Blick in die Zukunft

Kirchenalltag im Jahr 2010

Die Kirche bleibt im Dorf, die Leute jedoch nicht.
Kirche
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„Nichts ist mehr so, wie es einmal war!“ Die Veränderungen in unserer Gesellschaft nehmen ein immer grösseres Ausmass an: weltweiter Terror; Auswirkungen der Globalisierung; Umwelt- und Klimakatastrophen; massive Einbrüche in der Gesellschaftsordnung. Allein die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt sind dramatisch: hohe Dauerarbeitslosigkeit, immer häufigerer Stellenwechsel, Mehrfach-Beschäftigungen, Zunahme der Wochenendarbeit. Der Soziologe Horst W. Opaschowski hat ein vieldiskutiertes Buch veröffentlicht, in dem er Voraussagen der Wissenschaft zur Zukunft unserer Gesellschaft vorstellt. Was bedeuten diese Veränderungen für das Gemeindeleben in den Landes- und Freikirchen? Überlegungen zu drei zentralen Thesen Opaschowskis.


1. „Arbeitnehmer müssen in Zukunft zu Lasten des Familienlebens permanente berufliche Mobilität beweisen. Immer mehr Jobs werden zeitlich befristet und berufliche Laufbahnen von der Ausbildung bis zum Ruhestand für künftige Generationen kaum mehr möglich sein. Neue Beschäftigungsformen (Job-, Berufswechsel, Nebenjobs) machen den ‚Beruf für’s Leben‘ zur Ausnahme und den Zweitjob neben dem Teilzeitarbeitsplatz zur Regel. Die Arbeitnehmer werden zu Job-Nomaden.“ (Opaschowski)

Sollte diese Einschätzung auch nur annähernd stimmen, so hat dies enorme Auswirkungen auf das Gemeindeleben. Mobilität ist eine der gefragtesten Fähigkeiten der Zukunft.Das Idealbild, dass man sich „niederlässt“ und dauerhaft Gemeindearbeit in ein und demselben Ort gestalten kann, wird die Ausnahme sein. Das hohe Mass an Flexibilität und Mobilität auf dem Arbeitsmarkt lässt zum anderen die Sehnsucht nach Stabilität und Ruhe stärker werden. Der Hang, Kathedralen und alte Kirchengemäuer aufzusuchen, um bei allem Wechsel wenigstens noch einen Ort zu haben, wo man sich anlehnen kann, nimmt auch in Deutschland auffallend zu. Tradition als Gegenpol zur Hektik und Sprunghaftigkeit unserer Zeit wird neu Konjunktur haben. Gemeinden tun gut daran, nicht in die gleiche Zappeligkeit und Nervosität zu verfallen wie die Gesellschaft, sondern Orte der Ruhe und Orientierung zu sein.

Nervöse Menschen, ruhige Gemeinden

Der Glanz der Gemeindearbeit liegen und nicht in erster Linie die Frage: Was können wir noch alles tun? Wie schnell? Wie gut? Manche Gemeinde läuft so Gefahr, sich in einen Kollaps hineinzukatapultieren. Die Peitschen der Treiber locken die Menschen aber nicht an, sondern die Wärme und Geborgenheit einer Gemeinschaft, die uns den Glanz des Himmels ahnen lässt. Wenn dieser Glanz in den Gemeinden zu finden ist, werden Menschen auch eher bereit sein, sich in die Mitarbeit einbinden zu lassen. Diese allerdings kann dann häufig nur kurzfristig geplant werden. Die meisten berufstätigen Gemeindemitglieder sind nicht mehr in der Lage, eine unbefristete Gemeindemitarbeit wahrzunehmen.

Leben in mehreren Gemeinden

Oft sind es nur einige Monate oder wenige Jahre, die verbindlich zugesagt werden können. „Was uns fehlt, sind die treuen Mitarbeiter von früher, die oft über viele Jahre ihren Dienst getan haben“, bemängelt ein Pastor. „Treue“ wird hier insbesondere im Sinne der zeitlichen Kontinuität verstanden. Dieser Aspekt von Treue wird zwangsläufig angesichts der Arbeitsmarktentwicklung zurückgehen, wohingegen ein anderer Gesichtspunkt verstärkt wird: die Zuverlässigkeit. Menschen werden zunehmend bereit sein, sich über einen für sie überschaubaren Zeitrahmen verbindlich, sprich zuverlässig in die Gemeindemitarbeit einzubringen. Dabei wird auch die Zahl jener Christen wachsen, die nicht mehr allein in einer Ortsgemeinde zuhause sind, sondern die aufgrund ihrer beruflichen Situation an zwei Orten Gemeindeleben erfahren; z.B. montags bis freitags in einem Ort und am Wochenende in einem anderen Ort. Die Gemeinden müssen sich verstärkt darauf einstellen.

2. „Wir müssen Abschied nehmen von der Normalarbeitszeit. In der Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft der Zukunft geraten die Zeitblöcke von Arbeit und Freizeit durcheinander. Schon heute leisten mehr als zwei von fünf Beschäftigten regelmässig oder gelegentlich Nacht-, Schicht-, oder Wochenendarbeit. Die berufliche Arbeit am Wochenende wird sich für immer mehr Beschäftigte zur neuen Norm entwickeln. Die zunehmende Arbeitszeitflexibilisierung führt nicht zwangsläufig zu mehr Zeitsouveränität des Arbeitnehmers. Es wird immer schwieriger, soziale Kontakte und familiäres Zusammensein zeitlich zu koordinieren.“ (Opaschowski)

Die meisten Gemeinden gehen heutzutage nach wie vor davon aus, dass die Gemeindearbeit im wesentlichen in der Freizeit stattfindet. Aber wann wird diese Freizeit sein? Die Normalarbeitszeit wird in der Regel angesetzt zwischen 8 und 18 Uhr von montags bis freitags jeder Woche. Sollte sich der von Opaschowski angezeigte Trend durchsetzen, wird eine Gemeinde nie mehr als Ganze zusammenkommen können, da immer einige arbeiten müssen. Das ist zwar vielerorts heute bereits der Fall, wird jedoch kaum als Trend wahrgenommen. Nicht nur produzierende Betriebe, sondern auch immer mehr Dienstleistungsunternehmen (z.B. Handel, Ärzte, beratende Berufe) gehen dazu über, auch spätabends bzw. nachts für die Menschen dazu sein. Tag und Nacht verschmelzen zu einem Gesamtzeitraum, der aus Arbeitszeit und Freizeit besteht. Es ist deshalb zu fragen, inwiefern es in der Zukunft sinnvoll ist, die unter der Woche stattfindenden Hauptveranstaltungen einer Gemeinde (z.B. Bibelstunden, Hauskreise, Gemeindeversammlungen, Evangelisationen) vorwiegend abends anzubieten.

Gottesdienst um 23 Uhr?

Sowohl betagtere Gemeindemitglieder als auch der wachsende Anteil von Nachtarbeitern verbietet diese Einseitigkeit. In Zukunft sollte eine Gemeinde zumindest auch vormittags, eventuell auch nachts Angebote haben. Warum sollten wir nicht zu einer Gebetsstunde am sehr frühen Morgen oder zu einem Gottesdienst um 23 Uhr einladen? Ohnehin fällt auf, dass immer mehr junge Leute gerne erst ab Mitternacht zu ihren Veranstaltungen gehen. Sicher gilt es zu fragen, ob die Gemeinde Jesu auf diese Trends eingeht oder nicht. Gibt es biblische Vorgaben, die hier zu berücksichtigen sind? Ohne Zweifel ist das Festhalten an einem wöchentlichen Ruhetag (Sonntag) besonders zu beachten. Es ist wahrscheinlich, dass Christen, die sich weigern, sonntags oder feiertags zu arbeiten, erhebliche Nachteile in Kauf nehmen müssen. Eine Gesellschaft, die wieder einmal die Gesetze des Profits über die Gebote Gottes stellt, wird hierfür die Rechnung zu bezahlen haben. Es lohnt sich, auch in unserem Land dafür zu kämpfen und einzutreten, dass zumindest der Sonntag ein weitestgehend arbeitsfreier Tag bleibt.

3. „In Zukunft wird es Vollbeschäftigung nie wieder geben, und auch bezahlte ‚Arbeit für alle‘ kann nicht mehr garantiert werden. Insbesondere die modernen Informationstechnologien sorgen dafür, dass im 21. Jahrhundert in vielen Branchen nur noch ein (Bruch)-Teil der heute Beschäftigten gebraucht wird. Wenigen Vollzeiterwerbstätigen steht ein grosses Heer von Gelegenheitsarbeitern und Aushilfsjobbern, Teilzeitbeschäftigten und Arbeitnehmern auf Abruf gegenüber.“ (Opaschowski)

Meiner Generation, die mit dem Leitbild der Vollbeschäftigung gross geworden ist, erscheint diese Zukunftsanalyse wie ein Horrorszenario. Will man Opaschowski und anderen Arbeitsmarktexperten glauben, so erwarten uns in den nächsten Jahren höhere Zahlen von Menschen, die zwar arbeitswillig und -fähig sind, aber keine bezahlte Arbeit finden. Wie reagieren die christlichen Gemeinden auf diese Entwicklung? Es ist Umsicht geboten, denn wer selber einmal von Arbeitslosigkeit betroffen war, weiss, wie schmerzlich eine solche Phase im Leben ist.

Arbeitslose Gemeindeleiter?

Gerade in der Gemeinde sollte deutlich werden, dass jeder Mensch unabhängig von seinem sozialen Stand Anerkennung und Wertschätzung findet. Es muss möglich sein, dass ein Langzeitarbeitsloser als Leiter einer Gemeinde, als Ältester, seine Verantwortung wahrnimmt, und dass ein Generaldirektor eines Konzern in der Putzkolonne mithilft. Arbeitslosigkeit bedeutet also nicht, dass auch die Mitarbeit in der Gemeinde eingestellt werden müsste. Im Gegenteil: Da ein Arbeitsloser über mehr Zeitflexibilität verfügt, kann er sich vielfach stärker einbringen. Hier und da hört man sogar davon, dass Gemeinden hauptamtliche Mitarbeiter entlassen, die für einen gewissen Zeitrahmen aufgrund der sozialen Absicherung in unserem Land die gleichen Aufgaben in der Gemeinde weiterhin wahrnehmen; nun aber bezahlt der Sozialstaat. Was muss in einem Christenmenschen vorgehen, der sich in einer derartigen Weise aus der Solidargemeinschaft eines Volkes verabschiedet und die sozialen Nischen ausnutzt, zwar „für den Herrn“, aber sicher nicht „im Sinne des Herrn“. Bei knapper werdenden Mitteln in den Gemeindekassen sind diese Winkelzüge zwar naheliegend, aber doch nicht mit dem Geist des Evangeliums vereinbar.

Einkommen teilen – wie in der Urgemeinde

Apropos „Solidarität“- diese sollte zunächst auch in der Gemeinde deutlich werden. Im Neuen Testament sehen wir, in welch dichter Form Solidargemeinschaft gelebt wurde. Die Gemeinde 2010 muss diesen Gedanken sicherlich neu aufnehmen. Wenn durch Arbeitslosigkeit Mitchristen in soziale Engpässe geraten, so muss gefragt werden, ob nicht diejenigen, die ein bezahltes Beschäftigungsverhältnis haben, von ihrem Verdienst abgeben und damit auch andere unterstützen – und zwar über das vom Staat vorgeschriebene Mass hinaus. Hier würden deutliche Signale der anderen Gerechtigkeit des Reiches Gottes gesetzt werden. Arbeitslosigkeit und Solidarität gehören zusammen, nicht nur durch Worte und Gebete, sondern auch durch Taten. „Nichts ist mehr so, wie es einmal war.“ Stossseufzer oder Zeichen des Aufbruchs? Es bleibt fraglich, ob alle Hochrechnungen zur Entwicklung des Arbeitsmarktes wirklich eintreten oder ob es um Entwicklungen geht, die kaum Auswirkungen auf die Gemeinde haben werden. Eines ist allerdings gewiss: Den Kopf in den Sand stecken – das bleibt dem Vogel Strauss vorbehalten.

Autor: Heinrich Christian Rust

Datum: 26.09.2002
Quelle: idea Deutschland

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