Gefährliche Evangelikale?

Zuwenig Freiraum zum Aussteigen – oder Konvertiten-Syndrom?

Die «Schweiz am Sonntag» fasst die Geschichte zweier Aussteigerinnen aus der Freikirche zusammen. Machen Freikirchen den Ausstieg schwer? Kommt er häufig vor? Wie gehen Pastoren damit um?
Gottesdienstraum der Chrischona-Gemeinde Rüti ZH
Max Schläpfer
Peter Gloor, Leiter Chrischona Schweiz.

Nachdem mehrere Medien von einem «Boom» der Freikirchen berichteten, hat die «Schweiz am Sonntag» auch zwei Frauen zu Wort kommen lassen, die sich emotional heftig von einer Freikirche distanziert haben. Sie fasst die Geschichte von Julia zusammen, die mit 13 im Gymnasium gegen Eltern und ihr Pfingstgemeinde rebellierte und in der Folge auch von zu Hause auszog. Hanna berichtet, wie sie mit 18 die Welt ihrer Chrischona-Gemeinde satt hatte und den Kontakt abbrach.

Der Beitrag spiegelt die heftigen Emotionen, die beide Frauen heute noch mit ihrem Austritt verbinden. Julia, inzwischen 33, macht heute noch die freikirchliche Gemeinde für persönliche Probleme verantwortlich. Sie hat sich auch von ihren Eltern distanziert.

Austritte sind oft Übertritte

Wir fragen: Sind Austritte ein ernstes Problem in den Freikirchen? Wie häufig kommen sie vor? Wie einfach ist ein Austritt? Sowohl die Chrischona Schweiz wie die Schweizerische Pfingstmission (SPM) führen Mitgliederlisten und erfassen auch Austritte. Die SPM registriert 4-5 Prozent Austritte pro Jahr. Dabei sind aber Übertritte in andere Gemeinden im eigenen Verband oder in andere Gemeinden oder eine Landeskirche mitgezählt. Max Schläpfer, Präsident der SPM, schätzt Austritte, bei denen sich die Ausgetretenen vom christlichen Glauben generell distanzieren, auf knapp 2%. Der Austritt erfolge durch eine einfach schriftliche Erklärung, was so auch in den Statuten festgelegt sei. Nach Möglichkeit führe der Pastor auch ein Gespräch mit Austrittswilligen.

Die jungen Leute sind die Herausforderung

Auch Peter Gloor, Leiter der Chrischona-Gemeinden Schweiz, betont, dass die Gemeindeleiter den Auftrag hätten, das Gespräch mit Mitgliedern zu suchen, die mit der Gemeinde unzufrieden sind oder sich davon distanzieren wollen. Wer sich zum Austritt entscheidet, wird aber nicht daran gehindert. Austritte gebe es nicht nur, weil man sich von der Gemeinde eingeengt fühle, sondern weil Leute eine Gemeinde mit einer engeren Theologie und mehr Verbindlichkeit suchen, ergänzt Gloor. Für die Chrischona bedeute aber der Verlust von Jugendlichen nach der Unterrichtszeit das grössere Problem als die vereinzelten Austritte von unzufriedenen Gemeindegliedern. In beiden Freikirchen wird man nicht automatisch durch eine Taufe Mitglied, sondern entscheidet sich bewusst dazu, oft erst nach dem Abschluss des Unterrichts, der im Konfirmandenalter stattfindet. Oft suchen sich aber Jugendliche auch eine Trendkirche wie zum Beispiel das ICF.

Kein Druck

Das Evangelische Gemeinschaftswerk (EGW) registriert lediglich etwa ein Prozent Austritte pro Jahr (ca. 40 auf 3'800 Mitglieder), die aber zum grossen Teil Übertritte in andere Kirchen oder Gemeinden sind. Für den Austritt genügt auch hier eine einfache Mitteilung, wobei die Angabe des Grundes fakultativ sei. Wenn gewünscht, findet auch ein Gespräch mit Austrittswilligen statt. «Austrittsbegehren werden von unseren Pfarrern ohne Druck akzeptiert», betont Thomas Gerber, der das EGW in der Leiterkonferenz der Freikirchen (LKF) vertritt. Das EGW handhabt das Mitgliederwesen pragmatisch. Viele Menschen besuchen zwar die Gottesdienste, sind aber nicht offiziell Mitglied des EGW.

Ausgelöst hat das neue Medieninteresse an den Freikirchen eine Zahlenangabe. Im Buch «Phänomen Freikirchen» heisst es dazu: «Wir schätzen, dass es 2008 in der Schweiz etwa 200'000–250'000 Evangelisch-Freikirchliche gibt (zwischen 2,6–3,2% der Bevölkerung). Dazu zählen Kinder, Personen mit Doppelmitgliedschaften (Freikirchen und Landeskirchen) sowie Personen mit freikirchlichem Frömmigkeitstypus in Landeskirchen.»

notabene

Damit wird klar, dass ein erheblicher Teil der «Evangelisch-Freikirchlichen» nicht Mitglied einer Freikirche, sondern in einer landeskirchlichen Gemeinde aktiv ist. Ihre Zahl macht schätzungsweise 100'000 aus. Dass sich die Zahl der Freikirchler seit 1970 von 37'000 auf nun mehr 250'000 erhöht habe, entspricht somit einer falschen Zahleninterpretation.
Das Buch «Phänomen Freikirchen» von Jörg Stolz und Mitautoren widmet dem Thema Austritt ein Kapitel, das Gespräche mit Ausgetretenen dokumentiert.

Zur Webseite:
Der Artikel in der Schweiz am Sonntag

Zum Thema:

Datum: 17.11.2014
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet

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