Wenn aus Fiktionen Fakten werden

Dies muss man Brown zugute halten: Sakrileg ist von der literarischen Sparte her tatsächlich als frei erfundener Roman einzuordnen, wohingegen die Reihe der zuvor erwähnten verzerrten Jesusdarstellungen - obwohl vom Wesen her genauso fiktiv - allen Ernstes als Sachbücher veröffentlicht wurden. Aufgrund dessen ist Brown den zuvor genannten Autoren erst einmal überlegen. Doch damit sind die Vorzüge auch schon aufgezählt.

Die Kunst der erfolgreichen Romanliteratur besteht darin, im Leser das Gefühl entstehen zu lassen, als befinde er sich vollkommen in der Realität. Infolgedessen meint er, dass das Gelesene wahr sei - etwas, was Menschen im wirklichen Leben in real existierenden Situationen passiert sei. Natürlich verschwindet die Vorstellung der Pseudo-Realität, wenn ein Leser das Buch am Ende eines Kapitels beiseite legt. Doch unmittelbar nachdem er das nächste Kapitel begonnen hat, stellt sie sich wieder ein. Nehmen wir zu diesem Phänomen noch folgende Tatsache hinzu: Jeder Leser nimmt - zu Recht - an, dass alle Informationen im Umfeld des Romans der Wahrheit entsprechen, selbst wenn die Hauptpersonen möglicherweise fiktive Gestalten sind. Unter all diesen Voraussetzungen stellt sich die Fiktion für viele Leser als Wirklichkeit dar.

Offensichtlich gilt dies insbesondere im Falle religiöser Romane und theologischer Thriller. Als vor einigen Jahren Taylor Caldwells höchst fantasievoller Paulus-Roman Great Lion of God (deutsch: Mit dem Herzen eines Löwen) veröffentlicht wurde, musste ich immer wieder ernst gemeinte Fragen der Leser beantworten. Diese gingen darauf zurück, dass sie im Roman Einzelheiten aus dem Leben von Paulus kennen lernten, die sich die Autorin aus den Fingern gesogen hatte!12 Eine Frage, die mir im Gedächtnis geblieben ist, lautete: "Stimmt es, dass Paulus als Teenager auf einer Wiese von Antiochia von einem syrischen Sklavenmädchen verführt wurde? Lässt sich dadurch seine Haltung gegenüber Frauen erklären? Warum hat mir mein Pastor dies nie gesagt?" Wenn ich mich recht entsinne, war mein "Nein! Niemals!" von entsprechenden Unmutsbekundungen begleitet.

Aufgrund dessen ist Sakrileg so gefährlich. Viele Leser nehmen an, dass all die zusätzlichen kontextbezogenen Details und Hintergrundinformationen, die mit dem Christentum zu tun haben, der Wahrheit entsprechen, was nicht der Fall ist. Vielmehr sind die wenigen auf Tatsachen beruhenden Hinweise grösstenteils mit Fiktion oder glatter Lüge verwoben. Es ist eindeutig unredlich, solche Details als Tatsachen hinzustellen. Dennoch tut Brown genau dies, indem er auf der allerersten Seite mit der Überschrift "FAKTEN UND TATSACHEN" beginnt. Dort präsentiert er einleitende Aussagen, die dem gesamten Roman zugrunde liegen. Ausserdem hat Brown öffentlich klargestellt, dass er an die Richtigkeit der von ihm in Sakrileg vorgestellten Verschwörungstheorie glaubt.13

In allen direkten Romanzitaten, die im Folgenden angeführt werden, entsprechen die dargestellten Ansichten zweifellos der Meinung, die Brown selbst hat, da dem Leser der Eindruck vermittelt wird, dass die Dialoge zwischen allen Hauptpersonen des Buches in vollem Umfang glaubwürdig sind. Man muss daher nicht in jedem Fall den Redenden identifizieren, obwohl die meisten Falschaussagen im gesamten Roman auf eine Person namens Leigh Teabing zurückgeführt werden können. Leigh und Baigent - das Anagramm von Teabing - sind ja interessanterweise die Familiennamen von zwei der drei Autoren, die Der Heilige Gral und seine Erben geschrieben haben. Dieser Roman wiederum liefert die Informationen für den zentralen Handlungsstrang in Sakrileg.

Autor: Paul L. Maier
Quelle: Dan Browns Sakrileg, Hank Hanegraaff & Paul L. Maier, CLV , ISBN 3-89397-553-5

Fussnote:
13: Dan Brown, Interview mit Charles Gibson, Good Morning America, ABC, 3. November 2003, und Primetime Live (Monday): Jesus, Mary and Da Vinci, ABC, 3. November 2003. Siehe die zusätzlichen Informationen in Anmerkung 8 des Vorworts. Siehe auch Renee Tawa, »Deep into the ›Code‹«, Los Angeles Times (Freitag, 19. März 2004).

Datum: 06.03.2006
Quelle: Fossilien: Stumme Zeugen der Vergangenheit

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