Kritik in unserm Alltag

screaming

Wenn andere kritisiert werden, dann ist das etwas anderes: Dann sind wir gerne und munter dabei! Scharf kritische Sendungen wie "Das literarische Quartett" und "Der heisse Stuhl" mussten um Einschaltquoten nicht bangen. Und in der Presselandschaft fördert wenig anderes so sehr das Geschäft wie Klatsch und Tratsch. "Enthüllungen" verkaufen sich immer blendend. Warum eigentlich?

Seltsam, wie völlig gegensätzlich wir Kritik bewerten, je nachdem, auf welcher Seite wir stehen. Kritik scheint positiv zu sein - sofern sie nicht gerade uns betrifft. Wir schlagen uns gerne auf die Seite der Kritiker. Wenn an anderen Kritik geübt wird, tut uns das gut. Warum dieses befriedigte Aufatmen, wenn der andere "sein Fett abbekommt"? Warum sich beteiligen an kritischen Gerüchten, und am besten noch eins draufsetzen? "Jawohl, wir haben es doch schon immer geahnt, dass der oder die ..."

Zweischneidige Angelegenheit

Irgend etwas in uns scheint es zu mögen, wenn der andere nicht so gut dasteht, wenn ein kritisches Licht auf ihn fällt. Das befriedigt uns, baut uns auf. Das Schöne an dieser Art von Kritik ist, dass wir selber dabei immer gut wegkommen und dass wir damit erst noch der Wahrheit dienen! So ist die Welt in Ordnung - das heisst: die Welt der Kritisierten nicht, aber unsere. Angriff ist eben doch die beste Verteidigung!

Nur allzu verständlich, dass wir selbst nicht kritisiert werden wollen. Wir würden das als unanständig empfinden und entrüstet zurückweisen. Wer hat denn das Recht, sich in unser Leben einzumischen? Der andere soll doch bitte vor seiner eigenen Tür kehren! Das dürfen wir uns nicht gefallen lassen, dass jemandem an uns etwas nicht gefällt. Wir fühlen uns verletzt, verunsichert, am Boden zerstört. Wenn jemand uns kritisiert, dann fühlen wir uns missverstanden, nicht angenommen, übel behandelt, mit bösen Unterstellungen traktiert. Und ganz schnell ist der Gedanke zur Stelle, dass wir in den Augen der anderen - und dann auch in unseren eigenen Augen - nichts mehr wert sind. Kritik - eine offenbar zweischneidige Angelegenheit! Das ist das Echo einer Kultur, in der sich moralistisches Pathos mit weinerlicher Wehleidigkeit verbindet. Im Kampf aller gegen alle ist man schnell "abgesägt", das teure Image leidet. Wo das Prinzip Misstrauen regiert, da erzeugt Kritik Angst und Hass. Wo Kritik als Waffe im täglichen Überlebenskampf eingesetzt wird, da werden Unrechtsstrukturen verfestigt. Die Dreistesten schwingen obenauf, und die Schwachen bleiben auf der Strecke. Kritik als Mittel der Selbstverteidigung lässt Gemeinschaft sterben.

Kritik der Selbstgerechtigkeit

Weil Jesus die Menschen in ihrem Hang zu Einseitigkeit und Masslosigkeit kennt, warnt er davor, dass einer des andern persönlicher Ankläger und Richter wird; Matthäus 7,1-5. Kritik, die den andern einfach verurteilt, wird ihm gerade nicht gerecht und verändert nichts zum Guten; ja, sie wird nach Jesu Worten auf den Kritiker selbst zurückfallen, und zwar in voller Schärfe.

Jesus entlarvt jede Kritik als unrecht, die

- den Kritisierten auf seine Fehler festlegt und damit unfrei macht,

- die Wertschätzung des andern vermissen lässt,

- den Kritiker über den andern erhebt,

- den Kritiker als Massstab der Kritik erscheinen lässt,

- nicht aus der Selbstkritik des Kritikers kommt und

- dem andern keine erneuernde Kraft zugänglich macht.

Auch die Briefe des Apostels Paulus an die Korinther spiegeln das Milieu einer Gemeinde, in der zwar pausenlos kritisiert und verurteilt wird, wo aber das Rechte nicht geschieht. Wer sich über andere erhebt, auftrumpft und auf sein eigenes Rechtsein und Rechthaben pocht, lebt unrein, lebt nicht in der Wahrheit. Der verrät die aufbauende Liebe und verhindert Leben und Gemeinschaft; 1. Korinther 8,1;13.

Jesus und seine Apostel gehen unnachsichtig ins Gericht mit jeder Form von Überheblichkeit, Scheinheiligkeit, Heuchelei und damit einhergehender Verächtlichkeit gegen andere. Abschätziges Urteilen ist destruktiv, ist Sünde. Lieblosigkeit zerstört.

Ja und Amen zu allem?

Sollen wir also alles gelten und einfach laufen lassen? Ist Kritik generell unerlaubt, negativ, schädlich?

Nein! In der Heiligen Schrift wird nicht zu allem Ja und Amen gesagt, und das Christentum hat mit netter Harmlosigkeit ebenso wenig zu tun wie mit Rückzug in eine unangefochtene Privatheit. Wenn Gott heilig ist und christliches Leben "aus der Wahrheit" kommt (1.Johannes 3,19), dann geht der Gang der menschlichen Dinge nicht ohne Kritik ab.

Die Propheten des Alten Testaments sind ausserordentlich scharfe Kritiker ihres Volkes. Johannes der Täufer und Jesus treten mit entlarvenden Worten in Erscheinung. Die Predigten der Apostel treffen die Menschen ins Gewissen, und noch im letzten Buch des Neuen Testaments wird mit Kritik am Leben und Zustand namentlich genannter Gemeinden nicht gespart (Offenbarung 2-3).

Paulus erscheint wahrhaftig nicht defensiv, wenn er an die Korinther schreibt: "Mit unseren Waffen zerstören wir Bastionen und alle hochmütigen Vorwände, die sich gegen die Erkenntnis Gottes erheben. Wir behaften jeden Gedanken auf den Gehorsam Christi" (2. Korinther 10,4-5),

Der Massstab der Kritik

Was soll diese offenbar entschiedene Kritik, diese Einmischung in das Leben anderer? - Sie soll Erkenntnis Gottes und des Menschen, Besinnung und Änderung, Lösung vom Falschen und Heilung bewirken. Dabei ist der entscheidende Unterschied zur destruktiven Kritik, dass bei den Propheten und den Nachfolgern Jesu der Massstab eindeutig das Wort Gottes und ihre Haltung ebenso klar der Wille zur Gemeinschaft mit den Kritisierten ist. Der einzig gültige Massstab aller Beurteilung menschlicher Zustände und Verhaltensweisen ist das Wort Gottes. Es ist nach Hebräer 4,12 die wahre höchst lebendige, wirksame, scharf einschneidende und unterscheidende kritische Instanz. Hier steht im griechischen Text der Bibel das Wort "kritikos". Das Wort Gottes "beurteilt" und "sichtet" (so die ursprüngliche Bedeutung des Wortes "Kritik") "die Gedanken und Motive des Herzens". Aber dies geschieht nun nicht dazu, um den Menschen bei dem entdeckten Falschen und Eigenwilligen zu behaften, sondern um ihn gerade davon zu lösen. Die Kritik, die vom Evangelium her in unser persönliches und gemeinschaftliches Leben kommt, ist zwar auch unangenehm und schmerzlich, zugleich aber heilsam. Denn sie zeigt uns mit der Verurteilung unseres verkehrten Handelns immer zugleich den Ausweg; und dieser besteht nicht in rechtfertigender Argumentation und ängstlicher Selbstverbarrikadierung, sondern in der Möglichkeit zur Änderung, zu einem befreiten Neuanfang unter der barmherzigen Vergebung Gottes.

Selbstkritik und freundschaftliche Kritik

Kritik, die aus dem Wissen um die Heiligkeit Gottes und der Lebenshingabe Jesu für uns entspringt, wird darum zuerst stets Selbstkritik sein: "Wenn wir uns selbst richteten, dann würden wir nicht gerichtet"; 1. Korinther 11,31. Wer sich selbst aber nach Jesus richtet, wird anderen eine Freundschaft geben, die zu vorsichtiger, klarer und helfender Kritik fähig ist. Was das konkret heisst? Jemand schrieb einmal:

"Was ich zutiefst suche, das ist ein brüderlicher Freund,

- der mich durch und durch kennt und der doch noch an meine hohe Berufung glaubt,

- dem ich zu keinem Zeitpunkt einen guten Eindruck schinden muss und den ich niemals täuschen kann,

- der beständig ist: der nicht am Sonntag Blutsbruderschaft schliesst und mir bereits am Montag leere, kalte Fischaugen zeigt,

- mit dem ich bereits in der ersten Minute von der Hauptsache reden kann,

- der, wenn er mich lobt, es wirklich aus Freude tut und mir nicht bloss "Zuckerbrot" zum Anreiz gibt,

- der mich nur darum fertigmacht, weil er noch an meine Berufung glaubt,

- den meine Sünden brennen, weil er für Christus brennt,

- dessen Motiven ich trauen darf,

- der mir sagt, was er wirklich denkt, und der auch in Augenblicken der Kritik seine Karten offen auf den Tisch legt,

- der keinerlei Diplomatie übt; der mir weder schmeichelt noch mich zwingt,

- der sich die Mühe macht, darüber nachzudenken, an welcher Stelle und wie ich noch mehr geben könnte,

- der Freude hat an der Gemeinschaft mit mir und mich nicht nur deshalb erträgt, damit die schöne Theorie stimmt,

- der mich nicht allzu ernst nimmt,

- der mir schreibt, wenn ich fort bin, und der zu jeder Zeit für mich betet."
(Alan Thornhill)

Auf solche kritische, den andern fördernde und aufbauende Freundschaft können wir im persönlichen Leben wie in der Gemeinde Jesu nicht verzichten, wenn wir wirklich leben und anderen nützlich sein wollen.

Ein Mensch, der mich gefördert hat

Ich denke an einen Schreinermeister in Riehen, bei dem ich als junger Mitarbeiter in der Jugendarbeit oft zum Nachtessen eingeladen war. Zu jener Zeit - ich war damals 18 Jahre alt - hatte ich ziemliche Probleme mit Zigaretten. Jener Schreinermeister, der zu mir wie ein väterlicher Freund war, sagte über ein halbes Jahr lang nichts zu meiner schlechten Angewohnheit. Eines Abends dann, nach einem feudalen Abendessen, blickte er mich beim Abschied an und sagte nachdenklich den Satz: "Weisst Du, Reinhard, es gibt zwei Sorten von Menschen: solche, die rauchen, und solche, die brennen." Das war alles. Von diesem Abend an war ich frei von der Sucht.

Datum: 27.03.2002
Autor: Reinhard Frische
Quelle: Chrischona Magazin

Verwandte News
Werbung
Werbung
Livenet Service