Zuhause kann die Hölle sein ...

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"Zuhause - das klingt für viele so friedlich. Für mich ist Zuhause die Hölle", sagte die 19-Jährige, die mir auf dem unbequemen Stuhl gegenüber saß. Nach einem Seminar hatte sie mich gefragt, ob ich Zeit für ein Gespräch hätte.
"Zuhause -- das ist der Ort, an dem mein Onkel mich sexuell missbraucht hat, an dem ich trotzdem immer zu allen nett sein sollte. Zuhause - das ist die Gemeinde, die all das bedeckt hält und wo niemand nachfragt. Zuhause ist der Ort, der mich erdrückt."

Tatsächlich gibt es wohl kaum einen Begriff, der unterschiedlichere Gefühle weckt als "Zuhause". Einige haben ein uneingeschränkt positives Bild. Sie lieben ihr Zuhause, können kaum erwarten zurückzukommen und fühlen sich dort pudelwohl. Bei anderen halten sich positive und negative Erfahrungen in etwa die Waage. Sie sind nicht total begeistert, können es zu Hause aber ganz gut aushalten. Für manche jedoch ist "Zuhause" der Ort, an den sie nie zurückkehren wollen. Zum Beispiel für Jenny, die Freundin der Hauptperson im Film "Forrest Gump". Als Jenny die Holzhütte sieht, in der sie aufgewachsen ist, tickt sie aus und schleudert einen Stein in Richtung der Hütte. Der Filmbetrachter weiß, was in diesem Moment in ihr hoch kommt: ihre eigene Zuhause-Geschichte mit Ungerechtigkeit und sexuellem Missbrauch und die späte, deprimierende Einsicht, dass dieses Zuhause ihr Leben zerstört hat. Nicht nur bei Jenny stimmt es: Zuhause kann die Hölle sein.

Nicht immer romantisch

Auch unter denen, die sich längst von ihrer Familie gelöst haben und ein eigenes Zuhause eingerichtet haben, ist wird "Zuhause" sehr unterschiedlich bewertet. Ja - manche freuen sich wirklich auf ihre eigenen vier Wände, auf eine gemütliche Tasse Tee bei schöner Musik und einem guten Buch. Viele mögen es, alleine zu sein und den Tagesablauf unabhängig von Wünschen anderer gestalten zu können.
Aber bei vielen ist diese romantische Vorstellung einer weit weniger idyllischen Realität gewichen: "Mir fällt immer hier immer die Decke auf den Kopf!" ist oft eine flapsige Umschreibung für: "Ich bin einsam!" "Ich fühle mich hier nicht wohl!" "Ich würde viel lieber in einer anderen Umgebung und unter anderen Umständen leben."

Konsequenzen ziehen

Was aber tun mit der Feststellung, dass der Begriff "Zuhause" eher negative Emotionen auslöst? Dieser Frage gehen die nächsten Absätze nach. Dabei kann dieser Artikel nur ein erster Anstoß für Veränderungen sein. Der Anfang einer Auseinandersetzung mit Zuhause aber ist: Stell dich den Realitäten und sei vor dir selbst ehrlich, wie es dir geht. Nur wer die Tatsachen kennt, kann an seinen Lebensumständen etwas ändern. Vielleicht berührt einer der folgenden sechs Sätze deine Lebenswirklichkeit (die ersten drei beziehen sich eher auf Menschen, die noch bei ihren Eltern wohnen, die letzten drei wohl mehr auf Leute, die schon ausgezogen sind). Wenn eines der Statements dich trifft, liegt es an dir, an deiner Situation etwas zu ändern und im Gespräch mit Gott zu überlegen, was der erste Schritt sein könnte.

"Ich fühle mich erdrückt!"

Oft ist es der erste Schritt, diesen Zustand für sich selbst einmal zu formulieren. Schreib einmal auf, welche Situationen du als einengend empfindest. Was kannst du an ihnen verändern? Vielleicht reicht es, wenn du Beziehungen klärst oder deinen Tagesablauf so veränderst, dass dir mehr Freiräume entstehen. Vielleicht aber auch nicht: Dann solltest du ausziehen oder vielleicht sogar in eine andere Stadt ziehen.

"Ich hasse mein Zuhause!"

Wenn du bei dir einen tiefen Hass auf deine Eltern oder deine Geschwister entdeckst, wird es unumgänglich sein, dieses Gefühl zu benennen, konkrete Situationen zu beschreiben und zu versuchen mit Gottes Hilfe den Hass zu überwinden. Dazu wird in der Regel aber professionelle Hilfe außerhalb der Familie nötig sein, die den Ursachen und den Auslösern auf die Spur kommt. Ob eher Seelsorge oder besser eine Familientherapie für dich und euch richtig ist, lässt sich nur im Einzelfall entscheiden. Hilfreich ist es dabei, wenn alle Beteiligten sich am Aufarbeitungsprozess beteiligen. Aber auch, wenn deine Eltern oder Geschwister nicht mitmachen, ist es für dich wichtig, hier aktiv zu werden: Schließlich macht der Hass zuerst dein Leben kaputt!

"Ich fühle mich nicht ernst genommen!"

Erkläre deiner Umgebung die Veränderungen, die du vollzogen hast. Auch wenn es dir vielleicht unangenehm ist: erkläre deinen Eltern, deinen Geschwistern, deinen Freunden, dass du nicht mehr die bist, die sie sich immer noch vorstellen. Dass du nicht mehr der bist, der du vor fünf Jahren noch warst. Ein Beispiel: Wer in der Familie immer "der Kleine", das Nesthäkchen, war, bleibt es oft, auch wenn er längst erwachsen ist und eine Ausbildung oder das Studium abgeschlossen hat. Hier braucht es oft viel Geduld und manchmal auch ein wenig Penetranz, bis alle kapieren, dass man nicht mehr die kleine "Susi" ist, die keiner so richtig ernst nimmt und die in allen Lebenslagen die Hilfe ihrer Familie braucht.

"Ich bin einsam!"

Wenn du alleine lebst und dich unwohl und einsam fühlst, dann denke über Alternativen nach: Vielleicht ist eine Option, in eine Wohngemeinschaft zu ziehen oder eine zu gründen. Natürlich bedeutet das am Anfang einen erheblichen organisatorischen Aufwand, eine Menge an Absprachen und ein gewisses Risiko. Aber die meisten, die mal in einer WG gewohnt haben, finden es im Nachhinein eine gute Zeit.
Oder such dir ein Zimmer in einem Studentenwohnheim. Dort gibt es weit mehr als nur Zweckgemeinschaften. Für mich waren Freunde in meinem Studentenwohnheim während meiner Studentenzeit sehr wichtige Bezugspunkte und ein Stück "Zuhause" (mit täglichen Kaffeetrinken im 2. Stock eines Schwabinger Studentenwohnheims und vielen Feiern bis tief in die Nächte ...)

"Mir gefällt es bei mir nicht!"

Es ist erstaunlich, was man aus 13 Quadratmetern Studentenbude oder einem kleinen Appartement machen kann. Es gibt unzählige Handwerker- oder Dekotipps (siehe dazu Seite 30ff). Oder kauf dir einfach mal ein paar Möbel, die dir richtig gefallen, anstatt immer nur die ausrangierten von Oma aufzustellen. Und manchmal hilft es auch schon ,das Chaos etwas zu lichten und einfach mal richtig aufzuräumen ...
Übrigens: Es gibt Leute, die haben Talent dafür, aus nichts was Tolles zu machen. Sprich sie doch einfach mal an. Vieles, was du vielleicht als schwierig empfindest (basteln, aufstellen, zusammenbauen, bohren etc.), ist für sie die unterhaltsamste Tätigkeit der Welt.

"Ich will endlich an einem Ort zu Hause sein!"

Vielleicht bist du durch deinen Beruf oder dein Studium gezwungen, oft den Wohnort zu wechseln. Auch wenn viele davon schwärmen, an möglichst vielen Orten studiert oder gelebt zu haben : Nicht für alle ist das der angesagte Lebensstil. Für manche lohnt es sich, auf eine attraktive Uni oder eine neue berufliche Herausforderung zu verzichten, um an einem Ort ein Zuhause-Gefühl entwickeln zu können. Das aber braucht Zeit. Wer alle ein, zwei Jahre den Wohnort wechselt, wird es in der Regel schwer haben ein echtes neues Zuhause zu finden.

Zuhause bei Gott" heißt eine sehr persönliche CD des Nürnberger Sängers und Pianisten ProJoe. Er hat es erlebt und besingt, wie unsagbar wohltuend es ist, von Gott angenommen zu sein. Und tatsächlich ist dieses Zuhause sein bei Gott eine Lebensgrundlage, die es oft leichter macht, auch in dieser Welt eine Heimat zu finden (siehe dazu auch Mickey Wieses Artikel ...).
Aber "Zuhause" hat auch eine ganz menschliche Dimension. Jeder wünscht sich - allein oder mit anderen - eine Heimat, einen Ort zum Wohlfühlen, zum Relaxen und Auftanken. Das Schwerste an dem Weg dahin ist manchmal der erste Schritt.

Autor: Martin Gundlach
Quelle: Dran

Datum: 19.08.2002

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