Wie tickt «das Volk»?

Demokratien in der Bewährungsprobe

Gefühle und Stimmungen beeinflussen viele Wähler und Stimmbürgerinnen mehr als Fakten, wie die Präsidentenwahl in den USA gezeigt hat. Auch Europa steht dieses Jahr vor herausfordernden Wahlen. Überlegungen dazu vom Psychologen und Theologen Dieter Bösser.
Washington DC, im Hintergrund ist das Weisse Haus zu sehen.
Dieter Bösser

Sowohl bei der Brexit-Abstimmung im Juni als auch bei der Wahl des amerikanischen Präsidenten stand plötzlich ein Ergebnis fest, das kaum jemand vorhergesehen hatte.

Viele rieben sich verwundert die Augen und suchten nach Erklärungen. So meinte ein Kommentator, dass die Meinungsforscher im Vorfeld der Präsidentenwahl zu sehr den Kandidaten Trump bewertet und der Psyche des Volkes zu wenig Beachtung geschenkt hätten.

Hochkonjunktur für Falschmeldungen

Dazu passt, dass im November 2016 «postfaktisch» zum internationalen Wort des Jahres gewählt wurde. «Das Adjektiv beschreibe Umstände, in denen die öffentliche Meinung weniger durch objektive Tatsachen als durch das Hervorrufen von Gefühlen und persönlichen Überzeugungen beeinflusst werde …, heisst es in einem Auszug aus dem Wörterbuch «Oxford Dictionaries». Hervorgerufene Gefühle beeinflussen die öffentliche Meinung stärker als objektive Tatsachen. Dieser Befund wirft sensible Fragen auf, zumal in verschiedenen Ländern Europas in diesem Jahr nationale Wahlen stattfinden werden: in Frankreich, Norwegen, Griechenland, Deutschland etc.

Manche bezeichnen Social Media als Schlaraffenland für Falschmeldungen. Gegen einen Shit-Storm, der innerhalb von 24 Stunden entsteht, kann man sich kaum noch wehren. Hier werden immer wieder Emotionen erzeugt und zur Eskalation gebracht, oft losgelöst von Fakten. Gemäss dem Jahrbuch «Qualität der Medien 2016» nutzen 22% der 18- bis 24-Jährigen Social Media als primäre Informationsquelle. Dieser Anteil dürfte in Zukunft noch zunehmen.

Emotionen und Stimmungen

In der Psychologie unterscheidet man Emotionen von Stimmungen. Eine irgendwie geartete Stimmung hat man immer. Emotionen treten aber nur in bestimmten Situationen auf, oft ausgelöst durch Impulse von aussen. Sie sind viel intensiver als Stimmungen und beeinflussen das Handeln wesentlich stärker. Das gilt insbesondere für Ängste und Emotionen, die im weitesten Sinne mit Rache zu tun haben. Das Bedürfnis nach Rache entwickelt sich, wenn jemand unter dem Eindruck steht, ungerecht oder verächtlich behandelt worden zu sein. Solche Emotionen lassen sich insbesondere in Zeiten des Wahlkampfes gezielt bewirtschaften und für eigene politische Interessen nutzbar machen. Müssen wir uns daran gewöhnen, dass Wahlen und Abstimmungen immer weniger aufgrund von Fakten entschieden werden? Was nützt es, wenn Intellektuelle aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen Analysen diskutieren und Prognosen abgeben und das Volk am Wahltag dann doch anders entscheidet?

Bedürfnisse

Neben Emotionen spielt die Kategorie der Bedürfnisse eine wichtige Rolle im Blick auf menschliches Verhalten. Sicherheit ist ein grundlegendes Bedürfnis. Die Globalisierung und eine zunehmend multikulturelle Gesellschaft erzeugen bei einem nicht zu unterschätzenden Teil der Bevölkerung Verunsicherung. «Die Bürger sind auf der Suche nach neuen Rezepten, Politikern und Parteien, die ihnen wieder Sicherheit und Vertrauen vermitteln», schrieb Peter Rasonyi in der NZZ vom 11.11.2016. Das wird die Wahlkämpfe der nächsten Monate spürbar beeinflussen. Wem gelingt es, den Menschen glaubhaft Sicherheit zu versprechen?

Was Europa zu verlieren hat

Europa hat viel zu verlieren. Neben dem Wohlstand zählen hierzu nach Jürgen Habermas die Freiheit des Individuums, solidarisches Zusammenleben, autonome Lebensführung, Emanzipation, individuelle Gewissensmoral, Menschenrechte und Demokratie. Freiheitlich-demokratische Politiker tun gut daran, die Psychologie des Individuums und auch die von Gruppen bzw. von Massen zu respektieren und verantwortungsvoll damit umzugehen. Dass Emotionen und Bedürfnisse eine immer stärkere Rolle bei Wahlen und Abstimmungen spielen, mag man bedauern. Diese Realität zu ignorieren, wäre fatal.

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Datum: 16.01.2017
Autor: Dieter Bösser
Quelle: Livenet/ Magazin INSIST

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