Zeitgenössischer Individualismus und biblische Individualität

"Individuus" (lateinisch) bedeutet "unzertrennlich, unteilbar" und das Substantiv "Individuum" meint "Atom", im Spät- beziehungsweise Mittellateinischen "Einzelding". Wenn heute von Individualisierung die Rede ist, meinen wir die Verlagerung der Verantwortungs- und Handlungsebene von der Masse zum Einzelwesen. Das "Ich" setzt sich selbst die Massstäbe.

Der Mensch - das Mass aller Dinge

Diese Entwicklung nimmt ihren Anfang in der Renaissance. Der eigene Antrieb, der eigene Wunsch und die eigene Einsicht werden zum Ausgangspunkt des Handelns. Der Mensch setzt sich ins Zentrum, der Humanismus ist geboren.

Auf dieser geistigen Basis werden später (zur Zeit der Aufklärung) Hierarchien der Macht und des Wissens in Frage gestellt. Emanzipation, Aufklärung, der "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" (Kant) sind die Folgen dieses Perspektivenwechsels. Stand, Geschlecht und Rasse werden nicht mehr als schicksalhaft angesehen. Der Mensch mit seinen körperlichen und geistigen Merkmalen und Anlagen wird zum Wert an sich erklärt. Die Persönlichkeit als Inbegriff spezifischer Charaktereigenschaften, eben das Individuum als leibhaftiger, in Fleisch und Blut existierender Mensch, wird zum Selbstzweck, vor dem sich jede Ordnung rechtfertigen muss.

Lust statt Frust

Heute ist das Denken der 68er Generation, das damals so viele Bürgerliche erschreckt hat, zur allgemein akzeptierten Bürgernorm geworden. Jeder lebt nach seiner Fasson. Sich längerfristig irgendwo zu verpflichten, ist "out". Das, wonach ich gerade Lust habe, ist "in". Leben nach dem Lustprinzip ist angesagt. Die Zeitschrift "Der Beobachter" vom 29. September 2000 berichtete vom Egoismus-Virus, der sich in der Schweiz immer mehr ausbreitet. Oder anders ausgedrückt: der Egoismus ist in der Zwischenzeit salonfähig geworden. Rücksichtnahme und Solidarität sind am Abnehmen. Heute gilt das Motto: "Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht." (aus: "Generation Golf" von Florian Illes)

"Ich will Spass haben" ist das ausgesprochene, manchmal auch unausgesprochene und unbewusste Motto der Ego-Gesellschaft. Der Mensch auf sich selbst gestellt, tut und lässt, was er will, und ist sich selbst Gesetz. So inszeniert er sich selbst in Illustrierten, in Talkshows, in Büchern und erntet Applaus und Geld für etwas, wofür er sich früher noch hätte schämen müssen. Die Selbstinszenierung ist voll im Gang, ganz nach dem Grundsatz: Schein ist auch Sein. Das gloriose Ich lebt sich selbst und genügt sich selbst.

Ich und du - du und ich

Allerdings, es ist zu einfach, bloss auf Entwicklungen zu zeigen, die mit den christlichen Werten kollidieren, und sich dabei erhaben und gut zu fühlen. Die Frage ist, ob wir Christen nicht allzu oft die positiven Ansatzpunkte, die Zeitströmungen eben auch aufweisen, übersehen haben.

Der Individualismus ist Ausdruck der Sehnsucht nach Freiheit. Ja, er ist die Geschichte der Freiheit, die auch Anklage und Kritik an die Geschichte des Christentums ist. Denn oftmals ist oder war die christliche Lehre nur noch ein theoretisches Gedankengebäude, statt eine echte Lebensgemeinschaft. Dabei hätten wir Christen zu diesem Thema so viel beizutragen.

Neben dem Individualismus gibt es auch den Begriff der Individualität, also der schöpfungsmässigen Einzigartigkeit. Individualität drückt aus, dass es die Einzigartigkeit des Menschen nur im Vergleich, nur im Bezug auf ein Gegenüber gibt. Ohne ein Gegenüber kann ich nicht von meiner Identität oder Individualität sprechen. Ich kann nur dann "ich" sagen, wenn ich zugleich auch "du" sagen kann. Mein "ich" wird erst neben dem "du" erfahrbar. Und so gilt auch das Gegenteil: ich kann nur dann "du" sagen, wenn ich auch "ich" sagen kann.

In diesem Sinne ist Individualität eben gerade nicht Vereinzelung, Rückzug auf sich selbst, sondern drängt hin zum Mitmenschen. Das Gebot der Nächstenliebe verdeutlicht dies (Markus 12, 31). So heisst es nicht "Liebe deinen Nächsten!", sondern "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst." Die Selbstannahme wird hier vorangestellt, vor die Liebe zum Nächsten. Bei genauer Betrachtung spüren wir jedoch die Wechselwirkung des Gebotes. Ich kann den Nächsten gar nicht lieben, wenn ich mich nicht annehme. Und ich kann mit mir nicht klarkommen, wenn ich ein gestörtes Verhältnis zum Nächsten habe. Also geht es hier nicht einzig um Nächstenliebe, sondern auch um Selbstannahme, die nur möglich ist, wenn die Verbindung zum Liebesgebot Gott gegenüber ins Spiel kommt. Weil es mich zurückwirft auf den Schöpfer, auf den Ursprung meines Seins.

Freiheit in Verantwortung

Der Schöpfungsbericht illustriert dies sehr schön: "Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, nach dem Bilde Gottes schuf er ihn; als Mann und Frau schuf er sie." (1. Mose 1, 27) Das Miteinander, die Einheit in der Geschlechtergemeinschaft werden hier betont und als Abbild Gottes hingestellt. In Kapitel 2 von 1. Mose wird zudem der ergänzende Charakter hervorgehoben: "Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Hilfe schaffen als sein Gegenüber (d. h. die zu ihm passt)."

Nicht als Konkurrenten stehen sich Adam und Eva gegenüber, sondern als Ergänzung und Vervollkommnung ihrer Einseitigkeit. Sie bedürfen einander. Schöner und bildhafter als im Schöpfungsbericht kann dies nicht mehr ausgedrückt werden: "Adam", der Erdmann, ist der "Adama", der Erde entnommen (1. Mose 2, 7). Die Frau, "issa", ist dem Manne, "is", entnommen. Dieses hebräische Wortspiel versuchte Luther mit "Mann" und "Männin" zu verdeutschen.

Schöpfungsmässige Individualität zu entdecken, hat mit Zuwendung und Verbindlichkeit zu tun. Biblische Individualität bewirkt also genau das Gegenteil des zeitgenössischen Individualismus, der einerseits den eigenen Vorteil nach dem Lustprinzip verwirklichen will, andererseits das Leben als Abenteuer der "Ich-Findung" begreift. Sich selbst als ein von Gott geschaffenes Individuum zu verstehen und anzunehmen, mit allen Schwächen und Einseitigkeiten, raubt mir nicht meine Würde, im Gegenteil. Es weist mich hin auf den Schöpfer, auf den Retter und auf den Nächsten. Nur wer seine Grenzen kennt und akzeptiert, ist fähig zur Zusammenarbeit, zur Ergänzung und zu echter Freiheit in Verantwortung.

Datum: 26.03.2002
Autor: Ernst Liechti

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