Orientierungsunsicherheit

Felix Ruther

Vieles, was früher selbstverständlich gegeben war, ist heute in Frage gestellt.
Deshalb leiden einzelne Menschen und Teile der Gesellschaft unter zunehmender Orientierungsunsicherheit.

Man kann die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für unsere Identitätsfindung ganz verschieden wahrnehmen. Der portugiesische Dichter Fernando Pessoa klagte schon vor über 60 Jahren in seinem "Buch der Unruhe", dass "die Welt, in die wir hineingeboren wurden, uns keinerlei Sicherheit in religiöser Hinsicht, keinerlei Halt in moralischer Hinsicht und keinerlei Ruhe in politischer Hinsicht bieten" könne. "Wir wurden in metaphysische Angst, in moralische Angst, in politische Unruhe hineingeboren."

In diesem Beitrag möchte ich das Themen Identität und Identitätsfindung soziologisch beleuchten und die gegenwärtig herrschende Orientierungsunsicherheit und die damit verbundenen Kompensationshandlungen aus verschiededenen Blickwinkeln zu beschreiben versuchen.

Leistungsorientierung

Weil im modernen Weltbild weder die Herkunft noch die Zukunft des Menschen bekannt sind, definiert sich der Mensch vornehmlich als handelndes Subjekt. Er ist Täter und damit der Herr seiner selbst. Aufgrund der eigenen Taten definiert er seine unbestimmte Herkunft und Zukunft. So wird auch die Frage nach der Identität des Menschen zur Frage nach dessen Handeln, Herstellen und Leisten. Dementsprechend konzentriert sich der heutige Mensch in seinem alltäglichen Leben mehr auf den Zweck als auf den Sinn seines Handelns, er ist auf Sachlichkeit, Nutzen und Gewinn aus. Die Identität wird also an einem bestimmten Zweck festgemacht, d.h. der Sinn des Lebens hängt von den eigenen Leistungen ab. Wer damit zu keiner Leistung mehr ist, verliert schnell einmal seinen Lebenssinn. Wer also noch auf seiner Identitätssuche ist, bei dem führt dieser Druck zu einem unsicheren Selbstwertgefühl. Er schwankt zwischen Leistungsbesessenheit und Leistungsverweigerung.

Die Gegenwart wird kürzer

Unsere Zivilisation verändert sich mit unglaublicher Geschwindigkeit. Die technologische Innovation führt dazu, dass ständig neue Errungenschaften eingeführt werden und heute noch Funktionstüchtiges eigentlich schon wieder veraltet ist. So wird heute ein Computer nicht mehr deshalb ausgemustert, weil er seinen Dienst nicht mehr tut, sondern weil ein neues Modell auf dem Markt ist. Diese Entwicklungsgeschwindigkeit lässt sich aber auch in anderen zivilisatorischen Bereichen feststellen. Man muss nur einmal ein Kunstlexikon durchblättern, um feststellen zu können, dass sich in der jüngsten Vergangenheit die verschiedenen Kunststile immer rascher ablösen. Mit der Innovationsgeschwindigkeit erhöht sich aber nicht nur die Geschwindigkeit der Alterungsvorgänge in der Technologie. Auch die Gültigkeitsdauer von biochemischen Forschungsarbeiten hat sich in den letzten Jahren ständig verkürzt und steht heute im Durchschnitt bei zwei bis drei Jahren. Die zunehmende Menge von neuen Errungenschaften macht es zunehmend schwieriger, die Zukunft zu prognostizieren. Das führt dazu, dass die Gegenwart, an der man sich orientieren kann und die enorm wichtig für die eigene Identitätsfindung ist, immer kürzer wird, also schrumpft.

Auf diese Gegenwartsschrumpfung reagiert die Gesellschaft durch eine zunehmende "Musealisierung", wie das der Zürcher Philosopieprofessor Hermann Lübbe ausdrückt. Alles wird aufbewahrt oder unter Schutz gestellt. Die Museumsdichte der Schweiz ist weltweit am höchsten. Der Drang, Kultur zu konservieren, kommt vor allem daher, dass man angesichts der ungesicherten Orientierung in der schrumpfenden Gegenwart die Identität sichern will.

Auch das Individuum reagiert auf dieses Orientierungsproblem. Hier wird die Identitätssicherung meist aber im Rückzug gesucht. So orten Soziologen immer mehr Rückzugstendenzen: Rückzug in die Sucht, in den Rausch und in den Konsum; Rückzug auf die überschaubare Privatsphäre, die persönliche Bezugsgruppe oder die Malediven; Rückzug vom öffentlichen Leben in den selbstgebastelten Kokon.

Individualisierung und Pluralisierung

Als zutiefst soziale Wesen brauchen Menschen für die Entwicklung ihrer Wertvorstellungen und Identitätsfindung andere Menschen, die ihnen einen bestimmten Glauben oder Werte weitergeben. Um leben und sich finden zu können, brauchen sie einen sozialen Rückhalt oder anders ausgedrückt: eine institutionelle Ordnung. Diese gibt Denk- und Handlungsmuster vor, die in einer bestimmten Gruppe von allen geteilt werden. Ohne institutionellen Halt wäre jedes menschliche Zusammentreffen ein unberechenbares Ereignis. Positiv formuliert ermöglicht die Institution dem einzelnen, die Absichten der anderen zu verstehen und auch eine gemeinsame Basis für Vorhaben aller Art zu finden. Ist die Institution stark, so nimmt sie den Individuen die Last allzu vieler Entscheidungen ab und erlaubt ihnen, ohne ständige Selbstzweifel oder Unsicherheit zu agieren. Schwache Institutionen beeinflussen zwar das Verhalten auch, tun dies aber viel weniger nachdrücklich. So tauchen vermehrt Fragen auf, die einzelnen werden ver unsichert.

In der heutigen Kultur werden einige Institutionen ständig stärker: zum Beispiel die multinationalen Wirtschafts- und Staatsgefüge, von Coca-Cola bis zur EU. Gleichzeitig werden diejenigen Institutionen schwächer, die das Privatleben der Menschen regeln und die weitgehend für die Wertorientierung zuständig sind. Somit findet sich das Wissen um Werte, jenes Wissen also, das zur Findung der Identität nötig wäre, zunehmend nur noch in immer schwächer werdenden Institutionen. Diesen Vorgang umschreibt der Trendforscher Horx in seinem Trendbuch 2 mit den folgenden Worten: "Aus Wir wird Ich; wo Institution (Familie, Staat, Moralsystem, Religion) war, soll Ich werden." Menschen ohne festen Halt durch eine sinnstiftende Institution sind gezwungen, selber darüber nachzudenken und zu entscheiden, wie sie die verschiedenen Lebensbereiche (Familie, Bildung, Erziehung, Normen, Religion) organisieren wollen. Das bürdet dem einzelnen bei seiner Identitätssuche viele Entscheidungen auf.

Um diese unangenehme Situation zu beheben, verlangt jede Enttraditionalisierung neue organisatorische Regeln, welche das entstandene Vakuum kompensieren. Je weniger starke Institutionen mit selbstverständlichen Annahmen vorhanden sind, desto mehr entstehen Ersatzwelten zweiter Ordnung, schwache Institutionen oder Sekundärinstitutionen: gesetztes Recht, vorgeschriebene Prozeduren, Reglemente, vorübergehende Interessengruppen. Die Familie oder Sippe war in der Menschheitsgeschichte über Jahrhunderte hinweg die stärkste Institution; sie gab die Muster der Kindererziehung verbindlich vor. Von Geburt an wusste man, was zu tun war - ob das "an sich" gut für das Kind war oder nicht. Es gab kaum Unsicherheiten. Heute ist das ganz anders: Ein Kind wird geboren. Kaum jemand weiss, was nun zu tun ist. Die verschiedenen Sekundärinstitutionen greifen helfend ein. Da gibt es Gruppen, die das Stillen nach Zeitplan propagieren. Andere sind dagegen und postulieren Stillen nach Bedarf. Es bleibt den Eltern überlassen, welchen Weg sie wählen wollen. Dies setzt sich durch die ganze Erziehung fort: Immer wieder müssen sich die Eltern für die eine oder andere Richtung entscheiden.

Solange der Mensch nur ein einziges kohärentes System kultureller Normen vor sich hatte, trugen diese Normen Unvermeidlichkeitscharakter: die Welt war, wie sie war. Der Mensch lebte in einer für ihn selbstverständlichen Umgebung, die nur wenige Wahlmöglichkeiten offenliess. Heute bieten verschiedene Gruppen oder gar Kulturen Möglichkeiten an, die Gesellschaft hat pluralistische Züge angenommen. Die positive Seite der grösseren Zahl von Wahlmöglichkeiten ist die grosse Freiheit, die man bei der Gestaltung des Lebens gewonnen hat. Der Preis ist aber eine Relativierung der eigenen Position, eine grössere Unsicherheit bei der Identitätsfindung und Ungewissheit in der Lebensführung. Die pluralistisch aufgebaute Gesellschaft droht zu "versekten", also in immer kleinere Gruppen zu zerfallen, welche sich nicht mehr berühren und deren Mitglieder sich immer weniger verstehen.

Erlebnis- und Innenorientierung

Was all die oben erwähnten schwachen Sekundär-Institutionen von ihren starken Vorläufern unterscheidet, ist ihre riesige Anzahl. Es gibt einen Markt, auf dem sie sogar miteinaner konkurrieren. Die Vielfalt der Angebote relativiert wiederum den Stellenwert jedes einzelnen Angebotes. Das zwingt zur Wahl nach subjektiven Massstäben. Denn wer oder was sonst soll mich leiten bei all den unendlichen Wahlmöglichkeiten des täglichen Lebens? Der Zwang zur Wahl nach eigenen Kriterien bedeutet aber, dass die Selbsterfahrung immer wichtiger wird gegenüber der Erfahrung der realen, objektiven sozialen Umwelt. Damit verliert die Aussenwelt an Gewicht bei der Identitäts- und Sinnfindung. Wenn die Aussenwelt bei all den fälligen Entscheidungen keinen Halt und wenig Orientierungshilfe bietet, dann kann man sich nur noch nach innen wenden und das eigene Erleben zur Grundlage der Werte- und Ichfindung erheben. Galt früher die Aussenorientierung des Ich, so ist es heute die Innenorientierung. Das ist eine kopernikanische Wende in der Handlungsorientierung.

Die Innenorientierung, die das eigene Erlebnis zum wichtigsten Wert erhebt, birgt als Schatten stets die Möglichkeit der Enttäuschung oder des Abhängigwerdens in sich. Die äussere Realität ruft oft schmerzlich in Erinnerung, dass Erlebnisorientierung als Koordinatensystem für die Lebensgestaltung nur schlecht taugt. Erlebnisziele sind risikoreich, weil Erlebnisorientierung kein objektives Ziel ist. Statt sich Befriedigung zu verschaffen, vergrössern Erlebnissüchtige ihren Hunger, je mehr er zu ihrem einzigen Ziel wird und je mehr sie ihn zu stillen versuchen. Wie Medikamentenabhängige an ihren Stoff gewöhnen sich die Erlebniskonsumenten an ihre tägliche Ration psychophysischer Stimulation. Man wird unter Umständen von ihr abhängig, weil immer wieder neue Erlebnisse gesucht, aber keine Ziele erreicht werden. Mit Recht bemerkt der Soziologe Peter Gross: "Die moderne Schlaflosigkeit rührt aus der Angst, etwas zu verpassen."

Flucht in die Ismen

Der mit all diesen Wahlmöglichkeiten "gesegnete" Mensch geniesst ganz ohne Zweifel ein grosses Mass an Freiheit; umgekehrt verliert er aber auch seine alte Sicherheit. Überzeugungen und Werte, die vormals zu den Grundgewissheiten gehörten, werden nun als sehr viel unbeständigere Meinungen angesehen. Die bislang als selbstverständlich genommene Weltsicht wird aufgebrochen. Zunächst tut sich vielleicht nur ein winziger Spalt auf, durch den der Schimmer eines Zweifels eindringen kann. Diese kleine Öffnung des Weltbildes kann aber bald zu einem Relativismus aufklaffen, Überzeugungen und Werte gelten dann nur noch vorläufig. Es gibt kaum noch Gewissheit, Orientierungslosigkeit herrscht.

Diese Situation ist - vorsichtig ausgedrückt - unbehaglich, denn, um die eigene Identität sichern zu können, brauchen wir zumindest ein paar feste Überzeugungen, Gewissheiten und Werte, die mehr oder weniger für selbstverständlich genommen werden können. Wo sie fehlen, entsteht oft eine verzweifelte Sehnsucht nach Gewissheit und Orientierung. Diese Sehnsucht führt bei den einen dazu, dass sie versuchen, durch Leugnen der eigenen Unsicherheit Gewissheit zu simulieren; Versuche, die fast immer in die eine oder andere Form von Fundamentalismus oder Fanatismus führen. Menschen, die Gewissheit vortäuschen, über die sie in Wirklichkeit gar nicht verfügen, greifen zurück auf Autoritäten, die ihre anfechtbare Position stützen und beglaubigen. Wo aber immer mehr Menschen ihre Identität durch reine Autoritätsgläubigkeit zu stützen versuchen, ist die freiheitlich-demokratische Ordnung gefährdet.

Andere betäuben ihre Unsicherheit und verfallen dem Konsumismus. Wieder andere blicken ganz nüchtern in den relativistischen Abgrund, geben sich die Kugel oder fliehen in einen Zynismus. Eine weitere Gruppe von Menschen versucht, Sicherheit zu gewinnen, indem sie einen Bereich der eigenen Wahrnehmung verabsolutiert. Identität wird dann in der Ideologie gesucht, im einfachen Erklärungsmuster: "Ich bin Schweizer, und alle Ausländer sind böse." Oder man sucht Halt und Identität in der kleinen Bezugsgruppe oder "Sekte".

In dieser orientierungsunsicheren Zeit bietet sich die Bindung an Gott als überaus attraktive und echte Möglichkeit an. Bei Gott wird meine Identität gestiftet, unabhängig von meinem Leistungsvermögen. Der Halt in der Beziehung zu Gott kann mich vom Versuch befreien, in der Gruppe oder der Ideologie meine Identität zu suchen. Die Begegnung mit Gott kann mein Sehnen so stark stillen, dass ich die Schätze der Welt geniessen kann, ohne zum Konsum-Süchtigen verkommen zu müssen. Die Betonung liegt dabei in der Beziehung, nicht im Wissen über Gott.

Literatur zum Thema

Beck, Ulrich, u.a.: Eigenes Leben. Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft, in der wir leben, Beck-Verlag, München 1995.

Berger, Peter L.: Sehnsucht nach Sinn, Campus Verlag, Frankfurt und New York 1994.

Gross, Peter: Die Mulitoptionsgesellschaft, Neue Folge, Band 917, Edition Suhrkamp, Zürich und Frankfurt 1994.

Horx, Matthias: Trendbuch 2, Econ-Verlag, Düsseldorf 1995.

Newbigin, Lesslie: Salz der Erde, Schriftenmissions-Verlag, Neukirchen-Vluyn 1985.

Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft, Campus Verlag, Frankfurt und New York 1996, 6. Auflage.

Datum: 26.03.2002
Autor: Felix Ruther
Quelle: Bausteine/VBG

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