Auch Krüppel sind Gottes Ebenbild

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Der US-Fernsehsender CBS hat den schwerbehinderten Deutschen Thomas Quasthoff als „einen der grössten Sänger unserer Zeit“ gefeiert. Der Musiker erzählte dem Reporter Ed Bradlee: „Als ich 1959 zur Welt kam, prophezeite unser Arzt meiner Mutter: ‘Dieser kleine Kerl wird Ihnen noch viel Freude bereiten.’“ Bach-Liebhaber dürften bei diesen Worten zustimmend genickt haben, denn keiner interpretiert die Basspartien der Passionsmusiken bewegender als dieser Künstler, der nur Stummel dort hat, wo andere Menschen über Gliedmassen verfügen. Das Arzneimittel „Contergan“, das Quasthoffs Mutter gegen morgendliches Erbrechen während der Schwangerschaft verschrieben worden war, hatte diese Schäden verursacht.

Begnadete Künstler wie Quasthoff sind in der nunmehr angebrochenen Eiszeit für die Menschheit nicht mehr vorgesehen. Wüchse er heute im Mutterleib heran, würde durch pränatale Diagnose festgestellt, dass der Fötus schadhaft und demzufolge abzutreiben sei. Bald, so schrieb der New Yorker Wissenschaftsautor David Schenk, könnten in manchen Ländern Krankenkassen sogar auf diesem Eingriff bestehen. Denn wenn sich der körperliche Zustand des künftigen Kindes voraussagen lasse, entfalle der Versicherungsschutz für die prognostizierten Leiden.

Sie würden der Welt fehlen

Das bedeutet: Auch für Ludwig van Beethoven (1770-1827) gäbe es nach den heute bereits gängigen Praktiken kaum eine Geburtschance, weil vorher gentechnisch ermittelt worden wäre, dass er voraussichtlich ertauben wird.

Dem Komponisten Robert Schumann (1810-1856) und dem Maler Vincent van Gogh (1853-1890) würde vielleicht das Lebensrecht verweigert, weil sich ihre spätere Schwermut voraussehen liesse.

Der Physik würde ihr derzeit grösster Denker Stephen Hawking vorenthalten; denn dass dieser bedeutende Kopf dereinst auf einem nachgerade verbrezelten Körper sitzen würde und nicht sprechen könnte, wäre vor seiner Geburt erkennbar gewesen. Hawking wäre „entsorgt“ worden.

Die christliche Einsicht, dass auch der Krüppel Gottes Ebenbild ist und gerade dann Grösstes zu leisten vermag, wenn er schwerste Leiden meistert, droht ihre Gültigkeit zu verlieren. Schon jetzt, so berichtete das Hamburger Wochenblatt „Die Zeit“, lassen in Deutschland bis zu 90 Prozent der werdenden Mütter ihre Leibesfrucht töten, wenn feststeht, dass daraus ein Kind mit Down-Syndrom werden würde. Will heissen: Die Freude, die gerade solche Kinder mit ihrer uneingeschränkten, sonnigen Liebe ihren Eltern bescheren, wird uns fortan verwehrt sein.

Behinderung: Ein vermeidbarer Unfall?

Stattdessen müssen wir uns auf Horrorgeschichten wie diese gefasst machen: „In Zittau“, schrieb die „Zeit“, „wird gegen einen Chefarzt ermittelt, der einem atmenden Kind eigenhändig die Luft abgedrückt haben soll, um eine fehlgegangene Abtreibung zu vollenden.“ Der Leser, der sich noch an das „Dritte Reich“ erinnert, bekommt eine Gänsehaut, wenn er liest, dass Eltern behinderter Kinder heute zunehmend ausgegrenzt werden, auch aus den eigenen Familien. Argument: So etwas sei ja nun wirklich vermeidbar.

Schon 1944 hatte der grosse christliche Schriftsteller C. S. Lewis (1898-1963) prophezeit, dass der Mensch sich selbst abschaffen werde, nachdem er sich durch Eugenik (Erbhygiene) und vorgeburtliche Bestimmung ganz unter Kontrolle bekommen habe.

Diese düstere Vision droht nun wahr zu werden. Der Amerikaner Francis Fukuyama, einer der bedeutendsten politischen Denker unserer Zeit, schrieb unlängst, die „biotechnische Revolution“ sei drauf und dran, Geschöpfe nach Mass zu fertigen; sie würden Menschen äusserlich ähneln, nicht aber „von der menschlichen Natur, wie wir sie kennen, bestimmt werden.“ Dieser „Mensch nach Mass“ ist teilweise schon Realität, obwohl das menschliche Genom noch nicht endgültig erforscht ist.

Schon jetzt nehmen sich Eltern das Recht, Kinder abzulehnen, wenn diese „nicht einem von ihnen bevorzugten Typus entsprechen“, wie David Schenk schreibt. Er schildert den Fall eines Ehepaares, bei dessen Embryo ein zusätzliches Chromosom festgestellt worden war. Dadurch bestand die Aussicht, dass das Kind zu einem besonders grossen und vielleicht auch aggressiven Mann heranwachsen würde, der sich vielleicht mit schwerer Akne herumplagen müsste. Die Eltern liessen das Kind abtreiben.

Gütesiegel auf ein gesundes Kind

Erschrocken schildert die französische Fachärztin für Vorgeburtsmedizin, Emine Çetin, was in ihrer Praxis vor sich geht. Elternpaare verhielten sich „wie Konsumenten, die sich mit einem Techniker über die Gefahren eines neuen Autos unterhalten“. Sie erwarteten von ihr ein „Gütesiegel auf ein gesundes Kind“. Aber früher oder später wird der von Fukuyama angekündigte „Mensch nach Mass“ kommen. Der Mensch wird künftig Zuchtvieh, sei’s zum Melken, sei’s zum Schlachten. Ähnliches hatten bereits die Nationalsozialisten im Sinn, als sie in ihren „Lebensborn“-Lagern reinrassige germanische Recken sich mit ebenso reinrassigen Maiden vereinigen liessen.

Habermas: Klonen ist unmoralisch

Sogar Jürgen Habermas, Vater der linken „Frankfurter Schule“ deutscher Philosphie der 50er und 60er Jahre, vertrat nun die Ansicht, dass mit dem Klonen eine moralische Grenze überschritten sei. Alle bisherigen Versuche, den Menschen künstlich zu „entwildern“ haben nur das Gegenteil bewirkt; auf dem Reissbrett entworfene Gesellschaftsordnungen wie der Nationalsozialismus und der Kommunismus liefern dafür anschaulichste Beweise.

Umso bemerkenswerter ist es, dass sich die evangelische Kirche zu zieren scheint, mit Wortgewalt an diesem Punkt in die Debatte einzugreifen. Denn dabei geht es schliesslich über eine nahe Zukunft, in der Über- und willenlose Untermenschen gezüchtet werden könnten, auch Wegwerfembryonen, die nur als Ersatzteillieferanten für reiche Zeitgenossen mit kranken Organen dienen sollen.

Wie nahe diese Zukunft ist, machte das kanadische Verteidigungsministerium im vorigen Jahr deutlich. Es gab bekannt, dass es niemals Soldaten genmedizinisch „massanfertigen“ lassen werde, denn dies wäre „ein Affront gegen die Menschenwürde“. Wohl aber werde es die Klontechnologie für die Therapie von Verwundeten fördern, im Klartext: eine Technologie „bei der Föten produziert, benutzt und dann vernichtet werden“, wie die in New York erscheinende Zeitschrift „First Things“ (Erste Dinge) anmerkte.

Gott schuf sich Mitschöpfer

Die Kirche geht rätselhaft zurückhaltend mit diesem Thema um. Gerade sie könnte auf eine biblisch begründete Schöpfungstheologie zurückgreifen, die des Menschen Rolle in Gottes Plan für die Welt klar umreisst. Am sechsten Tag, so lesen wir bei Luther, „triumphierte“ Gott; denn nun hatte er sein „allerschönstes Werk“ gebaut, seinen – und dies ist das Schlüsselwort – “Cooperator“, also Mitarbeiter männlichen oder weiblichen Geschlechts. Der lutherische Theologieprofessor Philip Hefner, Direktor des Zentrums für Religion und Naturwissenschaften in Chicago, hat diesen Gedanken des Reformators folgerichtig weitergesponnen. Er sagt, die Schöpfung sei schliesslich ein fortlaufender, somit habe sich Gott den Menschen als Mitschöpfer geschaffen.

So gesehen, ist es zunächst durchaus gottgewollt, wenn der Mensch in die Geheimnisse dieser Welt eindringt. Die „wunderschöne Ordnung“ des Universums hat zum Beispiel den prominenten britischen Naturwissenschaftlern John Polkinghorne und Arthur Peacocke den Anstoss dazu gegeben, Theologie zu studieren und anglikanische Priester zu werden. In der Tat ist „das Gerede über den Krieg zwischen der Naturwissenschaft und der Religion fast völlig verstummt“, schrieb unlängst Norman Podhoretz, einer der führenden jüdischen Denker Amerikas, in der Wirtschaftszeitung „The Wall Street Journal“. Er erinnerte daran, was der Astronom Robert Jastrow, ein Agnostiker, 1992 geschrieben hatte: „Für den Wissenschaftler, der tief in seinem Glauben an die Macht der Vernunft verankert war, endet die Geschichte wie ein schlechter Traum. Er hat die Berge des Ignoranz bezwungen, ist dabei, den höchsten Gipfel zu erklimmen, zieht sich am letzten Felsbrocken hoch – und wird von einer Bande von Theologen begrüsst, die dort schon seit Jahrhunderten sitzen.“

Das war eine Erkenntnis des 20. Jahrhunderts; damals waren die Physiker die Könige der Wissenschaft. Sie sind demütiger geworden, nachdem sie ihre Macht erkannt hatten, diese Erde zu zerstören. Luther hätte dazu gesagt: Wo Gott am Werke ist, da ist der Teufel nicht faul. Er bringt „seine Affen und Nachahmer ins Spiel“, um die Schöpfung rückgängig zu machen und den Urzustand wiederherzustellen, Chaos nämlich.

Die Biologie gilt heute als die letzte Bastion des Atheismus in den Naturwissenschaften. „Vielleicht“, sagt Professor Hefner in Chicago, „wird sie in 25 Jahren ihr zerstörerisches Potential erkennen.“ Auch die Genbiologie hat – aus der Sicht des Theologen – ihren Platz in Gottes Plan; sonst gäbe es sie nicht.

Bekommen Schweine Menschenrechte?

Noch grotesker ist das höchst realistische Schreckensszenarium, das ernsthafte Bioethiker sich ausmalen: Einerseits wird eine Sklavenspezies geschaffen, die bewusst so dumm gehalten wird, dass ihr kaum volle Menschenrechte eingeräumt werden können. Andererseits könnte es Schweine voller – dank Genmanipulation – „menschlicher“ Organe geben, die dann Kranken eingesetzt werden können. Die daraus resultierende Frage ist kein Witz, sondern wird unter US-Wissenschaftlern ernsthaft erörtert: An welchem Punkt wird das Schwein so menschlich, dass es Menschenrechte beanspruchen kann? Francis Fukuyama: „Wir treten in Gottes eigene Sphäre ein, und zwar mit allen unseren furchterregenden Fähigkeiten zum Guten und zum Bösen, die dieser Schritt mit sich bringt.“

Christen bleibt nichts anderes übrig, als sich der Reaktion des Juden Norman Podhoretz anzuschliessen. Er betont eine Aussage des US-Schriftstellers Mark Twain (1835-1910): „Die Berichte über Gottes Tod waren stark übertrieben.“ Podhoretz weiter: „Ich zittere mit Fukuyama. Aber ich kann es nicht glauben, dass die neuen Wissenschaftler mit ihrem Versuch, Gott zu ersetzen, mehr Erfolg haben werden als die alten Wissenschafter mit ihrem Vorhaben, ihn zu töten

Autor: Uwe Siemon-Netto

Datum: 29.08.2002
Quelle: idea Deutschland

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