Hugo Stamms „kritische Anmerkungen zum Christentum“

Hugo Stamm feiert seinen Blog. In dreieinhalb Jahren hätten die LeserInnen 75‘000 Beiträge verfasst, schrieb der Sektenspezialist des Zürcher Tages-Anzeigers am Montag - eine Zahl, die weder Moritz Leuenberger noch Kurt Aeschbacher erreiche.
hugo stamm blog

Im TA-Blog, so Stamm, wird über Sekten und Glauben intensiv diskutiert und argumentiert". Und das zu jeder Tages- und Nachtzeit: „Kürzlich trudelten zwischen Mitternacht und morgens um acht Uhr 28 Kommentare ein." Stamm gibt sich überrascht, dass nicht Texte zu „Sekten wie Scientology oder Zeugen Jehovas" am meisten Echos auslösen, sondern „Gedankenanstösse zu Christentum und Islam". Besonders hitzig geht es im Stamm-Blog nach „kritischen Anmerkungen zum Christentum" zu und her. Der Autor und Blog-Moderator: „Dabei entsteht oft ein Glaubensstreit zwischen Christen und Agnostikern oder Atheisten. Den christlichen Standpunkt vertreten vor allem Gläubige aus Freikirchen, denen das Forum ein Dorn im Auge ist. Sie bezeichnen den Blog in letzter Zeit konsequent als Atheisten-Sekte."

„In der Regel" unverträglich

Im Blog vom 10. Juli (der am Montag bereits über 1500 Reaktionen aufwies) hatte Hugo Stamm wieder einmal einer „Welt ohne Glauben" das Wort geredet, einer Welt ohne das von Religionen erzeugte „Leid und Elend". Denn, so der Freidenker, „Glaube macht nicht automatisch friedlich, vielmehr radikalisiert er viele Gläubige in spirituellen und weltanschaulichen Belangen. Das menschliche Bewusstsein verträgt in der Regel den Glauben an das Absolute schlecht... Ein Bruder ist oft nur, wer den gleichen Gott anbetet. Deshalb ist die Geschichte vieler Religionen und Glaubensgemeinschaft (sic) gezeichnet von Macht, Gier, Missgunst, Missbrauch."

Angst vor dem Gericht

Hugo Stamm schiebt den Glaubensgemeinschaften die Beweislast zu: „Relevante religiöse Bewegungen haben bis heute den Tatbeweis nicht erbracht, dass sie gewillt sind, ihre Ansprüche von Friede und Freiheit, Ethos und Moral konsequent zu leben. In diesem Zusammenhang erwähnt er, ohne zu differenzieren, Freikirchen. Sie prägten „mit ihrer fragwürdigen fundamentalistischen Bibelauslegung einen Glauben, der mit Angst verbunden ist. Angst, das Heil zu verpassen, Angst, am jüngsten Tag fallen gelassen zu werden."

Für den Religionskritiker stellt sich die Frage, ob die positiven Seiten von Religionen und Glaubensgemeinschaften die negativen überwiegen. Er lässt sie durch den Physiknobelpreisträger Steven Weinberg beantworten, der sich an der Traditionsbindung von Gläubigen und ihrer mangelnden Bereitschaft zum Zweifeln stösst und behauptet, dass in Vergangenheit und Gegenwart „die Religion mehr schadet, als dass sie hilft". Für Steven Weinberg gibt es nur eine letzte Wahrheit: „Wir alle sollten erwachsen werden und realisieren, dass jeder von uns sterben wird - für immer."

 

Kommentar: Eine bessere Welt mit Hugo Stamm?

Nach dem bekannten Wort des deutschen Verfassungsrechtlers Böckenförde lebt der freiheitliche Rechtsstaat von Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann. Die von Hugo Stamm betriebene Religionskritik lebt von Religion - und vom offenen Gespräch darüber, das sich durch Reformation und Aufklärung Bahn gebrochen hat.

Dass nicht mehr eine Instanz vorgibt, was zu glauben ist, und zu Zwangsmitteln wie der Inquisition greift, stellt einen epochalen Fortschritt dar. Er wurde im Grundsatz von den Reformatoren errungen, die auf die Bibel abstellten. Die Bibel (wenn man sie unvoreingenommen liest) enthält auch viel Kritik gegenüber menschlicher Gewaltherrschaft und Anmassung.

Die Menschenrechte wurden in Ländern formuliert, die von der jüdisch-christlichen Tradition geprägt waren. Dass man sie in Asien und Afrika heute offen bestreitet (Gaddafi beantragte am letzten Gipfel der Afrikanischen Union, dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag Verfahren gegen Afrikaner überhaupt zu verwehren), sollte hellhörig machen. Stärkt derjenige die Menschenrechte, der das Christentum schwächt?

Der Wunsch nach einer Welt ohne Ängste - auch religiös motivierte - ist verständlich. Doch wird niemand jenen die Sympathie versagen, die sich angesichts des anhaltenden, schreienden Unrechts in der Welt nach dem Urteilsspruch Gottes sehnen. „Wir warten auf einen neuen Himmel und eine neue Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt", schrieb einst Petrus. Das kreative Potenzial dieser Hoffnung darf nicht unterschätzt werden. Die Frechheit derer, die heute Völkermord verüben, decken und rechtfertigen, ruft nach einem gerechten Richter, der über allen steht. Leider wurde und wird Religion zur Bemäntelung und Rechtfertigung verbrecherischer Taten missbraucht - umso wichtiger ist das Potenzial der christlichen Hoffnung.

Wären wir wirklich besser dran, wenn sich infolge der Religionskritik die Religionsgemeinschaften alle auflösen würden? Wenn auch der hierzulande vorherrschende christliche Glaube, mit Gottes- und Nächstenliebe und dem Gebot zu dienen, seine Prägekraft verlöre? Bestehendes kritisieren und niederreissen ist einfacher als Neues aufbauen. Fallen Traditionen dahin, entsteht durch Sinnleere und Orientierungslosigkeit ein grösserer Raum für Manipulation.

Eigenartig ist das Vertrauen in die Vernunft, das Hugo Stamm sich am Ende des 20. Jahrhunderts bewahrt hat. Seit 1789 haben nicht die Religionen, sondern die Ideologien an ihrer Stelle der Menschheit unsägliches Leid gebracht. So müsste Stamm, wenn er gegen Vereinnahmung durch religiöse Eiferer und Psycho-Gurus kämpft, ebenso engagiert der Rechthaberei im Gewand einer sich selbst verabsolutierenden Vernunft wehren. Auch Religionskritik kann zur Ideologie werden.  

Quelle: Livenet / Tages-Anzeiger

Datum: 21.07.2009
Autor: Peter Schmid

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