ist wahre Speise, und mein Blut ist wahrer Trank. Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, bleibt in mir und ich in ihm. Wie der lebendige Vater mich gesandt hat, und ich lebe um des Vaters willen, so auch, wer mich isst, der wird auch leben um meinetwillen. Dies ist das Brot, das aus dem Himmel herabgekommen ist. Nicht wie die Väter assen und starben; wer dieses Brot isst, wird leben in Ewigkeit. Dies sprach er, als er in der Synagoge zu Kapernaum lehrte. (V. 53-59) Sogar viele seiner Jünger nahmen daran einen solch grossen Anstoss, dass sie ihre Nachfolge noch einmal überdachten. Johannes schreibt: »Von da an gingen viele seiner Jünger zurück und gingen nicht mehr mit ihm« (V. 66). So kamen und gingen die Jünger. Erst fühlten sich die Leute angezogen und dann desillusioniert. Während dieser besonderen Begebenheit in Johannes 6 fragte Jesus sogar die Zwölf: »Wollt ihr etwa auch weggehen?« (V. 67). Petrus antwortete für die Gruppe: »Herr, zu wem sollten wir gehen? Du hast Worte ewigen Lebens; und wir haben geglaubt und erkannt, dass du der Heilige Gottes bist« (V. 68-69). Die übrig Gebliebenen wurden von Gott in seiner Souveränität zu seinem Sohn gezogen (V. 44). Auch Jesus hatte sie in besonderer Weise zu sich gezogen. Er sagte ihnen: »Ihr habt nicht mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und euch dazu bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibe« (Joh 15,16). In seiner Souveränität hatte er sie auserwählt; er wirkte in ihnen und durch sie, um sicherzustellen, dass sie in ihm blieben und ewige Frucht brächten (ausser Judas Iskariot, von dem Christus wusste, dass er ihn überlieferte). Hier finden wir das Prinzip der auserwählenden Gnade Gottes. Die Souveränität seiner Erwählung erkennen wir auf aussergewöhnliche Weise in der Berufung der Zwölf. Aus der grösseren Jüngerschar von möglicherweise Hunderten griff er zwölf Männer heraus und berief sie ins Apostelamt. Für diese Aufgabe suchte Christus nicht nach Bewerbern oder Freiwilligen, vielmehr erwählte er sie souverän und ernannte sie in Anwesenheit der grösseren Schar. Für die Zwölf war das ein aussergewöhnlicher Augenblick. Bis zu diesem Zeitpunkt waren Petrus, Jakobus, Johannes, Andreas, Nathanael, Matthäus und die anderen nur ein Teil der grossen Gruppe. Wie alle anderen waren sie Lernende. Sie waren seinen Lehren gefolgt, hatten ihnen zugehört, sie befolgt und in sich aufgenommen. Doch bisher war ihnen noch keine offizielle Führungsrolle zugedacht. Ihnen wurde noch keine Position zuerkannt, die sie von den anderen unterschieden hätte. Sie waren nur Gesichter in der grossen Menge, bis Christus sie auserwählte und zu den zwölf Aposteln machte. Warum zwölf? Und nicht acht? Oder vierundzwanzig? Die Zahl zwölf hatte eine symbolische Bedeutung. Israel bestand aus zwölf Stämmen. Aber Israel war abtrünnig. Das Judentum zur Zeit Jesu verkörperte den Abfall vom alttestamentlichen Glauben. Zugunsten einer Werksgerechtigkeit hatte Israel Gottes Gnade aufgegeben. Ihre Religion war äusserst gesetzlich, durchdrungen von Heuchelei, selbstgerechten Werken, künstlichen Vorschriften und bedeutungslosen Zeremonien. Sie war voller Irrlehren und basierte vielmehr auf der physischen Abstammung von Abraham als auf seinem Glauben. In Wirklichkeit ernannte Christus eine neue Führerschaft für den Neuen Bund, als er die zwölf Apostel aussuchte. Sie stellten die neuen Führer des wahren Israels dar, das aus Menschen bestand, die dem Evangelium glaubten und Abrahams Glauben nacheiferten (vgl. Röm 4,16). Anders ausgedrückt: Die zwölf Apostel standen symbolisch für ein Gericht gegen die zwölf Stämme des alttestamentlichen Israels. Jesus selbst machte diesen Zusammenhang deutlich. In Lukas 22,29-30 sagte er zu den Aposteln: »Ich verordne euch, wie mein Vater mir verordnet hat, ein Reich, dass ihr esst und trinkt an meinem Tisch in meinem Reich und auf Thronen sitzt, die zwölf Stämme Israels zu richten.« Die Bedeutung der Zahl zwölf hätte fast jedem Israeliten sofort klar werden müssen. Jesu messianische Ansprüche wurden von all seinen Zuhörern verstanden. Beständig sprach er von seinem kommenden Reich. Inzwischen wuchs in ganz Israel die Erwartung, dass der Messias bald erscheinen und sein Königreich aufrichten würde. Einige meinten, Johannes der Täufer sei dieser Messias, aber Johannes verwies sie auf Christus (vgl. Joh 1,19-27). Sie wussten nur zu gut, dass Christus alle Verheissungen in Bezug auf den Messias erfüllte (Joh 10,41-42). Er war nicht der politische Führer, den sie erwarteten, deshalb glaubten sie nur langsam (Joh 10,24-25). Trotzdem verstanden sie seine Ansprüche und waren voller Erwartungen. Als er nun zwölf Männer öffentlich zu seinen Aposteln bestimmte, sprach die ausgewählte Zahl für sich. Die Apostel repräsentierten ein ganz neues Israel – unter dem Neuen Bund. Zudem war ihre Ernennung, die das religiöse Establishment des offiziellen Judentums unberücksichtigt liess, eine Gerichtsbotschaft für Israel. Diese zwölf normalen Männer waren nicht zu einer ganz gewöhnlichen Position ausersehen. Sie standen für die Führer der zwölf Stämme und waren der lebende Beweis dafür, dass das Reich, das Jesus gerade aufrichtete, sich von der Vorstellung der meisten Israeliten unterschied. Lukas 6,13 sagt: »Er erwählte aus ihnen zwölf, die er auch Apostel nannte.« Allein schon der Titel war von Bedeutung. Das griechische Verb apostello bedeutet »aussenden«; das Substantiv, apostolos, bedeutet »jemand, der ausgesandt ist«. Das deutsche Wort Apostel ist eher eine Transliteration des Griechischen als eine Übersetzung. Die Apostel waren »Gesandte«. Und doch waren sie mehr als Boten. Das griechische Wort für »Bote« lautet angelos; das englische Wort angel und letztlich auch das deutsche Wort Engel stammen davon ab. Ein apostolos hatte eine grössere Bedeutung als ein Kurier oder Herold; apostolos beinhaltete den Gedanken an einen Botschafter, Delegierten oder offiziellen Repräsentanten. Für dieses Wort gibt es eine genaue Entsprechung im Aramäischen: schaliah. (Zur Zeit Jesu war die in Israel übliche Sprache, die auch Jesus benutzte, nicht Hebräisch, sondern Aramäisch.) Im ersten Jahrhundert war der Schaliah ein offizieller Repräsentant des Sanhedrin, des obersten Gerichts von Israel. Ein Schaliah übte die Vollmacht des Sanhedrin aus und sprach mit dessen Autorität. Ihm gebührte die gleiche Achtung wie dem Rat selbst. Allerdings überbrachte er nie seine eigene Botschaft, sondern die, die ihm der Sanhedrin auftrug. Das Amt eines Schaliah war bekannt. Er wurde ausgesandt, um rechtliche oder religiöse Streitigkeiten zu schlichten; hierbei handelte er mit der vollen Autorität des ganzen Rates. Einige führende Rabbis hatten ihren Schaliah (»Gesandten«), der ihre Botschaft lehrte und sie vollmächtig repräsentierte. Selbst die jüdische Mischna (eine Sammlung mündlicher Überlieferungen, die ursprünglich als Gesetzeskommentar gedacht war) erkannte die Rolle des Schaliah an. Sie besagt: »Der Gesandte eines Menschen nimmt die Stelle des Menschen selbst ein.« Somit war dem jüdischen Volk das Wesen dieses Amtes wohl bekannt. Die Ernennung von Aposteln, wie hier durch Jesus, war also für die Menschen dieses Kulturkreises etwas sehr Vertrautes. Sie waren Jesu Delegierte, seine treuen Schaliahs. Sie sprachen mit seiner Vollmacht, überbrachten seine Botschaft und übten seine Autorität aus. Die Aufgabe Die vertraute Rolle des Schaliah in dieser Kultur bestimmte praktisch die Aufgabe der Apostel. Offensichtlich würde Christus diesen zwölf Männern seine Autorität übertragen und sie mit seiner Botschaft aussenden. Sie sollten ihn als seine offiziellen Delegierten repräsentieren. Nahezu jeder in dieser Gesellschaft verstand sofort das Wesen ihres Amtes. Diese zwölf Männer, von Jesus als Apostel beauftragt, würden mit der gleichen Vollmacht sprechen und handeln wie der, der sie aussandte. »Apostel« war somit ein respektierter und privilegierter Titel. Markus 3,14 beschreibt dasselbe Ereignis: »Er berief zwölf, damit sie bei ihm seien und damit er sie aussende, zu predigen.« Beachten Sie hier die zwei Schritte des Prozesses. Bevor sie zum Predigen ausgesandt werden konnten, mussten sie zuerst mit Jesus zusammen gewesen sein. Das war von absolut entscheidender Bedeutung. Erst in Lukas 9,1 ruft Jesus die Zwölf zusammen und gibt ihnen »Kraft und Vollmacht über alle Dämonen und zur Heilung von Krankheiten«. Zu diesem Zeitpunkt überträgt er ihnen seine Wunder wirkende Kraft. In Lukas 6 erwählt und beruft er sie und nimmt sie unter seine direkte und persönliche Obhut (»damit sie bei ihm seien«). Mehrere Monate später gibt er ihnen in Lukas 9 die Macht, Wunder zu wirken und Dämonen auszutreiben. Dann erst heisst es: »Und er sandte sie, das Reich Gottes zu predigen.« Bis zu diesem Zeitpunkt sprach Jesus meistens zu grossen Menschenmengen. Mit der Berufung der Zwölf in Lukas 6 konzentrierte sich seine Lehrtätigkeit nun in erster Linie auf diesen vertrauten Kreis. Nach wie vor zog er die Mengen an und belehrte sie, aber sein Schwerpunkt lag nunmehr auf den Jüngern und ihrer Ausbildung. Beachten Sie hier, wie sich ihr Ausbildungsprogramm auf natürliche Weise entwickelte. Zuerst folgten sie Jesus, hörten seine Predigten zu den Volksmengen und seine Anweisungen an die grössere Gruppe von Jüngern. Anscheinend taten sie dies zunächst nur sporadisch und nutzten die Möglichkeiten, die ihnen ihr Lebensalltag liess. Als Nächstes (wie Matthäus 4 berichtet) rief er sie auf, alles zu verlassen und nur ihm nachzufolgen. Nun wählt er zwölf Männer aus der Gruppe seiner ständigen Nachfolger aus (wie Lukas 6 und Matthäus 10 berichten), ernennt sie zu Aposteln und beginnt, seine Energie auf ihre persönliche Ausbildung zu konzentrieren. Später stattet er sie mit Vollmacht und Wunder wirkender Kraft aus. Schliesslich sendet er sie aus. Zunächst entsendet er sie zu missionarischen Kurzzeiteinsätzen, von denen sie bald zu ihm zurückkommen. Doch nach seiner Rückkehr zum Vater würden sie immer selbstständig hinausgehen. Vom Beginn ihrer Ausbildung bis zum Eintritt in den vollzeitigen Dienst ist eine beständige Weiterentwicklung erkennbar. Jetzt sind sie nicht länger nur Jünger, sondern auch Apostel – Schaliahs. Sie bekleiden ein wichtiges Amt. In seinem Evangelium benutzt Lukas das Wort »Apostel« sechsmal und in der Apostelgeschichte etwa dreissigmal. In den Evangelien besteht ihre Aufgabe hauptsächlich darin, Israel die Botschaft des Reiches Gottes zu bringen. In der Apostelgeschichte sind sie mit der Gründung der Gemeinde beschäftigt. Obwohl sie gewöhnliche Männer waren, so war ihre Berufung doch aussergewöhnlich. Mit anderen Worten: Die Aufgabe, zu der sie berufen wurden – und nicht irgendetwas in ihnen selbst – war das, was sie so wichtig machte. Bedenken Sie, wie einzigartig ihre Rolle sein würde. Sie sollten nicht nur die Gemeinde gründen und eine zentrale Führungsrolle in den ersten Wachstumsjahren spielen, sondern auch die Werkzeuge werden, durch die ein Grossteil des Neuen Testaments entstehen würde. Gott gab ihnen seine Wahrheit durch göttliche Offenbarung. In Epheser 3,5 macht Paulus sehr deutlich, dass das in früheren Zeitaltern verborgene Geheimnis des Christus »jetzt seinen heiligen Aposteln und Propheten durch den Geist geoffenbart worden ist«. Sie predigten keine menschliche Botschaft, und sie erhielten die Wahrheit durch direkte Offenbarung. Daher waren sie die Überbringer der wahren Lehre der Gemeinde. Apostelgeschichte 2,42 beschreibt das Leben der frühen Gemeinde so: »Sie verharrten aber in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft, im Brechen des Brotes und in den Gebeten.« Vor Abschluss des Neuen Testaments war die Belehrung der Apostel die einzige Quelle der Wahrheit über Christus und die Lehre der Gemeinde. Und ihre Unterweisung wurde mit der gleichen Autorität aufgenommen wie das geschriebene Wort. Tatsächlich ist das Neue Testament nichts anderes als die vom Geist inspirierte, schriftliche Aufzeichnung der apostolischen Belehrung. Die Apostel wurden also gegeben, um die Gemeinde aufzubauen. Nach Epheser 4,11-12 gab Christus die Apostel »zur Ausrüstung der Heiligen für das Werk des Dienstes, für die Erbauung des Leibes Christi«. Sie waren die christlichen Lehrer und Prediger des Ursprungs. Ihre Lehren, wie das Neue Testament sie wiedergibt, sind der einzige Massstab, an dem gesunde Lehre gemessen werden kann – auch heute noch. Zudem waren sie Vorbilder im Bereich der Tugend. Epheser 3,5 nennt sie die »heiligen Apostel«. Sie setzten Massstäbe für Gottesfurcht und echte Geistlichkeit und wurden zu den ersten nachahmenswerten Vorbildern für Christen. Sie waren charakterstarke und unbescholtene Männer, die die Anforderungen für alle späteren Gemeindeleiter vorgaben. Zur Bestätigung ihrer Botschaft wurde ihnen eine einzigartige Wunder wirkende Kraft verliehen. Nach Hebräer 2,3-4 ist die Errettung, »nachdem sie ihren Anfang damit genommen hatte, dass sie durch den Herrn verkündet wurde, uns gegenüber von denen bestätigt worden, die es gehört haben, wobei Gott zugleich Zeugnis gab durch Zeichen und Wunder und mancherlei Machttaten und Austeilungen des Heiligen Geistes«. Anders ausgedrückt: Gott bestätigte sein Wort durch das Wunderwirken der Apostel. Das Neue Testament lässt erkennen, dass nur die Apostel und die Personen, die eng mit ihnen verbunden waren, Wunder wirkende Macht besassen. Deshalb bezeichnet 2. Korinther 12,12 solche Wunder als »die Zeichen des Apostels«. Daraus resultierte, dass die Jünger überaus gesegnet waren und bei den Gläubigen in hohem Ansehen standen. Ihr treues Durchhalten entsprach den Erwartungen, die Jesus an sie hatte. Und seine Verheissung in Bezug auf sie erfüllte sich durch Wachstum und Ausbreitung der Gemeinde. Vielleicht erinnern Sie sich: In Lukas 18,28 sagte Petrus zu Jesus: »Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt.« Anscheinend waren die Jünger darüber besorgt, wie die Dinge liefen und was aus ihnen werden würde. Petrus’ Worte waren eigentlich eine Bitte. So, als ob er im Namen der anderen gesagt hätte: »Was wird aus uns?« Jesus antwortete ihm: »Wahrlich, ich sage euch: Es ist niemand, der Haus oder Frau oder Brüder oder Eltern oder Kinder verlassen hat um des Reiches Gottes willen, der nicht Vielfältiges empfangen wird in dieser Zeit und in dem kommenden Zeitalter ewiges Leben« (V. 29-30). Sie hatten nichts verlassen, was er ihnen nicht mehr als nur zurückgeben würde. Und Gott segnete sie auch wirklich in diesem Leben (obschon wir noch sehen werden, dass die meisten von ihnen den Märtyrertod starben). Gott segnete sie in diesem Leben durch Gründung und Wachstum der Gemeinde. Sie gewannen nicht nur Einfluss, Respekt und Ehre unter dem Volk Gottes, sondern auch unzählige geistliche Kinder und Brüder, als die Gemeinde wuchs und an Gläubigen zunahm. Und auch im zukünftigen Zeitalter werden sie grosse Ehre empfangen. Die Ausbildung Dies alles mag für sie in ferner Zukunft gelegen haben, als Jesus am Morgen seine Jünger versammelte und die Zwölf ernannte. Sie benötigten noch immer Belehrung. All ihre Fehler und menschlichen Schwächen schienen ihr Potenzial zu überschatten. Es blieb nicht mehr viel Zeit. Sie hatten bereits ihre erlernten Berufe hinter sich gelassen – ihre Netze, ihre Felder, ihre Tabellen zur Steuereintreibung. Sie hatten alles aufgegeben, was sie kannten, um sich für eine Aufgabe ausbilden zu lassen, für die sie keine natürliche Begabung besassen. Doch als sie ihre Arbeit verliessen, waren sie keineswegs beschäftigungslos. Sie wurden vollzeitige Schüler, Lernende – Jünger. Die nächsten achtzehn Monate ihres Lebens würden von einer noch intensiveren Ausbildung gekennzeichnet sein – die beste, die jemals erteilt wurde. Christi Vorbild war ihnen stets vor Augen. Sie konnten seinen Lehren zuhören, ihm Fragen stellen, ihn im Umgang mit Menschen beobachten und jederzeit seine vertraute Gemeinschaft geniessen. Er gab ihnen Gelegenheit zum Dienen, unterrichtete sie und sandte sie mit speziellen Aufträgen aus. Liebevoll und geduldig ermutigte, korrigierte und belehrte er sie. Das ist die beste Art, Menschen zu belehren. Es ist mehr als nur die Weitergabe von Informationen; das eigene Leben wird in das Leben eines anderen hineininvestiert. Allerdings war das kein einfacher Prozess. Die Zwölf konnten erstaunlich begriffsstutzig sein. Nicht ohne Grund gehörten sie nicht zur geistigen Elite. Oft sagte Jesus Sätze wie: »Seid auch ihr noch unverständig? Begreift ihr nicht …?« (Mt 15,16-17; vgl. 16,9) oder »O ihr Unverständigen und im Herzen zu träge, an alles zu glauben« (Lk 24,25). Bezeichnenderweise deckt die Schrift ihre Fehler nicht zu. Es geht nicht darum, sie als superheilige Koryphäen darzustellen oder über alles Sterbliche zu erheben. Wäre dies das Ziel, so gäbe es keinen Grund, ihre charakterlichen Mängel aufzuzeigen. Doch anstatt die Makel zu beschönigen, scheint die Schrift ihre menschlichen Schwächen besonders hervorzuheben. Das ist eine wichtige Erinnerung daran, dass unser »Glaube nicht auf Menschenweisheit, sondern auf Gottes Kraft beruhe« (1Kor 2,5). Warum war der Lernprozess für die Apostel so schwierig? Erstens fehlte es ihnen an geistlichem Verständnis. Sie hörten und begriffen nur langsam. Das Neue Testament stellt sie mehrfach als schwerfällig, begriffsstutzig und blind dar. Wie behob Jesus ihren Mangel an geistlichem Verständnis? Indem er sie einfach weiter belehrte. Selbst nach seiner Auferstehung blieb er noch vierzig Tage auf der Erde. Apostelgeschichte 1,3 berichtet, dass er in dieser Zeit »über die Dinge redete, die das Reich Gottes betreffen«. Bis zu seiner Himmelfahrt unterwies er sie fortwährend. Zweitens erschwerte die fehlende Demut der Jünger ihren Lernprozess. Sie waren mit sich selbst beschäftigt, egozentrisch und stolz und verbrachten viel Zeit mit der Streitfrage, wer von ihnen der Grösste sei (Mt 20,20-28; Mk 9,33-37; Lk 9,46). Wie überwand Jesus ihre fehlende Demut? Indem er ihnen ein Vorbild in Sachen Demut war. Er wusch ihnen die Füsse, diente ihnen und erniedrigte sich selbst – bis zum Tod am Kreuz. Drittens fehlte es ihnen nicht nur an geistlichem Verständnis und Demut, sondern auch an Glauben. Allein im Matthäus-Evangelium nennt Jesus sie viermal »Kleingläubige« (6,30; 8,26; 14,31; 16,8). In Markus 4,40 fragte er sie: »Habt ihr noch keinen Glauben?« Nach einem monatelangen Intensivtraining – das selbst nach Jesu Auferstehung aus den Toten fortgeführt wurde – schreibt Markus am Ende seines Evangeliums: Er »schalt ihren Unglauben und ihre Herzenshärtigkeit« (Mk 16,14). Welches Mittel hatte Jesus gegen ihren mangelnden Glauben zur Verfügung? Er wirkte weitere Wunder. In erster Linie waren die Wunder nicht zum Nutzen der Ungläubigen; um ihren Glauben zu stärken, wurden viele seiner Wunder bewusst »vor den Jüngern getan« (Joh 20,30). Viertens mangelte es ihnen an Hingabe. Während die Mengen ihm zujubelten und die Wunder sich mehrten, waren die Jünger begeistert. Doch als die Soldaten Jesus im Garten festnehmen wollten, verliessen sie ihn alle und flohen (Mk 14,50). Ihr Anführer verleugnete Jesus und schwor, er würde diesen Menschen nicht kennen. Wie behob Jesus ihre Neigung zur Abtrünnigkeit? Indem er für sie betete. Johannes 17 berichtet davon, wie Jesus betete, dass sie bis zum Ende treu blieben und der Vater sie in den Himmel bringen würde (V. 11-26). Fünftens hatten sie keine Kraft. Auf sich allein gestellt, waren sie schwach und hilflos, insbesondere wenn sie mit dem Feind konfrontiert wurden. Manchmal versuchten sie, Dämonen auszutreiben, konnten es aber nicht. Ihr Unglaube machte sie unfähig, die Kraft zu nutzen, die ihnen zur Verfügung stand. Was tat Jesus, um ihre Schwäche zu beheben? Zu Pfingsten sandte er den Heiligen Geist, damit dieser in ihnen wohnte und sie bevollmächtigte. Er verhiess ihnen: »Aber ihr werdet Kraft empfangen, wenn der Heilige Geist auf euch gekommen ist; und ihr werdet meine Zeugen sein, sowohl in Jerusalem als auch in ganz Judäa und Samaria und bis an das Ende der Erde« (Apg 1,8). Diese Verheissung erfüllte sich auf wunderbare Weise. Bei all ihren Schwächen fragen wir uns vielleicht, warum Jesus nicht einfach andere Männer auswählte. Warum nahm er Männer ohne Verständnis, Demut, Glauben, Hingabe und Kraft? Ganz einfach: Seine Kraft kommt in Schwachheit zur Vollendung (2Kor 12,9). Wieder sehen wir, wie er das Schwache dieser Welt auserwählt, um das Starke zuschanden zu machen. Niemand, der diese Gruppe unter die Lupe nimmt, kann jemals zu dem Schluss kommen, dass sie alles, was sie taten, durch ihre eigenen angeborenen Fähigkeiten taten. Es gibt für den Einfluss der Apostel keine menschliche Erklärung. Die Ehre gebührt allein Gott. Apostelgeschichte 4,13 beschreibt, wie das Volk in Jerusalem die Apostel wahrnahm: »Als sie aber die Freimütigkeit des Petrus und Johannes sahen und bemerkten, dass es ungelehrte und ungebildete Leute seien, verwunderten sie sich; und sie erkannten sie, dass sie mit Jesus gewesen waren.« Der griechische Text sagt, die Menschen erkannten, dass sie »agrammatos … idiotes« waren – wörtlich: »des Lesens und Schreibens unkundige Nichtswisser.« Vom weltlichen Standpunkt aus betrachtet, traf dies auch zu. Allerdings war es offensichtlich, dass sie mit Jesus zusammen gewesen waren. Dasselbe sollte man von jedem echten Jünger sagen können. Lukas 6,40 erklärt: »Ein Jünger ist nicht über dem Lehrer; jeder aber, der vollendet ist, wird sein Lehrer.«Die relativ kurze Ausbildungszeit der Apostel trug ewige Früchte. Zunächst sah es danach aus, als wäre alles umsonst. In der Nacht, als Jesus verraten wurde, zerstreuten sie sich wie Schafe, deren Hirte geschlagen wurde (Mt 26,31). Auch nach der Auferstehung schienen sie noch ängstlich, voller Reue über ihr Versagen und sich ihrer eigenen Unzulänglichkeit zu einem kraftvollen Dienst nur allzu bewusst zu sein. Doch nach Jesu Himmelfahrt kam der Heilige Geist, der ihnen Kraft gab und sie zu dem befähigte, wozu Christus sie ausgebildet hatte. Die Apostelgeschichte berichtet, wie die Ge¬meinde gegründet wurde – der Rest ist Geschichte. Durch die neutestamentlichen Schriften und ihr Zeugnis verändern diese Männer die Welt auch heute noch. Fortsetzung: Petrus Teil 1 - Der Apostel mit dem voreiligen Mundwerk

Datum: 02.07.2007
Autor: John MacArthur
Quelle: 12 ganz normale Männer

Verwandte News
Werbung
Werbung
Livenet Service