Sakrileg: Der Betrug

Eine universale Doppelmoral bestimmt die heutige westliche Gesellschaft - eine doppelbödige Moral, die äusserst beklagenswert ist. Es geht darum, dass der Angriff auf jedes religiöse System unserer Welt tabu ist - es sei denn, man attackiert den christlichen Glauben. Wer den Polytheismus und das Kastensystem im Hinduismus kritisiert oder Gautama Buddha beschuldigt, Frau und Sohn verlassen zu haben, um in den Wäldern zu meditieren, sieht sich sofort dem Vorwurf ausgesetzt, intolerant und engstirnig zu sein. Wer bestimmte Aspekte im Leben des Propheten Mohammed in Frage stellt, handelt in einer pluralistischen Gesellschaft politisch nicht korrekt - und setzt sich potenziell sogar Gefahren aus.1

Jedem, der auf irgendeine jüdische Beteiligung an jenem Prozess verweist, den man kurz vor dem Passahfest gegen Jesus führte, wird sofort eine antisemitische Haltung vorgeworfen. Was aber, wenn man den christlichen Glauben angreift? Was, wenn man Christus karikiert und Lügen über die von ihm ins Leben gerufene Gemeinde vorbringt? Kein Problem! Nur zu, machen Sie mit! Genau das ist "in" - es ist politisch absolut korrekt und obendrein voll im Trend!

Der "Jesus-Poker"

Insbesondere in den vergangenen vier Jahrzehnten hat es eine Flut von Neuerscheinungen der Sensationsliteratur, neue Kinofilme und Sondersendungen im Fernsehen gegeben, in denen Jesus und die wahren Ursprünge des christlichen Glaubens kaum noch zu erkennen sind. Wir könnten dieses Phänomen als "Jesus-Poker" bezeichnen. Im Folgenden

die Spielregeln: Nehmen Sie zunächst einige Karten, die eine allgemeine, auf den Evangelien beruhende Darstellung Jesu verkörpern. Dabei dürfen Sie jedoch nicht vergessen, einige Karten hinzuzunehmen, die das ursprüngliche Blatt kräftig verändern. Sichern Sie sich dazu einige farblich nicht zueinander passende Karten und ergänzen Sie diese durch ausgefallene Karten, die für einen bizarren Hintergrund Ihres Jesusbilds stehen. Nun fehlen nur noch jene Karten, die total abstruse Episoden aus dem Leben Jesu symbolisieren. Während Sie mit anderen Karten, die einer biblischeren Darstellung entsprechen, garantiert verlieren, werden Sie mit diesem Blatt gewinnen, weil Sie ein völlig anderes - und vor allem sensationelles - Jesusbild präsentieren. Als Preis ist Ihnen allumfassende Berichterstattung in den Print- und elektronischen Medien sicher. Irgendwelche missbilligenden Äusserungen vonseiten der Christen stecken Sie dabei angesichts von Rekordumsätzen Ihrer Publikation locker weg.

Der "Jesus-Poker" wurde zu allen Zeiten gespielt, seit der heidnische Philosoph Celsus im 2. Jahrhundert n.Chr. erstmals diesbezügliche Regeln aufstellte. Allerdings ist er nie mit einem solchen Enthusiasmus wie in unserer Zeit gespielt worden.

Sehen wir uns einige der derzeitigen Spieler an:

- Der Engländer Hugh Schonfield präsentierte 1966 in seinem Buch "The Passover Plot" ("Der lange Weg nach Golgatha" bzw. "Planziel Golgatha") ein neues Jesusbild. Darin zeichnet er das Bild eines Pseudo-"Retters", der das ganze Szenarium auf Golgatha selbst eingefädelt habe.2

- Nikos Kazantzakis' Buch The Last Temptation of Christ (deutsch: Die letzte Versuchung), das später von Martin Scorsese verfilmt wurde (deutsch: Die Letzte Versuchung Christi), stellt Jesus als Persönlichkeit dar, die von Paulus verachtet wurde (Anmerkung des Übersetzers: Darüber hinaus enthält das Buch gotteslästerliche Sachverhalte, indem es angebliche sexuelle Fantasien Jesu erwähnt.).3

- Ebenfalls in den stürmischen 60er Jahren erschien "dank" der "Recherchen" von S.G.F. Brandon eine ganz in die damalige Zeit passende Buchreihe, die Jesus als "radikalen Revolutionär" darstellte.4

- Natürlich gab es auch Verwirrung stiftende Autoren wie John M. Allegro, einen weiteren britischen Gelehrten. Er war einst an der Auswertung der Schriftrollen vom Toten Meer beteiligt, diskreditierte sein Ansehen aber dadurch, dass er uns 1970 mit der Darstellung beehrte, "Jesus habe einen Pilzkult betrieben". In The Sacred Mushroom and the Cross (deutsch: Der Geheimkult des heiligen Pilzes) behauptete Allegro ernsthaft, dass die Gestalt Jesus auf Erfinder antiker Mythen zurückgehe, die aufgrund der halluzinatorischen Eigenschaften des Fliegenpilzes mit seinem roten Hut und seinen weissen Flecken "high" geworden seien und die Evangelien geschrieben hätten, um ihre kultischen Geheimnisse weiterzugeben (Anmerkung des Übersetzers: Der Fliegenpilz enthält das Gift Muskarin, das auf einige Nervenzentren anregend wirkt.)!5

- Diesbezüglich wollte Morton Smith den anderen in nichts nachstehen, indem er in seinem 1973 erschienenen Buch The Secret Gospel (deutsch: Auf der Suche nach dem historischen Jesus) "Christus, den Meisterzauberer" (!) präsentierte. Darin versuchte er, Jesu Wunder durch Taschenspielertricks wegzuerklären.6

- In Behauptungen, die denjenigen des Korans ähneln, stellte der Australier Donovan Joyce in The Jesus Scroll (auf Deutsch so viel wie "Die Jesus-Rolle") "Jesus, den alternden Retter" vor. Er behauptete, Jesus habe die Kreuzigung überlebt und das stattliche Alter von 80 Jahren erreicht.7

- "Jesus, der glückliche Ehemann" tauchte erstmals in den 80er Jahren in mehreren Büchern auf, von denen Holy Blood, Holy Grail (deutsch: Der Heilige Gral und seine Erben) von Baigent, Lincoln und Leigh das einflussreichste war.8 Diese Autoren haben diejenige imaginäre Story kreiert, die der Handlung in Sakrileg zugrunde liegt - die These nämlich, dass Jesus Maria Magdalena geheiratet habe und ihre Nachkommen in der Dynastie der Merowinger des mittelalterlichen Frankreich fortbestanden hätten.

- Nach Jesus als "clownesker Retter" in Godspell und "der Erlöser als Rockstar" in Jesus Christ Superstar kamen die 90er Jahre und der temperamentvolle John Dominic Crossan, der Experte des Jesus-Seminars. Sein Jesusbild könnte man mit "Jesus, der Erlöser vom Lande" umschreiben (oder vielleicht mit "Seinfeld, der Retter" [Anmerkung des Übersetzers: Jerry Seinfeld, geb. 1954, ist ein US-amerikanischer Schauspieler und Komiker. Er spielt die Hauptrolle in der nach ihm benannten Fernsehserie, die 9 Staffeln und insgesamt 180 Episoden umfasst. Die Erstausstrahlungen fanden in den USA zwischen Juli 1989 und Mai 1998 statt.] - je nachdem, nach welchem Kapitel in seinem Werk The Historical Jesus - The Life of a Jewish Mediterranean Peasant [deutsch: Der historische Jesus. Wer Jesus war, was er tat, was er sagte] Sie sich richten).9

Film und Fernsehen sind als Massenmedien diesem Beispiel rasch gefolgt. Wann immer einer der TV-Kanäle versucht, eine seriöse Dokumentation über Jesus zu drehen, neigt sich deren wissenschaftliche Darstellung gewöhnlich stark den Ansichten radikaler, revisionistischer Kritiker zu. Ernst zu nehmende gemässigte Bibelwissenschaftler haben es dagegen schwer, wie man in Peter Jennings ABC-Sonderserie "The Search for Jesus" ("Die Suche nach Jesus") mit-erleben konnte, die im Juni 2000 ausgestrahlt wurde. Ein anderes Beispiel ist Dateline auf NBC vom Februar 2004. Verlassen Sie sich darauf: John Dominic Crossan und sein ausgeprägter irischer Akzent wer-den in solchen Programmen immer an exponierter Stelle zu finden sein, weil den Produzenten seine sensationsgierigen Angriffe auf das traditionelle Christentum sehr gelegen kommen.

Und nun - als vorläufiger Höhepunkt der Umdeutungen des Jesusbilds - erscheint der Roman Sakrileg von Dan Brown.10 Was die Einzigartigkeit dieses neuesten, extrem verzerrten Jesusbilds ausmacht, ist nicht seine Originalität (schliesslich ist seine wichtigste These aus Der Heilige Gral und seine Erben einfach übernommen worden), sondern der Verkaufserfolg des entsprechenden Romans. Mit mehreren Millionen Exemplaren der englischsprachigen Version, die bislang verkauft wurden, erfreut er sich einer grösseren Leserschaft als alle bisherigen Jesusbücher zusammengenommen. Dies fügt - wie wir sehen werden - dem Anliegen der Wahrheit noch grösseren Schaden zu.

Und ein Ende ist nicht abzusehen. Das Buch, das mittlerweile in über 40 Sprachen übersetzt worden ist, wird von Columbia Pictures verfilmt.

Wie erklärt man sich den Erfolg des Romans? Zu-nächst einmal geht es um "bizarre Verkaufsmethoden", wie ein Kollege, der Literatur unterrichtet, ironisch anmerkte. Darüber hinaus haben Brown und die Werbestrategen der Verlage mit Hilfe perfekter Zeitplanung aus der derzeitigen Katholizismusverdrossenheit Kapital geschlagen, die auf Fälle von Pädophilie und Skandale der "Lavendelmafia" innerhalb des Klerus zurückzuführen ist (Anmerkung des Übersetzers: "Lavendelmafia" = euphemistischer Begriff Aussenstehender, der die Leitung katholischer Priesterseminare in den USA bezeichnet und dort vorhandene homosexuelle Tendenzen andeuten soll. Im allgemeineren Sinne ist damit ein geheimes, einflussreiches Netzwerk homosexueller Priester insbesondere in den USA gemeint.). Sie nehmen damit eine bereits kompromittierte Einrichtung ins Visier.

Der Aufstieg des radikalen Feminismus und der Frauenbewegung im Allgemeinen hat ebenfalls entscheidend dazu beigetragen, wie die Titelgeschichte in Newsweek über Maria Magdalena erkennen liess (8. Dezember 2003). In Sakrileg erhebt der Autor den Anspruch, den Frauen diejenige Rolle zurückgeben zu wollen, die ihnen von kirchlichen Amtsträgern - ausnahmslos Männern - angeblich vorenthalten worden sei. Fügen Sie zu Beginn einen Mord im Pariser Louvre und ein Wirrwarr von Indizien in Form von Symbolen hinzu, dem ein unter Druck stehendes Paar auf der Spur ist, das wiederum von Interpol gejagt wird. Wenn Sie ausserdem eine Intrige einbeziehen, in die kirchliche und staatliche Stellen sowie Geheimgesellschaften verwickelt sind, haben Sie das perfekte Erfolgsrezept für einen fesselnden Roman gefunden.

Autor: Paul L. Maier
Quelle: Dan Browns Sakrileg, Hank Hanegraaff & Paul L. Maier, CLV , ISBN 3-89397-553-5

Fussnoten:
1 Man sehe sich z.B. die Fatwa an, mit der das Todesurteil gegen Salman Rushdie verhängt wurde, weil er das Buch Die Satanischen Verse geschrieben hatte.
2 Hugh J. Schonfield, Der lange Weg nach Golgatha. Jesus von Nazareth, Mensch und Messias (Bergisch Gladbach: Gustav Lübbe Verlag, 1974).
3 Nikos Kazantzakis, Die letzte Versuchung Christi (Hamburg: Rowohlt Verlag, 1984).
4 S.G.F. Brandon, Jesus and the Zealots: A Study of the Political Factor in Primitive Christianity (New York: Charles Scribner, 1967). Siehe auch vom selben Autor The Trial of Jesus of Nazareth (New York: Stein & Day, 1955).
5 John M. Allegro, Der Geheimkult des heiligen Pilzes: Rauschgift als Ursprung unserer Religionen (Wien, München, Zürich: Molden, 1971).
6 Morton Smith, Auf der Suche nach dem historischen Jesus, Frankfurt/Main: Ullstein, 1974. Siehe auch vom selben Autor Jesus, der Magier (München: List Verlag, 1981).
7 Donovan Joyce, The Jesus Scroll (New York: Signet, 1974).
8 Michael Baigent, Richard Leigh und Henry Lincoln, Der Heilige Gral und seine Erben (Bergisch Gladbach: Gustav Lübbe Verlag, 2004 [Neuauflage]). Zuvor hatten mehrere andere Bücher die Hypothese vom verheirateten Jesus präsentiert, darunter William E. Phipps, Was Jesus Married? (New York: Harper & Row, 1970).
9 John Dominic Crossan, Der Historische Jesus. Wer Jesus war, was er tat, was er sagte (München: C.H. Beck, 2. Aufl. 1995). Es ist Crossan bis auf einige wenige Episoden im authentisch überlieferten Leben Jesu "gelungen", die Relevanz des biblischen Jesusbilds mit den willkürlichsten Schlussfolgerungen in Frage zu stellen.
10 Dan Brown, Sakrileg (Bergisch Gladbach: Gustav Lübbe Verlag, 2004).

Datum: 06.03.2006
Quelle: Fossilien: Stumme Zeugen der Vergangenheit

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