Was ein Kinderheim in Kalkutta mit der Geburt Jesu zu tun hat

trauriger Blick
Bananenverteilung für Kinder in einem indischen Heim.

Am Flughafen stieg ich in ein Taxi. Von diesem Moment an verschlang mich Kalkutta. Der Russ der Dieselabgase durchdrang meine Lunge, meine Augen brannten, und der Dreck kratzte in meinem Hals. Düsterkeit und Verzweiflung standen den Menschen ins Gesicht geschrieben, die ich während des Fahrens am Fenster vorbeihuschen sah. Gestank von Abwasser und Krankheit klebte in der Luft und drehte mir den Magen um.

Endlich erreichten wir das Zentrum von Mutter Teresas Hilfswerk. Eine Nonne stellte die verschiedenen Dien­ste vor: das Heim für die Sterbenden, eine Station für Aids-Patienten und ein Heim für verlassene und gelähmte Kinder. Wir machten uns auf den Weg zum Kinderheim, einem tristen Wohnblock mit sechs Einheiten. Entlang der Strasse lagen Kinder unbeaufsichtigt auf denn Gehsteig, in ihnen schien alle kindli­che Verspieltheit gestorben zu sein. Erwachsene Patienten schliefen zwischen Leben und Tod schwebend auf Pritschen. Das dröhnende Hupen der Taxis, das Schreien der Strassenver­käufer und das Weinen der Kinder bestürmten meine Ohren. Erschüttert starrte ich nur geradeaus. Am Waisenheim angelangt, stie­gen wir ein paar Treppen herauf, die zu dem Raum der „hoffnungslosesten Fälle” führten. In gefängnisartigen Gitterbettchen lagen Dutzende blinde, verformte, gelähmte und kranke Babys.

Ein Rettungsanker

Ich schaute die Kleinen an: Ihre Köpfe waren geschoren, um die Läuse fernzuhalten, ihre Bettchen gelb vom Urin, und nur dürftige Kleidung schützte ihre Körper. Ich ging von Bett zu Bett, streichelte manchen über den Rücken, andere nahm ich auf den Arm, betete für sie, versuchte, ihnen soviel Liebe wie nur möglich zu geben. Die Spucke eines Mädchens rann mir die Wange herunter, weil sie mich unaufhörlich küsste. Sie klam­merte sich an mich, als sei ich ihr Rettungsanker. Einen Augenblick lang schoss die Angst, mich anzustecken, durch meinen Kopf.

Hinein in den Schmutz der Stadt

Wir gingen zu Mutter Teresas Kapelle, wo abends gebetet wird. Gesang füllte den Raum, während die Nonnen im Gebet knieten. Aus dem offenen Fenster hinter mir sickerten die Ge­räusche der Strasse herein. Ich roch den Gestank und fühlte den beklem­menden Druck, der von ihm ausging. Die Zeit, Abschied zu nehmen, kam viel zu schnell. Ich wollte nicht wieder weg. Ich wollte die Ruhe und Reinheit dieser Kapelle nicht verlassen. Doch schliesslich wurde es Zeit, und ich tat den Schritt hinein in den Schmutz der Stadt. Alles in mir wollte flüchten. Ich fühlte, wie die Finsternis mich einschloss, der Dreck meine Haut durchdrang und Hoffnungslosigkeit in meine Ohren schrie. Schnell winkten wir ein paar Taxis herbei und fuhren ein paar Kilometer zu einem Restaurant. Das Hotelrestaurant war eine Oase der Schönheit. Wir konnten kaum glauben, dass wir immer noch in derselben Stadt waren. Nach dem Abendessen gingen einige aus unserer Gruppe zum Duschen. Ich stand unter dem heissen Wasser und versuchte vergeblich, den Geruch Kalkuttas von mir abzuwaschen.

Gott wurde Mensch

Als das Flugzeug abhob, war mir schwer ums Herz. Obwohl es spät nachts war, konnte ich nicht schlafen. Aus dem Fenster blickte ich in die Dunkelheit, tiefes Schluchzen kam in mir auf. In jenem Moment begriff ich ganz neu etwas von der Tatsache der Mensch­werdung Gottes. Als er auf die Erde kam, hatte er die Reinheit des heiligen Himmels verlassen, um in den Horror einer Welt einzutreten, die voll von Sünde war. Ihm musste der Gestank von Tod und Hoffnungslosigkeit gegen seine Sinne gestürmt sein. Er begegnete einer Dunkelheit, die er noch nie erfahren hatte – sie drang tief in seine Poren ein, brannte in seinen Augen. Er konnte es weder abwaschen noch die schmerzhaften Folgen von seinem Fleisch fernhalten. Ich überlegte, ob Jesus sich wohl danach sehnte, nach Hause zurückzukehren. Er hatte keine Oase, um vor der Verzweiflung der Menschheit zu flie­hen. Ich sah ihn, wie er tagaus, tagein die Ärmsten und Unterdrückten berührte. Er heilte die Kranken, seg­nete die Zerbrochenen.

Keine frühzeitige Abreise

Ich liebe Jesus, weil er gekommen ist. Er kam voller Gnade und Wahrheit, um in einem verlogenen und gesetzlichen Land zu leben. Er verliess den Himmel, um denen zu dienen, die gegen ihn rebel­liert und ihn abgelehnt haben. Der heilige Gott kam als Mensch. Der Preis, den er bezahlt hat, um 33 Jahre in diesem Schmutz zu ver­bringen, übersteigt meinen Verstand. Er erledigte seinen Auftrag nicht nach dem Motto „Augen zu und durch”, sondern begegnete den Nöten der Menschen. Er ist auch nicht frühzeitig abgereist, obwohl er sich jederzeit dazu hätte entscheiden können. Jesus hat mein schmutziges Ge­sicht mit seinen Händen gestreichelt, für mich gebetet, hat mich umarmt. Diese Wahrheit beunruhigt mich, aber gleichzeitig freue ich unendlich mich darüber.

Datum: 09.12.2006
Quelle: Neues Leben

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