Umfrage im Sexgewerbe

Heile Welt im Schweizer Rotlichtmilieu?

Eine freiwillige Umfrage unter Schweizer Bordellen legt nahe, dass im Sexgewerbe alles mit rechten Dingen abläuft. Experten setzen allerdings dicke Fragezeichen hinter die Rückmeldungen der Betreiber.
Eine Umfrage im Sexgewerbe suggeriert, dass in Schweizer Bordellen alles mit rechten Dingen abläuft.

Die grossangelegte Studie über das Schweizer Rotlichtmilieu fand Anfang des Monats eine breite Resonanz in den Medien. «20 Minuten» titelte gewohnt plakativ: «Jeden Tag gehen bis zu 18'700 Männer ins Puff». Was man zu lesen bekam, hörte sich nach heiler Welt im Sexgewerbe an: Die Bordelle werden meist von Frauen geführt, die oft eine gute Ausbildung haben. Die Sexarbeiterinnen verdienen gut und haben die Arbeit gewählt, um ihren Lebensstandard zu verbessern. 11,5 Prozent machen es sogar aus purer Freude. Von Gewalt sind vor allem Strassenprostituierte betroffen, in Bordellen ist dies ein «Randphänomen», ebenso wie Zwangsprostitution und Menschenhandel. Ist das die ganze Wirklichkeit? Wie das bei Studien oft ist – bei genauerer Betrachtung erscheinen die Ergebnisse in einem etwas anderen Licht.

Von Zwangsprostitution «gehört»

In Auftrag gegeben wurde die Untersuchung in Form einer freiwilligen Umfrage vom Bundesamt für Polizei (fedpol). Die Kriminologen Lorenz Biberstein und Martin Killias verschickten ausführliche Fragebögen an knapp 550 Schweizer Bordelle, von denen 99 ausgefüllt zurückkamen. Eine der entscheidenden Fragen lautete: «Haben Sie im letzten Jahr beobachtet, dass einzelne Sexarbeiterinnen in Ihrem Betrieb durch andere Personen zu dieser Arbeit gezwungen wurden?» Bei einer «Ja»-Stimme kreuzten 77 «Nein» an und drei «weiss nicht». Dagegen gaben 25 Bordelle an, schon von Zwangsprostitution in anderen Betrieben «gehört» zu haben. Strafrechtsprofessor Martin Killias bilanziert: «Während es möglich ist, dass ein Grossteil des Menschenhandels in Europa auf die Sexarbeit entfällt, kann nicht unbesehen davon ausgegangen werden, dass Sexarbeit generell oder vorwiegend unter Zwang oder im Zusammenhang mit Menschenhandel erfolgt.» Der «Aargauer Zeitung» sagte er: «In der Schweiz werden Rotlicht-Etablissements mit Anfragen von Frauen überschwemmt. Von daher macht es ökonomisch keinen Sinn, Zwangsprostituierte einzusetzen.»

Ein grosses Fragezeichen

Irene Hirzel, Geschäftsführerin der neu eingerichteten Meldestelle für Menschenhandel ACT212, bescheinigt der Studie zwar ein handwerklich korrektes Vorgehen, gibt aber zu bedenken: «Ich setze ein grosses Fragezeichen hinter die Rückmeldungen der Bordellbetreiber.» Diese hätten kein Interesse daran, ihren Betrieb und die Branche negativ darzustellen. Die Datenerhebung sei darum vergleichbar mit einem Eisberg, von dem nur die Spitze gemessen werde, also der sichtbare Bereich. Alles, was unter der Oberfläche liege, könne sie nicht abbilden. «Menschenhandel kann man nicht messen, das spielt sich im Untergrund ab», so Hirzel weiter. Was die Motivation der Frauen, nämlich die «Verbesserung ihrer Lebensumstände» angeht, präzisiert sie: «Ich nenne das anders, ich nenne das Armut und Perspektivlosigkeit».

Peter Widmer von der Zürcher Gassenarbeit «Heartwings» meint: «Der Menschenhandel ist wie ein Chamäleon, das die Farbe wechselt und sich versteckt.» Zwangssituationen entstünden zudem auch aus anderen Gründen. «Die Frauen geraten in Abhängigkeiten, allein schon durch ihre mangelnden Deutschkenntnisse.» Dadurch sei die Gefahr der Ausnutzung sehr hoch. «Viele Frauen sind in der Schweiz hilflos und stets am kürzeren Hebel», so Widmer. Das bestätigt Sozialarbeiterin Cornelia Zürrer vom Projekt «Rahab» der Heilsarmee Zürich: «80 Prozent der Frauen, denen wir in unserer Arbeit begegnen, würden eine solche Studie nicht einmal ausfüllen können.» Zudem seien die zahlreichen Privatstudios in der Erhebung nicht erfasst, da sie teilweise gar nicht angemeldet sind. Dort würden die Frauen durch überhöhte Mietpreise abgezockt. «Das ist kein Menschenhandel, aber klare Ausbeutung einer Notsituation», so Zürrer. «Wenn man die Sexarbeiterinnen fragen würde, würden sie vielleicht etwas anderes antworten als die Chefinnen.» Die Studie bildet ihrer Meinung nach gewisse Segmente richtig ab; sie zeige aber nur ein kleines Stück des Kuchens.

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Datum: 27.07.2015
Autor: Christof Bauernfeind
Quelle: ideaSpektrum Schweiz

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