Jürgen Neidhart

Erleben, was Gnade ist!

Heute feiern wir in der Schweiz den Reformations­tag. Kann ein Ereignis vor 500 Jahren relevant sein für Menschen des 21. Jahrhunderts? 
Kreuz Gnade
Jürgen Neidhart

Ja! Die Reformatoren stellten eine zentrale neutestamentliche Lehre wieder auf den Leuchter: die Gnade Gottes. Sola gratia – allein aus Gnade wird der Mensch gerettet. Das war die Erfahrung von Martin Luther und wurde zu einer der grossen Säulen der reformatorischen Theologie.

Doch wie sieht das heute aus? Haben wir wirklich begriffen, was die Gnade Gottes bedeutet? Der amerikanische Seelsorger David Seamands schrieb in einem seiner Bücher: «Vor vielen Jahren kam ich zu der Erkenntnis, dass es zwei Hauptgründe für die meisten emotionalen Probleme bei Christen gibt: Einmal das Versagen, Gottes unbedingte Gnade und Vergebung zu verstehen, zu empfangen und auszuleben; und zum Zweiten das Versagen, diese bedingungslose Liebe, Vergebung und Gnade auch weiterzugeben. Wir lesen, wir hören, wir glauben an eine gute Theologie der Gnade. Aber wir leben nicht danach. Die gute Nachricht des Evangeliums der Gnade hat unsere Gefühlsebene nicht erreicht.»

Das ist auch meine Erfahrung. Die meisten Christen können Gottes Gnade zwar theoretisch erklären, doch in ihrem Leben scheint sie kaum Auswirkungen zu haben. Die Botschaft von der Gnade hat unser Herz nicht erreicht. Gott agiert weiterhin wie ein kleinlicher Buchhalter, der genau Buch führt über unsere Fehler und Erfolge. Warum tun wir Christen uns oft so schwer darin, Gott und unseren Nächsten zu lieben? Weil wir uns selbst nicht geliebt fühlen! Weil wir Gottes unverdiente Gnade und vergebende Liebe noch nicht wirklich erfahren haben! Der Schalksknecht im Gleichnis ging deshalb mit seinem Mitknecht so erbarmungslos um, weil sein Herz von der unglaublichen Grösse der Gnade und Vergebung, die sein Herr ihm gewährte, unberührt geblieben war. Und wir? Gehen wir manchmal nicht auch hart, kleinlich und unversöhnlich mit dem Nächsten um? Doch Gott schenkt uns seine Gnade, egal, was wir getan haben. Wir kommen zu ihm – schmutzig, zerschlagen und verwundet. Er vergibt, nimmt uns so an, wie wir sind und zeigt uns, dass er uns unendlich lieb hat.

Diese Gnade hat mich wieder in die Nähe Gottes getrieben und ich begann ihn zu lieben. Das Leben mit und für Gott war so keine fromme Pflichterfüllung mehr, sondern etwas Beglückendes. Wenn ich heute die Bibel lese, fühle ich mich nicht mehr von Gott verurteilt. Wenn ich heute bete, wird es mir warm ums Herz und ich weiss mich als Kind Gottes geliebt. Auch mein Umgang mit anderen Menschen wird zunehmend von Güte und Barmherzigkeit bestimmt. Und weil Gott mich trotz all meiner Fehler und Charakterschwächen bedingungslos liebt, kann ich mich selbst annehmen. So gebrauche ich meine Energie nicht mehr dafür, Gott und den Menschen zu beweisen, dass ich wertvoll, wichtig und liebenswert bin. Gott liebt mich. Nicht, weil er etwas von mir haben will. Nicht, weil ich etwas Besonderes geleistet hätte. Gnade ist gratis, umsonst, ein Geschenk. Genau wie die Liebe.

Jürgen Neidhart ist Pfarrer der Evangelischen Kirchgemeinde Sitterdorf-Zihlschlacht TG.

Diesen Artikel hat uns freundlicherweise «ideaSpektrum Schweiz» zur Verfügung gestellt.

Datum: 04.11.2012
Autor: Jürgen Neidhart
Quelle: ideaSpektrum Schweiz

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