Theologen ziehen Bilanz

Die Kirche im Blick: Harmlos, halbwahr, hoffnungsvoll

Alle Jahre wieder – besonders nach dem Reformationsjubiläum – ziehen Theologen und prominente Christen Bilanz und stellen fest: Die Kirche ist nicht so, wie sie sein sollte. Wie sie sein könnte. Und sie haben recht damit. Trotzdem verdient Kirche nicht nur Kritik. Sie ist und bleibt Inbegriff der Hoffnung.
Jürgen Moltmann, Stephan Holthaus, Dietrich Bonhoeffer

Jürgen Moltmann (91) ist so etwas wie der Grandseigneur der protestantischen Theologie, liberal, weltoffen und mit wachem Blick für geistliche (Fehl)Entwicklungen. Stephan Holthaus (55) ist Ethiker und Rektor der Freien Theologischen Hochschule in Giessen, konservativ, bibeltreu und mit wachem Blick für geistliche (Fehl)Entwicklungen. Dietrich Bonhoeffer (gest. 1945), war lutherischer Theologe und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus. Nicht nur seine Lebensgeschichte, sondern auch seine Theologie und seine geschliffenen Gedanken machen ihn bis heute zu einem christlichen Vordenker mit wachem Blick für geistliche (Fehl)Entwicklungen. Diese drei haben nie an einem Tisch gesessen. Trotzdem verbindet sie die gemeinsame Liebe zu Christus und seiner Kirche – auch wenn sie hierbei unterschiedliche Schwerpunkte setzen (resp. im Fall von Bonhoeffer setzten).

Theologie ist harmlos geworden

Jürgen Moltmann wurde vor kurzem von Alexander Schwabe interviewt. Er bezog dabei Stellung zu Themen wie Schöpfung, Auferstehung und der Entwicklung der Menschheit und bemerkte, dass Kirche ihm nicht profiliert genug sei. Auf die «Krise in der Kirche» angesprochen meinte er nur entspannt: «Die Kirche bemüht sich. Schon der Theologe Daniel Friedrich Ernst Schleiermacher hat vor 250 Jahren von einer Glaubenskrise gesprochen. Das ist nicht neu.» Dass immer weniger Menschen einen Gottesdienst besuchen bzw. Orientierung in der Kirche finden, begründete der Theologe mit einer fehlenden Streitkultur: «Weil es keinen Streit mehr in der Kirche gibt. Wir sind friedlich geworden.»

Moltmann kritisierte die akademische Ausrichtung der Theologie, die nicht mehr konfliktfähig sei: «Sie sind im Dialog mit jedem und niemandem. Sie meiden den Streit und wollen mit jedem im Gespräch bleiben. Eine wahre Dialoginflation. Der Gegenstand, über den wir sprechen, ist nicht so wichtig, die Beziehung, die wir im Dialog eingehen, ist wichtiger.» Durch den Bologna-Prozess seien Universitäten quasi zu Berufsschulen geworden, sagte der Theologe. Es fehle die gesellschaftliche Relevanz. Sein Fazit: «Theologie ist zu einer harmlosen Angelegenheit geworden.»

Kirche lebt mit Halbwahrheiten

Im Nachrichtenmagazin Idea (44/2017) schrieb Stephan Holthaus einen Gastkommentar über die brodelnde Gerüchteküche der Gemeinde. «Hast du schon gehört?» So begännen viele Nachrichten, Infos und scheinbare Gebetsanliegen – mit dem gemeinsamen Problem: «Nichts davon ist wahr.» Holthaus stellte dem auch in Kirchen und Gemeinden weit verbreiteten Drang, Fantasiegeschichten weiterzugeben, das Gebot aus 2. Mose, Kapitel 23, Vers 1 gegenüber: «Du sollst kein falsches Gerücht verbreiten…» Sein Fazit: «Ich wünsche mir Gemeinden, die Widerstand leisten gegen die Gerüchte der Welt … Christen, die prüfen, ob es sich wirklich so verhält, die positiv über Menschen denken und reden, die Wahrheit und Wahrhaftigkeit lieben und die dadurch Gott ehren. Das würde einen Unterschied machen – und die Ehre und Würde von Menschen wiederherstellen.»

Hoffnung bestimmt das Leben

Die Einsichten von Moltmann, Holthaus und vielen anderen treffen zu. Kirche ist tatsächlich nicht so, wie sie sein sollte. Wie sie sein könnte. Wenn wir Kirche und Gemeinde so in den Blick nehmen, wird deutlich, ob wir von einem perfekten Bild ausgehen, das es zu erreichen gilt, oder von erlösungsbedürftigen Menschen. Mit dem perfekten Bild im Hinterkopf bleibt Kirche immer defizitär – sie bleibt immer hinter ihren Möglichkeiten zurück. Mit dem realistischen Bild im Hinterkopf ist Kirche sehr nah und menschlich – sie verliert aber ihre göttliche Komponente.

Entscheidend im Umgang mit dieser Frage scheint der Faktor Hoffnung. Schon Moltmann stellte klar: «Ich werde lieber tausend Mal enttäuscht, ehe ich die Hoffnung aufgebe. Ich war drei Jahre in Kriegsgefangenschaft und hätte die Hoffnung auf Leben jeden Tag aufgeben können. Das Prinzip Hoffnung ist lebensnah und realistisch.» Dietrich Bonhoeffer ergänzte: «Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein. Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind und dass es Gott nicht schwerer ist, damit fertig zu werden als mit unseren vermeintlichen Guttaten. Ich glaube, dass Gott kein zeitloses Schicksal ist, sondern dass er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.»

Ja, wir haben als Christen einen Auftrag innerhalb der Kirche. Als «Leib Christi» sollen wir in dieser Welt Gestalt gewinnen. Manchmal geschieht das tatsächlich. Und das ist wunderbar. Und manchmal erleben wir Versagen, Unzulänglichkeit und Defizite. Aber dann handelt Gott – trotzdem.

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Datum: 04.11.2017
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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