Die Qumranrollen

In den Höhlen bei Qumran, in der Nähe des Toten Meeres, wurden im Jahre 1947 viele sehr alte Bibelhandschriften gefunden.
In solchen Tongefässen wurden die Qumranrollen gefunden. Neben Buchrollen, die mit der Sekte der Essener zusammenhängen, wurden Fragmente und ganze Rollen der Bibelbücher gefunden. Diese Qumranrollen bestätigen eine phantastische Ge­nauigkeit des hebräischen Bibeltextes. Von allen Büchern aus dem Alten Testament wurden Teile gefunden, ausser von dem Buch Esther.
Ein Teil der ausgezeichnet erhalten gebliebenen Rolle des vollständigen Jesaja­buches. Die Rolle befindet sich heute im Israel Museum zu Jerusalem.

In der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts waren wir also ohne Zweifel im Besitz eines äusserst genauen Textes des Alten Testaments. Die Unterschiede zwischen dem masoretischen Text, den Targumen, dem samaritischen Pentateuch und der Septuaginta erschienen wohl auf den ersten Blick manchmal beträchtlich gross, hatten aber so gut wie nie Einfluss auf die allgemeine Bedeutung des Bibeltextes. Dennoch wünschten sich die Textforscher manchmal, dass sie in solchen Fällen sicherer entscheiden könnten, welche der verschiedenen Lesarten sie zu wählen hätten; und zwar vor allem dort, wo der masoretische Text verdächtig aussah und die Septuaginta eine weit bessere Lösung anzubieten schien. Im Jahr 1947 fand nun ein umwälzendes Ereignis statt, das ermöglichte, viele Probleme dieser

Art zu lösen, und das ausserdem eine phantastische Bestätigung der grossen Genauigkeit unseres heutigen hebräischen Bibeltextes erbrachte.

Anfang 1947 war ein junger Beduine (Muhammad adh-Dhib) in der Nähe der Höhlen bei Qumran, westlich des Toten Meeres (ca. 12 km südlich von der Stadt Jericho), auf der Suche nach einer entlaufenen Ziege. Sein Auge fiel auf eine seltsam geformte Öffnung in einem der Felshänge, und er kam auf die "glückliche Idee", einen Stein durch die Öffnung zu werfen. Zu seinem Erstaunen hörte er das Klirren von brechendem Ton. Er untersuchte die Sache und fand auf dem Boden der Höhle verschiedene grosse Krüge; später stellte sich heraus, dass sie lederne Bücherrollen von sehr hohem Alter enthielten. Obwohl die Rollen (wie später bewiesen werden konnte) beinahe mehr als 1900 Jahre alt waren, befanden sie sich in einem erstaunlich guten Zustand, weil die Krüge sorgfältig versiegelt worden waren. Fünf der Rollen aus Höhle 1 (wie sie jetzt genannt wird) wurden auf vielen Umwegen an den Erzbischof des syrisch-orthodoxen Klosters in Jerusalem verkauft und weitere drei an Prof. Sukenik von der dortigen hebräischen Universität. Anfänglich wurde dieser grosse Fund nicht publik gemacht, aber glücklicherweise erzählte der Erzbischof (der kein Hebräisch konnte) im Februar 1948 einigen Gelehrten von "seinem" Fund.

Als der israelische Krieg zu Ende war, erfuhr die Welt sehr schnell, dass es sich hier um den grossartigsten archäologischen Fund handelte, der je in Palästina gemacht worden war. Bei späteren Untersuchungen in der Umgebung wurden in zehn anderen Höhlen weitere Handschriften-Fragmente entdeckt. Es stellte sich heraus, dass alle diese Höhlen mit einer alten, nahegelegenen Festung in Verbindung standen, die etwa 100 v. Chr., vielleicht von der jüdischen Sekte der Essener, errichtet worden war. Diese hatten sich in die Festung (Chirbet Qumran genannt) zurückgezogen und verbargen ihre umfangreiche Bibliothek, wahrscheinlich aus Furcht vor den (ca. 68 n. Chr.) heranrückenden Römern, in den genannten Höhlen. Allein Höhle I beherbergte ursprünglich möglicherweise 150-200 Rollen, während in Höhle IV Fragmente von über 380 Manuskripten gefunden wurden. Später wurden auch biblische Texte aus dem 2. Jhdt. n. Chr. in den Höhlen bei Murabbaät, etwas südwestlich von Bethlehem, gefunden. Auch die Bibelrollen, die 1963/65 bei den Ausgrabungen in Massada (Felsenfestung in der Wüste Juda) entdeckt wurden, stellten sich als wichtig heraus.

Der wichtigste Fund aus Qumran ist die in Höhle I gefundene berühmte Jesaja-Rolle A, das älteste bekannte, völlig hebräische Bibelbuch aus dem zweiten Jahrhundert vor Christus; sowie ein Kommentar zu Habakuk (kl. Prophet) und eine unvollständige Jesaja-Rolle B. In Höhle IV wurde u.a. ein Fragment von Samuel gefunden, das aus dem vierten (!) Jahrhundert v. Chr. stammt und damit wahrscheinlich das älteste bekannte Stück (biblischen) Hebräischs ist. Höhle XI lieferte 1956 eine gut erhaltene Psalterrolle, eine wunderschöne Rolle mit einem Teil von 3. Mose, und ein aramäisches Targum von Hiob. Insgesamt sind die Funde so umfangreich, dass von allen Büchern des Alten Testaments (ausser vom Buch Esther) Fragmente gefunden wurden! Damit hatten die Gelehrten etwas in Händen, wovon sie nie zu träumen gewagt hätten: einen grossen Teil der hebräischen Bibel, im Durchschnitt etwa tausend Jahre älter als der masoretische Text.

Und was stellte sich heraus? Diese alten Rollen erbrachten einen erstaunlichen Beweis für die grosse Zuverlässigkeit des Masoreten-Textes. Ja, im Grunde ist es kaum zu glauben, dass ein von Hand überlieferter Text in tausend Jahren so wenig verändert wurde. Nehmen wir z.B. die Jesaja-Rolle A: Sie stimmt zu 950h mit dem Text der Masoreten überein, während die restlichen 5% fast ausschliesslich unscheinbare Schreibfehler sind oder kleine Unterschiede in der Buchstabierung aufzeigen. Da, wo die Qumran-Handschriften von dem Masoreten-Text abwichen, stellte es sich oft heraus, dass sie mit der Septuaginta oder mit dem samaritischen Pentateuch übereinstimmten: auch verschiedene, von Gelehrten vorgeschlagene Textverbesserungen wurden von den "Qumranrollen" unterstützt. Man kann sich denken, dass mit der Auffindung dieser Rollen ein ganz neuer Wissenschaftszweig entstanden ist, der einen Überfluss an Literatur hervorbrachte und noch immer für neue Überraschungen und Entdeckungen sorgt.

Ein wichtiges Gebiet, das durch die Qumranfunde stark beeinflusst wurde, dürfen wir nicht vergessen; es ist das Ressort der "Bibelkritik", das wir in Kapitel 7 und 8 noch genauer untersuchen werden. Die Jesaja-Rolle z.B. fegt ohne weiteres eine Reihe von Behauptungen, die die "Kritiker" über die Entstehung dieses Buches Jesaja geäussert haben, vom Tisch. Dies betrifft sowohl ihre Theorien über die Entstehungszeit des Buches, als auch über dessen Zusammenstellung aus verschiedenen Schriften verschiedener Autoren. Man muss nämlich in Betracht ziehen, dass die Bibelbücher, von denen Kopien in der Qumransammlung angetroffen wurden, vielleicht schon viele Jahrhunderte zuvor zum ersten Male auf Papier gebracht wurden. Normalerweise liegt eine längere Zeit zwischen der Abfassung eines Buches und seiner allgemeinen Annahme als Heilige Schrift. Dazu kommt die Überlieferung nach den umständlichen, zeitraubenden Vorschriften der Schriftgelehrten. Das gilt auch für das Buch Daniel und für bestimmte Psalmen, die nach Auffassung bestimmter früherer Kritiker erst im zweiten Jahrhundert vor Christus entstanden sein sollen. Die Jesaja-Rolle stammt aus dem zweiten Jahrhundert v. Chr., das ursprüngliche Buch kann darum einige Jahrhunderte älter sein. Damit sind eine grosse Anzahl Theorien widerlegt, die behaupten, dass bestimmte Teile aus Jesaja erst im dritten oder sogar erst im zweiten Jahrhundert v. Chr. entstanden wären; Bernhard Duhm schrieb 1892 sogar, die endgültige Version von Jesaja sei erst im letzten Jahrhundert v. Chr. zustande gekommen.

Die Jesaja-Rolle aus Qumran bedeutet ebenfalls eine Enttäuschung für liberale Kritiker, die meinten, dass Jesaja 40-66 nicht von Jesajas Hand, sondern von einem viel späteren Propheten (angedeutet als Deutero-Jesaja) oder zum Teil sogar von einem Trito-Jesaja verfasst wurde, dessen Kapitel dann später erst dem Buche Jesaja zugefügt wurden. Es stellte sich aber heraus, dass in der Jesaja-Rolle kein Absatz zwischen Kapitel 39 und 40 zu finden war, obwohl das ganz gut möglich gewesen wäre (Kap. 40 fängt sogar auf der untersten Zeile eines Abschnittes an!). Dagegen ist solch ein Absatz in der Rolle zwischen den Kapiteln 33 und 34 zu finden, also genau auf der Hälfte des Buches. Der Absatz besteht aus drei freigelassenen Zeilen, durch die das Buch in zwei gleiche Teile aufgeteilt ist. Ausserdem weisen beide Teile eine eigene Textstruktur auf: entweder schrieb ein Schreiber von zwei verschiedenen Vorlagen ab, oder zwei Schreiber mit verschiedenen Schreibgewohnheiten waren gleichzeitig, jeder mit einer Hälfte des Buches, beschäftigt (anscheinend passierte so etwas öfters). Um so auffälliger ist das vollkommene Fehlen eines solchen Absatzes zwischen Kapitel 39 und 40. Neben vielen Einwänden gegen die Deutero-Jesaja-Theorie ist es sicher von ausschlaggebender Wichtigkeit, dass es unter den Juden niemals irgend einen traditionellen Hinweis auf einen Deutero-Jesaja gegeben hat. Im Gegenteil, sogar das apokryphe Buch Jesus Sirach (ca. 200 v. Chr.) schreibt im Kapitel 48,23-28 das ganze Buch dem Propheten Jesaja zu, wobei es ausdrücklich auf die Kapitel 40,46 und 48 hinweist!

Schlussfolgerung

Unsere Ausführungen zeigen erneut die gewaltige Bedeutung der Qumranrollen: Die grösste Bedeutung haben sie für die Textkritik des Alten Testaments. Unsere heutige hebräische Bibel ist, was die ältesten Teile betrifft, ca. 3400 Jahre alt und vielleicht noch älter. Dennoch haben wir Grund genug zu glauben, dass der Text, den wir besitzen, wirklich mit dem ursprünglichen Schriftgut übereinstimmt. Wir haben gesehen, worauf dieses feste Vertrauen gegründet ist: (1) auf die wenigen Unterschiede zwischen den Masoreten-Handschriften, (2) auf die beinahe buchstäbliche Übereinstimmung des weitaus grössten Teils der Septuaginta mit dem masoretischen Text, (3) auf die Übereinstimmung (in groben Zügen) mit dem sarnaritischen Pentateuch, (4) auf Tausende von Fragmenten aus der Geniza von Kairo, (5) auf die gewissenhaften Regeln der Schriftgelehrten, die die Handschriften kopierten und schliesslich (6) auf die überwältigende Bestätigung des hebräischen Textes durch die Qumranrollen. Unsere Frage war: "Wer gab uns das Alte Testament?" Hinter allen Menschenhänden, die an diesem Buch mitgearbeitet haben, sehen wir die Hand des Gottes dieser Menschen (siehe die Kap. 5 und 6).

Bis jetzt haben wir nur über die Glaubwürdigkeit der Überlieferung des Textes selber gesprochen. Eine ganz andere Frage ist natürlich die nach der Glaubwürdigkeit des Inhalts des Textes im Licht der modernen historischen, archäologischen und naturwissenschaftlichen Entdeckungen. Wir glauben, dass das Alte Testament uns auch in diesem Punkt die gleichen wunderbaren Überraschungen zu bieten hat. Wir kommen später darauf zurück.

Datum: 17.10.2005
Autor: Willem J. Glashouwer
Quelle: Die Geschichte der Bibel

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