Minderwertigkeitsgefühle

Auch unter Christen verbreitet: Das Hochstapler-Syndrom

Jeder kennt das Gefühl, etwas nicht geschafft zu haben. Doch für manche Menschen ist es lebensbestimmend. Permanent haben sie den Eindruck, dass sie viel schlechter und unfähiger sind, als ihre Umgebung es wahrnimmt. Sie halten sich für Hochstapler. Das Phänomen ist weit verbreitet – auch unter Christen.
Nachdenkliche Frau

Karla hat gerade ihr Studium mit einem hervorragenden Ergebnis abgeschlossen. Alle gratulieren ihr, doch sie denkt: «Wenn die wüssten, dass ich gar nicht so viel weiss. Eigentlich habe ich das nicht verdient.»

Jens ist Pastor in einer lebendigen Gemeinde. Er fühlt sich dort wohl, doch immer wieder belastet ihn der Gedanke: «Wenn die anderen wüssten, was für ein Versager ich in Wirklichkeit bin, würden sie mich glatt hinauswerfen.»

Praktisch jeder kennt solche Gedanken. Doch problematisch wird es, wenn sie das ganze Leben überschatten.

Was ist das Hochstapler-Syndrom?

1978 beschrieben Pauline Clance und Suzanne Imes das «Imposter Syndrome». Sie hatten beobachtet, dass erfolgreiche Frauen oft dachten, ihre Intelligenz bzw. ihre Leistung würde überschätzt. Längst ist klar, dass das Phänomen nicht nur Frauen betrifft: Überall, wo Leistung zählt, empfinden zahlreiche Menschen ähnlich. Diese massiven Selbstzweifel werden als Hochstapler-Syndrom bezeichnet, als Betrüger-Phänomen oder Mogelpackungs-Syndrom. Die Gelehrten streiten allerdings bis heute darüber, ob es tatsächlich ein Krankheitsbild ist.

Die meisten sind sich einig darüber, dass das Hochstapler-Syndrom kein Persönlichkeitsmerkmal ist, sondern in der Kindheit erworben wird. Zum Beispiel dadurch, dass die eigenen Eltern einen Bruder oder eine Schwester (scheinbar) immer vorziehen. «Nimm dir ein Beispiel an…», heisst es immer wieder, und eigene Leistungen scheinen nie so gut zu sein, dass sie an die des anderen heranreichen. Das Phänomen kann aber auch fast gegenteilige Ursachen haben. Wenn Eltern uneingeschränkt bejubeln, was ein Kind alles kann, dann manifestiert sich dadurch das Wissen: Eigentlich bin ich gar nicht so gut…

Welchen Einfluss hat dies auf christliches Engagement?

Das Hochstapler-Syndrom ist kein typisch christliches Phänomen, aber es findet einen guten Nährboden in der moralischen Erwartungshaltung und der Betonung der allgemeinen Sündhaftigkeit. Der US-Pastor Daniel Im weist in einem Artikel in «Christianity Today» darauf hin, welche Folgen es für Pastoren bzw. engagierte Christen haben kann:

1. Ungesunde Leistungsorientierung

Christen, die am Hochstapler-Syndrom leiden, sind besonders leistungsbereit. Sie wollen einen guten Eindruck machen und arbeiten hart dafür. Wer jetzt denkt: «Dann wünsche ich mir mehr solche Mitarbeiter in der Gemeinde», vergisst, was all dies kostet. Denn das Ganze wird zu einer ungesunden Obsession. Und irgendwann wird die Mitarbeit in der Gemeinde zum reinen Job. Vielleicht zu einem perfekten Job, aber unabhängig von irgendeiner Berufung. Ist es das wert?

2. Falsche Bühne

Christen, die am Hochstapler-Syndrom leiden, haben die irrationale Angst, dass eines Tages jeder merken könnte, wer sie wirklich sind – scheinbar unqualifizierte Betrüger. Also bauen sie sich eine Bühne zur Selbstdarstellung, die so hoch ist, dass es für andere fast unmöglich wird zu sehen, wer sie wirklich sind. Das funktioniert allerdings nur mit entfernten Bekannten und nicht mit nahen Freunden, kostet also gute Beziehungen. Veronica Greear, Frau des bekannten Baptistenpastors J.D. Greear, meint dazu: «Berühmtheit macht dich erreichbar für Menschen, für die du dich in Wirklichkeit nicht interessierst. Und sie kostet dich diejenigen, die du magst.»

Nun ist nichts falsch daran, als Christ ein Bühne zu haben, auf der einen andere wahrnehmen. Wer allerdings seinen Blick nur auf diese Bühne richtet, verliert sich selbst aus den Augen.

3. Schädliches Netzwerk

Christen, die am Hochstapler-Syndrom leiden, sind oft gute Netzwerker. Daran ist erst einmal nichts falsch. Doch es stellt sich die Frage, aus welchen Motiven sie Beziehungen pflegen. Oft ist es das Denken von Jakobus und Johannes, die sich bei Jesus in eine gute Position bringen wollten (Markus, Kapitel 10, Vers 37). Beziehungen sind gut und wertvoll – faul wird es erst, wenn wir ständig nach Menschen Ausschau halten, die für uns «wichtig» sind.

Wie kann man dem Hochstapler-Syndrom begegnen?

Die effektivste Therapie zur Überwindung des Hochstapler-Syndroms scheint die Erkenntnis zu sein, dass es existiert. Manchmal hilft es schon weiter zu wissen, dass man nicht der einzige ist, der «so» denkt. Dazu kommt bei allem Wissen um unsere Begrenzungen im Hier und Jetzt das Versprechen der Bibel: Es gibt tatsächlich nichts, was wir tun können, damit Gott uns mehr liebt. Oder damit er uns weniger liebt. Seine Liebe ist unabhängig von unserer Leistung. Und das gilt für Christen und Nicht-Christen. Für Pastoren, Mitarbeiter und alle anderen.

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Datum: 14.02.2019
Autor: Hauke Burgarth / Daniel Im
Quelle: Livenet / Christianity Today

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