Sünde

Das griechische Wort hamartía bedeutet eigentlich: Verirrung, Abirrung vom Weg. Ein hebräischer Ausdruck bedeutet: Mangel oder Verfehlung. Ein anderer hebräischer Ausdruck bedeutet: Krümmung, Beugung, Verkehrung. Der deutsche Ausdruck Sünde stammt von »sondern« und bedeutet: sich als untauglich absondern.

Sünde und Sünden: die Sünde ist der gottferne Zustand; die Sünden sind die gottwidrigen Taten oder Unterlassungen

Wie das Wort Schuld, so wird auch der Ausdruck Sünde zwiefach gebraucht: in der Einzahl und in der Mehrzahl. Unter den Sünden eines Menschen sind seine einzelnen Verirrungen zu verstehen, die besonderen einzelnen Fälle, wo er das göttliche Recht krümmte, sich aus Gottes Nähe entfernte. Unter der Sünde des Menschen ist zu verstehen sein gesamter gottferner Zustand, die Verkehrtheit seiner Willensrichtung, sein Verirrtsein, seine verkrümmte Haltung, sein ganzer Bankrott an Kraft zum Guten.

Die Sünde bedeutet manchmal auch das gesamte Unheil der Menschheit (Joh. 1,29). Es ist gewiss im Leben keine scharfe Grenze zu ziehen zwischen der Sünde und den Sünden. Eins hängt mit dem andern zusammen. Aus dem Zustand der Gottentfremdung stammen die Einzelversäumnisse und gottfernen Taten, und die einzelne Verfehlung bringt den Menschen noch weiter in diesen Zustand hinein.

Man kann sagen: Durch die zweierlei Art, vom Bösen im Menschenleben zu sprechen, wird es von zwei Seiten beleuchtet.

Die Sünden sind unser persönlicher Anteil am Bösen; Sünde ist das Böse als Schicksal der gottfernen Welt

Wird von unseren Sünden gesprochen, so werden wir daran erinnert, dass wir persönlich beteiligt sind an jedem einzelnen Ausbruch des Bösen und dass wir darum die volle Verantwortung tragen für jedes Abirren vom Weg. Ist von der Sünde im Menschenleben die Rede, so wird damit ins Licht gestellt, wie jeder Mensch sich im Machtbereich des Bösen befindet, schon ehe er selbst handeln oder wählen konnte; wie der einzelne von Anfang an hineingestellt ist in einen verhängnisvollen Zusammenhang des Bösen, der weit übergreift über sein persönliches Schicksal, über seine Zeit und sein Volk.

Wo im Neuen Testament von der Vergebung der Sünden gesprochen wird, liegt der Nachdruck darauf, dass den einzelnen Menschen ihre besonderen Schulden erlassen werden, dass sie, jeder persönlich, befreit werden von der Macht des Bösen.

Wo von der göttlichen Überwindung der Sünde die Rede ist (»Wo aber die Sünde mächtig geworden ist, da ist doch die Gnade noch viel mächtiger geworden«, Röm. 5,20; vgl. das Prophetenwort vom kommenden neuen Bund: »... denn ich will ihnen ihre Sünde vergeben« Jer. 31,34), bedeutet das, dass überhaupt von oben her eine Bresche eingelegt wird in die Gefängnismauern des Bösen und dass eine grosse Generalbefreiung für viele kommt (vergleiche Röm. Kap. 5-7).

Urteilen Jesus und Paulus verschieden über die Sünde?

Man hat darauf hingewiesen, dass in den Evangelien (in den Worten Jesu) nur sehr selten von der Sünde gesprochen wird, und daraus den Schluss gezogen, dass Jesus überhaupt nicht so viel Dunkles im Menschenleben gesehen hat wie etwa Paulus. Das von der furchtbaren Macht der Sünde sei eben eine Sonderlehre des Paulus.

Das ist etwa so, als wenn jemand Friedrich von Bodelschwingh oder Mathilde Wrede im Gefängnis mit Sträflingen reden hörte und aus der Tatsache, dass sie gar nicht von den Verbrechen der Leute sprechen, den Schluss zöge: sie halten sie gar nicht für besonders schuldig.

Jesus spricht aus seelsorgerlichen Gründen so selten zu den Menschen von ihrer Sünde; er will ihre Verzweiflung am Guten, die ohnehin gross ist, nicht noch vergrössern. Wo er aber einmal die Sünde erwähnt, tut er es so klar, dass kein Zweifel übrigbleibt darüber, was er von der Lage der Menschen hält: »Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben geben könnt, wieviel mehr wird der Vater im Himmel ...« (Luk. 11,13)! Für böse steht hier derselbe Ausdruck, mit dem sonst der Satan bezeichnet wird. Gerade dieses gleichsam beiläufige Sprechen von der dämonischen Entstellung des Menschenlebens wirkt um so erschütternder.

»O du ungläubiges und verkehrtes Geschlecht, wie lange soll ich bei euch sein? Wie lange soll ich euch erdulden ?« (Matth. 17,17). Hier ist offenbar die Meinung Jesu nicht, die Jünger allein seien so gottfern. Er sieht in ihnen Vertreter der ganzen in ihr Gegenteil verkehrten menschlichen Art.

Nicht misszuverstehen ist auch, was Jesus über die Schuldhaft des Menschen sagt, aus der nur Erlösung ihn befreit (Matth. 20,28; Mark. 10,45), und was er sagt von der Versklavung der Menschen unter die Macht der Sünde (Joh. 3,34).

Einen Widerstreit zwischen Jesus und Paulus im Zusammenhang mit der Sünde hat man konstruiert; er existiert nicht.

Sünde ist Ablehnung Gottes und Gutseinwollen auf eigene Faust

Paulus sagt einmal: »Was aber nicht aus dem Glauben kommt, das ist Sünde« (Röm. 14,23). Glauben heisst festhalten an der Zugehörigkeit zu Gott, den Vater persönlich fassen und ihn nicht lassen.

Die Sünde fing damit an, dass der Mensch nicht festhielt, dass er die Hand seines Schöpfers losliess. Er tat das nicht von ungefähr; er hatte es sich einflüstern lassen, dass er es viel besser haben würde, wenn er selbständig sei, sein eigener Herr. Das Loslassen von Gott (der Unglaube) kommt daher, dass der Mensch die Hoheit Gottes feindselig ablehnt; er will die göttliche Führung nicht mehr.

So sah die Sünde am Anfang aus, und so sieht sie immer aus. Sie ist immer Feindschaft, Empörertum, Argwohn.

Indem sich der Mensch von Gottes Leitung löst, hat er nicht gleich den Vorsatz, schlecht zu sein. Im Gegenteil: Er will sein wie Gott. Er will durchaus nicht alles wahllos tun, was ihm etwa einfällt. Er will ernstlich unterscheiden zwischen gut und böse, aber er will es selbst tun. Er will gut sein, aber auf eigene Faust.

Das Ziel, das der gottferne Mensch sich bewusstermassen setzt, ist niemals das Laster, sondern irgendwie immer die Tugend; nicht die Schande, sondern die Herrlichkeit - aber er will immer die Selbstherrlichkeit.

Sünde ist zielloses Irren, urteilsloses Schwanken

Die Ziele, die der gottferne Mensch seiner Seele vorspiegelt, erreicht er nicht. Er ist im Grunde ziellos. Ziele kann man sich nicht ausdenken; der richtige Führer muss sie weisen. Und der Mensch hat die göttliche Führung nicht mehr. Er wird von seinen Trieben und Gedanken hin und her geworfen und kommt zu keiner festen Lebensrichtung (Matth. 9,36).

Sünde ist führerloses Irren, ist haltloses Schwanken zwischen gut und böse, die Unfähigkeit, zu unterscheiden, was wichtig und was unwichtig, was gross und was klein, was zu wählen und was zu verwerfen, was zu tun und was zu lassen ist trotz der Einbildung und des Anspruchs, wählen und entscheiden zu können.

Sünde ist unweigerliches Verhaftetsein an wesensfremde Mächte

Der Mensch löst sich von Gott, um frei zu sein, und gerät in einen harten Frondienst. Das Gute, das er will, kann er nicht tun, und das Böse, das er nicht will, muss er tun (Röm. 7,15).

Je mehr in einem Zeitalter die Rede ist von Freiheit (»Wir sind niemals jemandes Knechte gewesen«, Joh. 8,33), um so sklavischer ist man eingespannt in den Dienst fremder Mächte, von denen man vielleicht nichts weiss, aber die darum nicht weniger da sind und herrschen.

Mächtige Herrscher inspirieren ihren Untertanen ihre Gedanken und üben eben dadurch eine so grosse Macht aus. Wer Gottes Herrschaft und Inspirationen entrückt ist, kommt unter die Eingebungen dämonischer Mächte und wird eben dadurch so fest an sie gebunden (1. Joh. 3,8).

Sünde ist Fremdherrschaft, Gefängnis, ist Versklavtsein an das, was man hasst. Sünde ist das Grauen des Ausgeliefertseins an Inspiration, die man verabscheut oder die man verabscheuen würde, wenn man sie merkte. Das alles steht im grellen Gegensatz zu der behaupteten Freiheit und Selbstbestimmung.

Sünde ist Vergeudung des göttlichen Erbes

Der Mensch trennt sich von Gott, um herrlich zu sein. Er ist wie im Fieber vor Verlangen nach Ehre, nach Grösse, nach Steigerung seiner Kräfte. Und doch geht durch sein Dasein bei allem äusseren Aufstieg eine deutliche Linie des Verfalls.

In einem gottfernen Leben ist der Mensch seit seiner Kindheit in allem Wesentlichen nicht fortgeschritten; das Beste, was ihm gegeben war, hat er verloren (Matth. 18,3). Der Sohn, je länger er vom Haus weg ist, vergeudet immer mehr von seinem Erbe; und jedes Mal, wenn es wieder recht herrlich zugeht und der Aufwand, den er macht, bewundert wird, ist wieder ein grosses Stück Kapital draufgegangen (Luk. 15).

Es ist in der Geschichte der Menschheit nicht anders. Die Zeiten und Kulturen werden von Mal zu Mal geringer an innerem Gehalt. Erst das goldene Haupt, dann die silberne Brust, dann die Lenden aus Erz, die Schenkel aus Eisen und endlich die Füsse aus Ton und Eisen gemengt.*

Sünde ist im Leben des einzelnen wie in der Geschichte der Völker fortschreitende Entgöttlichung, ist uferlose Vergeudung der angestammten Hoheit, unaufhaltsame Verwahrlosung bis zur vollständigen Verlumpung - trotz allen Aufwandes an Kräften, trotz aller zeitweisen äusseren oder seelischen Erhebungen, trotz aller Menschenverherrlichung und Volksvergötterung.

Sünde ist Zersetzung aller menschlichen Gemeinschaft

Der gottferne Mensch findet nicht mehr zu seinem Bruder. Er hat den Blick für dessen Würde verloren. Er sieht im Mitmenschen einen Fussschemel seiner Grösse, einen Spielball seiner Launen, den Sklaven seiner Wohlfahrt, das Objekt seiner Tätigkeit.

Und will der Mitmensch das nicht sein, so rechnet er ihm das als unverzeihliches Verbrechen an, das mit allen Gewaltmitteln zu bekämpfen, oder, wo die Macht fehlt, mit Verachtung zu strafen ist (Matth. 20,25, Urtext: hinabherrschen, mit Gewalt unterdrücken). So steht jeder zum andern.

Wo der Staat seinen Nachtwächterdienst nicht mehr tut, wo die gesellschaftlichen Formen sich auflösen, da sieht man dieses eigentliche Verhalten des Menschen zum Menschen, das bis dahin teils gewaltsam zurückgedrängt, teils unter gefälligen Formen versteckt war.

  • Sünde ist der Anspruch jedes Menschen, der einzige zu sein, der das Recht zum freien Dasein hat.
  • Sünde ist der Wille zur Unterdrückung aller, die diesen Anspruch nicht gelten lassen.
  • Sünde ist Verachtung der Hoheit und Eigenart aller andern.
  • Sünde ist das gegenseitige Sich-allein-Lassen.
  • Sünde ist die Zersetzung aller Gemeinschaft, ist das Fäusteballen aller gegen alle, ist Brudermord bis zur gegenseitigen Vernichtung - trotz aller gefälligen Umgangsformen und Wohltätigkeitsunternehmungen und Familienverbände und Vereinsbildungen und sozialen Arbeiten.

Was in einem gottfernen Leben noch an Treue, Güte, Ehrfurcht und Dienstbereitschaft ist, ist der Rest des Kapitals, das von Gott stammt und erst mit der Zeit aufgebraucht wird; aber einmal ist es auch endgültig aufgezehrt.

Im Kampf gegen die Sünde ist alles überlieferte Religionswesen ein papiernes Schwert

Gegen die Macht der Sünde wird eine andere Macht ins Feld geführt: das Gesetz. Gesetz ist die menschliche oder göttliche Forderung des Guten; Gesetz in diesem Sinn ist auch jedes Ideal; Gesetz ist Lehre von Gott, von seinen Werken, von der zu erwartenden oder geschehenen Erlösung. Gesetz ist das alles, wenn keine Vollmacht, keine Nähe Gottes dabei ist.

Gesetzliche Frömmigkeit ist gottferne Frömmigkeit.** Das Neue Testament zeigt uns, dass es auch »christliche« Frömmigkeit mit allen Formen des Gemeindelebens geben kann, die alle Gottesnähe verloren hat (die Sendschreiben Offb., Kap. 2 und 3).

Noch immer hat sich das Gesetz der Sünde gegenüber ohnmächtig erwiesen. Es bringt keine Klarheit, keine Führung, keine Ziele ins Leben. Wie sollen Grundsätze, Ideen, richtige Lehren führen oder Ziele weisen? Die reine Lehre allein wirkt keine Freiheit zum Guten, sondern nur krampfhafte Anstrengungen, Gutes zu tun. Sie wirkt kein ursprüngliches Leben, sondern lauter künstliche Erregungen.

Das blosse traditionelle Religionswesen mit allen seinen Einrichtungen, Unternehmungen und Anstalten hat der Sünde gegenüber nur negativen Erfolg: die Sünde wird mächtiger dadurch (Röm. 5,20). Falls man nämlich mit den Forderungen des Gesetzes nicht vollen Ernst macht, sondern sie nur so weit erfüllt, als es durch die gegebenen religiösen Einrichtungen geboten ist, kommt es zu einer Frömmigkeit, die ein Kompromiss ist. Man hat den Schein des Gottesdienstes, ohne doch tatsächlich Gott zu dienen.

Die Sünde hat ein sicheres Versteck gefunden. Die gottesdienstlichen Einrichtungen, die göttlichen und kirchlichen Gebote, die Predigt sind der Sünde gegenüber total harmlos geworden. Sie räumt der überlieferten Religion gern den Raum ein, den sie beansprucht, und entfaltet im ganzen übrigen Lebensraum um so unbestrittener ihre Macht.

Im andern Fall, wenn man nicht stehenbleibt bei einzelnen Vorschriften oder Einrichtungen des Gesetzes, sondern blutigen Ernst macht mit der Hauptforderung der Gottesliebe, erweist es sich, dass die Sünde ihre ganze Machtfülle jetzt erst aufbietet.

Der religiöse Mensch sieht sich, je mehr er durchzubrechen sucht durch die Mauern seines Gefängnisses, um so hoffnungsloser zurückgeworfen (Röm. 7,13.17).

Ausbrechen aus dem Schicksalsraum der Sünde kann nur der, der Anschluss an Christus fand

Nicht der grössere Ernst innerhalb des Rahmens der überlieferten Religion, nicht die Vermehrung ihrer Einrichtungen, nicht die gesteigerte Schulung zum Dienst, nicht vertieftes Bibelstudium (soweit es mit menschlich-religiösen Kräften geschieht) führt heraus aus dem Machtbereich der Sünde, sondern der Glaube.

Glauben heisst: festhalten, ergreifen. Durch Loslassen, Sichloslösen entstand der ganze Schaden des Menschen. Er kann nur dadurch geheilt werden, dass der Mensch wieder nach der Nähe Gottes greift, dass er mit aller Kraft wieder die Gegenwart Gottes, die unmittelbare Berührung, die lebendige Verbindung mit ihm sucht.

Das heisst im Sinne des Neuen Testaments: die persönliche Fühlung mit Christus suchen; nicht ruhen, bis man »in Christus« ist, im Wirkungsbereich der göttlichen Schöpferkraft, die von ihm ausgeht.

Ist der Mensch dahin gelangt, dann ist die Macht der Sünde gebrochen. Was sie ihm nahm, hat er wieder: sichere Führung von oben, die freie, unabhängige Haltung gegenüber allen finsteren Mächten, seine angestammte göttliche Kraft und Lebensfülle, die nahe, innige, natürliche Stellung zum Bruder.

* So die Beschreibung des Standbildes in Daniel 2,30ff.
** Siehe auch den Artikel zu «Gesetz».

Datum: 09.12.2009
Autor: Ralf Luther
Quelle: Neutestamentliches Wörterbuch

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