Krankes Gesundheitswesen?

Spitzenmediziner beklagt fehlende ethische Grundlage

Die «Ökonomisierung der Medizin» hat laut dem früheren Chefarzt der Aarauer Hirslanden Klinik, Wolfgang Bertschmann, tiefgreifende Auswirkungen. So zum Beispiel für die Einschätzung der Menschenwürde.
Patient im Spital wird von Pfleger betreut (Bigstock: 58746527)
Wolfgang Bertschmann, ehemaliger Chefarzt der Aarauer Hirslanden Klinik.

Der Patient ist zum Konsumenten geworden. Wenn er zum Arzt kommt, kennt er schon die Diagnose und weiss auch, was der Arzt jetzt zu tun hat. Nicht alle, aber viele Patienten gehen zuerst ins Internet und machen sich kundig. Dann gehen sie zum Hausarzt und kaufen sich die entsprechende Behandlung ein. Wolfgang Bertschmann beschrieb an einer Veranstaltung der Aargauer Kommission «Marktplatz und Kirche» in Aarau zugespitzt einen Trend, der sich immer mehr durchsetzt.

Als Kunden werden die ehemaligen Patienten auch in den Spitälern gesehen, denen man die Betten verkauft und damit Umsatz generiert. Die Therapien unterliegen Qualitätslabels und ISO-Zertifizierungen. «Wenn wir aber medizinische Leistungen mit industriellen Prozessen gleichsetzen, verändert das die Medizin», so Bertschmann. Der Patient – und der Arzt – verlieren ihre Sonderstellung. Werte wie die Menschenwürde bekommen einen Preis.

Was darf's denn kosten?

Kritisch wird es dann, wenn die Behandlung sehr teuer wird. Bertschmann legte einen konkreten Fall auf den Tisch. Das Bundesgericht musste entscheiden, ob die Lebenserhaltung für einen Patienten 500'000 Franken pro Jahr kosten dürfe. Das Gericht sagte nein und setzte die Schmerzgrenze auf 100'000 Franken. Pech für den Kranken, dessen Medikamente jetzt schlicht zu teuer sind. Hoffentlich ist dies wenigstens ein Warnsignal an die Pharma-Industrie, die sich ihrer Milliarden-Gewinne rühmt.

Einige Verblüffung löste Bertschmann mit der Feststellung aus, dass dem Gesundheitswesen heute schlicht eine gesellschaftlich anerkannte ethische Basis fehle. Worauf soll ein Entscheid abstellen, ob eine Lebenserhaltung im hohen Alter noch finanziell tragbar ist? Eigentlich müsse es die Gesellschaft festlegen, nicht ein Gericht, ist Bertschmann überzeugt. Doch wer ist «die Gesellschaft»? Ist sie in ihren Überzeugungen und Lebenshaltungen nicht schon total fragmentiert? «Gut ist, was mir nützt» ist wohl der kleinste gemeinsame Nenner, wenn es um eine medizinische Behandlung geht.

Der Ruf nach der «heteronomen Moral»

Es gibt laut Bertschman keine «heteronome Moral» mehr, die auf einer religiösen oder kulturellen Quelle kommt. Es dominiert die «autonome Moral», zum Beispiel das Mitleid mit dem Kranken. Oder der Erhalt der Kundenbeziehung. Das verändert auch die Beziehung des Kranken zum Arzt. Dieser tendiert dazu, möglichst kein Risiko einzugehen und die Kundenwünsche zu erfüllen. «Die jungen Ärzte wollen die Verantwortung nicht mehr wahrnehmen», sagte am gleichen Abend die Aargauer Ständerätin Christine Egerszegi.

Laut Bertschmann muss für die Schaffung einer tragenden Ethik etwas Neues kommen oder etwas Altes aufgefrischt werden. Ist die aus den jüdisch-christlichen Quellen gespiesene Ethik in der postmodernen Gesellschaft endgültig verdampft? Entscheide der nationalen Ethikkommissionen stützen diese Vermutung. Die Kirchen wären jetzt gefragt wie noch nie. Aber zuerst muss wohl die Erkenntnis dämmern, dass die heutige Wohlstandsgesellschaft in einer Sackgasse aufläuft.

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Datum: 23.11.2015
Autor: Fritz Imhof
Quelle: Livenet

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