Virtuelle Realität

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Virtuell 2
Virtuell 3

Künstliche Räume und Aktionen sind hilfreich, aber auch gefährlich.

Es ist Samstagmorgen. Die Sonne scheint schon und verspricht einen schönen Tag. Ich mache mich auf den Weg zum Markt. Ich geniesse es, an den Ständen und Auslagen vorbeizugehen, ohne den Zeitdruck des Alltags. Es ist Wochenende – ich kann mir in aller Ruhe die ausgelegten Waren anschauen, mit Bekannten einen kleinen Schwatz halten und Neuigkeiten austauschen. Schliesslich habe ich alles gefunden, was ich brauche. Jetzt noch schnell zur Bank und ein paar Überweisungen abgeben. Nachdem alles ausgefüllt ist, sind es nur noch ein paar Mausklicks und die Daten werden über das Netzwerk verschickt. Ich kann meinen Rechner herunterfahren und mich wieder der Familie zuwenden ...

So lässt sich ein Ausflug ins Internet beschreiben. Die virtuelle Welt der Netzwerke, Server und Datenpakete ist eine uns schon recht vertraute Seite der virtuellen Realität. Menschen arbeiten, kaufen und verkaufen im Internet. Sie nutzen die technischen Möglichkeiten wie Chat, E-Mail oder Foren, um andere Menschen, vielleicht auf anderen Kontinenten, kennen zu lernen, Gedanken auszutauschen und Beziehungen zu knüpfen. Das Internet ist ein Bereich, in dem das Virtuelle und die Realität miteinander verschmelzen.

Der Begriff der "virtuellen Realität" ist weit gefasst und wird teilweise unterschiedlich verwendet. Ein Rückblick in die Vergangenheit hilft zur klareren Definition.

Die Ursprünge

Der Ausdruck "virtual reality" wurde 1989 vom Franzosen Jaron Lanier geprägt. Lanier ist Musiker und Computerwissenschaftler. Er verwendete den Begriff im Rahmen eines Marketingkonzepts zur Einführung eines VR-Systems durch seine Firma.

Die Bestrebungen, die Realität im Computer nachzubilden und zu simulieren, gehen allerdings schon wesentlich weiter zurück. Ende der 60er Jahre wurden erste Versuche unternommen, eine Interaktion zwischen dem Menschen auf der einen Seite und dem Rechner bzw. der Software auf der anderen Seite zu erleichtern.

Es wurden beispielsweise die Datenhandschuhe, die Bewegungen der menschlichen Hand in elektronische Signale für den Rechner umsetzen, entwickelt. Ziel war es schon damals, virtuelle Räume zu schaffen, in denen der Mensch sich bewegen und interagieren kann. Existieren sollten diese Räume aber nur in den Bits und Bytes des Rechners. Zu dieser Facette der virtuellen Realität später noch mehr. Ein weiteres Gebiet der virtuellen Realität, das auch von Anfang an Beachtung fand, sind die Kriegsspiele bzw. die militärischen Simulationen.

Anwendungen und Einsatzbereiche

"Virtuelle Realität" klingt zunächst paradox: Die Realität, das Fass- und Greifbare, alles was sich messen, wiegen oder zählen lässt, scheint uns aus dem Alltag vertraut. Der Begriff "virtuell" wird häufig im Sinn von "hypothetisch", "denkbar" oder "nicht ausgeschlossen" verwendet. Das klingt zunächst nach einer nicht wirklich existierenden Sache oder Angelegenheit.

Die Naturwissenschaft verwendet den Begriff "virtuell" in einem etwas anderen Sinn: In der Mechanik spricht man zum Beispiel von einer "virtuellen Verrückung" und von "virtueller Arbeit", wenn in einem Gedankenexperiment eine Punktmasse bei festgehaltener Zeit um eine infinitesimal kleine Strecke ?ra verschoben wird. In der Optik spricht man bei den Abbildungen von gekrümmten Spiegeln von virtuellen Bildern und die Quantenmechanik kennt virtuelle Zustände, die experimentell nicht direkt nachweisbar sind, weil sie nicht dem klassischen Energiesatz entsprechen, aber durch die Energie-Zeit-Unschärfe möglich werden. Hier wird deutlich, dass das Virtuelle in der Naturwissenschaft durchaus sinnvoll ist und oft existiert. Es entzieht sich nur unserer landläufigen Vorstellung von dem, was ist.

In der virtuellen Realität werden reale Vorgänge oder Zustände im Computer nachgebildet und der Mensch bewegt sich in diesen neuen Lebensräumen. Häufig wird von virtueller Realität gesprochen, wenn durch den Computer eine dreidimensionale Welt, das heisst ein Raum mit Boden, Wänden und Decke, projiziert wird und ein Mensch sich in diesem Raum bewegen kann. Die Bewegung und Aktion des Menschen wird dann wiederum vom Computer aufgenommen und der Mensch steuert so den Ablauf der Simulation.

Die Projektion der Daten kann beispielsweise durch Beamer geschehen und die Interaktion des Menschen wird durch Datenhandschuhe oder kleine Peilsender am Menschen erfasst. Eine andere Möglichkeit, dem Menschen virtuelle Räume zu präsentieren, ist eine Datenbrille. Diese Brille hat für beide Augen ein kleines Display, auf dem jeweils unterschiedliche Bilder ausgegeben werden, die zusammen für das Gehirn einen dreidimensionalen Eindruck vermitteln. Einsatzgebiete dieser virtuellen Räume gehen von der Architektur und Städteplanung bis hin zur Grundlagenforschung, bei der ein chemisches Molekül räumlich betrachtet werden soll.

Virtuelle Realität kann aber noch weiter gefasst betrachtet werden: Es geht nicht nur um die virtuellen Räume, sondern um verbreitete Anwendungen, die auch ein virtuelles Abbild der Realität darstellen. Dazu gehören Computerspiele, das Internet, technische und wissenschaftliche Simulationen oder auch CAD.

Wie nahe die virtuellen Ansätze unserem Leben schon gekommen sind, zeigen folgende Beispiele: Auf der Web-Seite des Möbelhauses IKEA kann man kostenlos ein Programm herunterladen, mit dem man die eigene Küche entwerfen kann. Nachdem die Grundmasse der Küche erfasst und Fenster und Türen eingetragen wurden, kann das virtuelle Möbelrücken beginnen (natürlich nur mit IKEA-Möbeln). Das Bekleidungsversandhaus Lands’ End stellt seinen Kunden auf der Webseite ein virtuelles Model zur Verfügung. In einigen Schritten wird zunächst das gewünschte Aussehen festgelegt (Körpergrösse, Statur, Gewicht, Haarfarbe etc.). Danach können diesem Model die interessierenden Kleidungsstücke angezogen werden.1

Industrielle Anwendungen

Die Industrie ist ein wichtiger Katalysator und Auftraggeber neuer Entwicklungen. So auch im Bereich des Virtuellen: Angefangen vom CAD über Simulationen bis hin zum Rapid Prototyping und der Fabrikplanung gibt es viele Anwendungsgebiete für virtuelle Realität. Eine wesentliche Zielsetzung der Industrie ist es, mit einem möglichst geringen Einsatz an Produktionsfaktoren, das heisst menschlicher Arbeitszeit, Rohstoffen, Maschinenlaufzeiten und Energie, möglichst viel zu produzieren. Die virtuelle Realität dient dazu, diesen Prozess zu optimieren.

So ist das CAD, also technisches Zeichnen und Konstruieren am PC, eine Arbeitserleichterung im Vergleich zum manuell bedienten Zeichenbrett. Änderungen an bestehenden Entwürfen lassen sich leichter realisieren und Teamarbeit wird über Ländergrenzen und Zeitzonen hinweg möglich.

Ein weiterer Schritt ist es, die Konstruktionen nicht nur vom Designprozess her am Rechner zu realisieren, sondern auch eine funktionale Prüfung bzw. Auslegung durch den Rechner zu unterstützen. In Simulationen können Schwingungen an Maschinen oder die Wasserströmung in einem Ventil untersucht werden. Durch die Ergebnisse kann dann – immer noch am PC, ohne dass ein Modell gebaut wurde – der Entwurf verbessert und optimiert werden.

In der industriellen Praxis ist die Finite Elemente Simulation (FEM) der wichtigste Bereich, wo das untersuchte Objekt mit einem engmaschigen Netz überzogen wird. Für jedes der resultierenden kleinen Teilstückchen werden dann entsprechende Gleichungssysteme gelöst. Diese Mathematik hängt von der jeweiligen Aufgabenstellung ab. Es können mechanische Gleichungen eines Feder-Masse-Systems sein, um Schwingungen und Eigenfrequenzen zu analysieren. Strömungsvorgänge werden mit den Navier-Stokes-Gleichungen und Turbulenzmodellen gelöst. Je nach dem gewünschten Ziel der Rechnung werden hier die entsprechenden Modelle der Physik eingesetzt.

Rapid Prototyping ist der konsequente nächste Schritt in dieser Kette: Unter diesem Begriff werden verschiedene Verfahren zusammengefasst, mit denen am Computer entworfene Konstruktionen sehr schnell dreidimensional und materiell realisiert werden können.

Die meisten dieser Technologien nutzen bestimmte Pulver, die lokal verhärtet werden und an Stellen, an denen kein Material stehen bleibt, wieder entfernt werden. Zum Einsatz kommen stärkehaltige Pulver, die durch die Klebereiweisse miteinander verbunden werden, Metallpulver, die teilweise mit einem Laser gezielt geschmolzen werden und andere Basisstoffe. So wird ein virtuell entworfenes Teil Schicht für Schicht mit geeigneten "Druckern" ausgedruckt, lokal verhärtet und überschüssiges Material entfernt.

Fabrikplanung beschäftigt sich mit der Planung und der Auslegung von Montagelinien, Fertigungshallen und Ähnlichem. Immer geht es darum, Bewegungsabläufe, Zusammenarbeit und verschiedene Akteure in einem Raum zu simulieren, um mögliche Probleme wie Engstellen, die zu Kollisionen führen können, zu vermeiden. Solche Simulationen sind auch für grosse Arbeitsgeräte hilfreich.

Einsatz beim Militär

Im militärischen Bereich ist es schon seit langem ein Ziel, Operationen im Voraus "durchspielen" zu können. Dadurch sollen schon frühzeitig Reaktionen auf mögliche Verhaltensmuster des Gegners entwickelt werden können. Schwachstellen in der Strategie sollen so schon vor der eigentlichen Kampfhandlung aufgedeckt und überarbeitet werden.

Diese Ansätze gehen weit über das Bestehen des Computers hinaus: Schon ab dem Jahr 1824 trainierten Offiziere der preussischen Armee militärische Taktiken. Dabei dienten zunächst Sandflächen und später topografische Karten als "Spielfeld", auf dem dann eigene und gegnerische Einheiten in Form von hölzernen und metallischen Spielfiguren verschoben wurden.

Eine weitere Entwicklung der militärischen Simulation waren die Flugsimulatoren: Sie begannen 1931 mit einem rein mechanischen Simulator, als die US-Marine ihr erstes Gerät dieser Art kaufte. Heute gehört die Simulation von militärischen Handlungen zum Standardrepertoire aller modern ausgerüsteten Armeen. Training, Manöver und Krisenfälle können nicht nur real im Gelände, sondern auch am Bildschirm geübt und durchgeführt werden.

Virtuelle Realität im privaten Bereich

Im Privatbereich spielt die virtuelle Realität eine grosse Rolle bei den Computerspielen. Hier werden unbekannte Welten erforscht, Monster vernichtet oder Autorennen gefahren. Computerspiele dienen zunächst der Unterhaltung der Spieler. Spätestens seit dem Attentat von Erfurt ist aber auch in Deutschland die Diskussion entbrannt, inwieweit Computerspiele nicht nur unterhalten, sondern auch zu kriminellen und destruktivem Verhalten führen können.

Robert Steinhäuser, der Amokläufer vom Erfurter Gutenberg-Gymnasium, hatte intensiv das Computerspiel "Counterstrike" gespielt. Das löste nach der Gewalttat die Diskussion über einen möglichen Einfluss dieses Spiels auf sein Verhalten aus. War es zum Auslöser für diese Tat geworden?

Natürlich gibt es viele Computerspiele, die weitgehend ohne dargestellte Gewalt unterhalten; ein grosser Teil der Spiele hat aber Krieg, Terror oder "normale" Verbrechen zum Inhalt. Je nachdem, wie die Darstellung in Bild und Ton ist, sind diese Spiele dann auch mehr oder weniger umstritten bis hin zur Indizierung eines Spiels.

Während viele Simulationen wie "SimCity" oder ähnliche eher an ein Brettspiel erinnern, werfen die realistischen Darstellungen der EgoShooter Fragen auf über die Auswirkungen solcher Spiele. Bei den EgoShootern sieht der Spieler das Spielgeschehen aus der optischen Perspektive seiner Spielfigur. So wird versucht, dem ganzen Ablauf eine möglichst realitätsnahe Form zu geben. Die Realität (zum Beispiel Krieg, Terrorakte oder Geiselbefreiungen) wird virtuell nachgebildet und dem Einzelnen somit zunächst scheinbar ungefährlich zugänglich gemacht.

Diese Fragen stellt auch Bernfried Schnell in seinem Artikel "Virtuelle Realität und Glaube"2:

"Ethische und moralische Werte"
Ist der virtuelle Raum ein ethisch und moralisch freier Raum? Welche Auswirkungen und welche Veränderungen finden bei Menschen statt, die ihre brutalen, bestialischen und sadistischen Phantasien ausleben?

"Sünde"
Gibt es im virtuellen Raum Sünde? Oder ist alles frei, weil ja doch nur alles Bits und Bytes sind? Wo fängt hier die Sünde an und wo hört sie auf?

Computerspiele

Ist digitales – sehr realistisches – Töten Mord oder nicht? Welche Werteveränderung erfahren Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung, wenn ihr Selbstwertgefühl durch Computerspiele aufgebaut wird, die eine kriminelle Laufbahn als positiv und wünschenswert darstellen?"

Bei der Bewertung von Computerspielen müssen zwei Ebenen unterschieden werden: einmal das wissenschaftliche Arbeiten, bei dem versucht wird, einen klaren, belegbaren und wiederholbaren Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung zu finden. Hier arbeiten Soziologen, Psychologen zusammen mit Informatikern und anderen Wissenschaftsgruppen an der Frage, inwieweit Computerspiele Aggression fördern und im Extremfall zu Gewalttaten wie dem Amoklauf von Erfurt führen (können).

Mit den Methoden der Wissenschaft lassen sich nicht alle Fragen beantworten. Das soll den Wert der Wissenschaftlichkeit nicht schmälern. Es zeigt sich aber, dass es für das konkrete und praktische Handeln im Alltag unter Umständen nicht möglich ist, auf wissenschaftlich fundierte Antworten zu warten. Das Feld der Computerspiele ist ein solcher Bereich.

Es gibt viele Untersuchungen und Studien zu diesem Thema. Sie kommen aber vom Ergebnis her zu unterschiedlichen Resultaten. Manche Untersuchungen sehen ein aggressionsförderndes Potential in bestimmten Computerspielen und andere Erhebungen können diese Auswirkungen nur sehr schwach oder gar nicht ausmachen.

Hier spielt zum Beispiel mit hinein, wie "Aggression" überhaupt im Labor gemessen wird. Unterschiedliche Tests werden auch zu anderen Ergebnissen führen. Es liegt von Seiten der Institute und Hochschulen kein einheitliches und einfach umsetzbares Ergebnis vor.

Gleichzeitig ist die Politik herausgefordert, zu handeln. Insbesondere ist das natürlich seit so schrecklichen Ereignissen wie dem Attentat von Erfurt der Fall. Eltern und Lehrer müssen mit der Frage nach der virtuellen Realität der Computerspiele umgehen und den Kindern und Jugendlichen Grenzen und Massstäbe setzen und sie im Idealfall zu einem kritischen und medienkompetenten Umgang erziehen.

So äusserte beispielsweise Bundeskanzler Gerhard Schröder in einem offenen Brief nach dem Amoklauf von Erfurt im Mai 2002:

"Ich glaube aber, dass dieses furchtbare Ereignis den Umgang unserer gesamten Gesellschaft mit gewaltdarstellenden Medien aller Art grundlegend ändern könnte. Wir werden wohl nie über einen unmittelbaren wissenschaftlichen Beweis für einen direkten Zusammenhang von Taten wie dieser und der Darstellung von Gewalt verfügen. Aber ist das überhaupt notwendig? Es kann doch einfach nicht richtig sein, dass junge Menschen heutzutage in den elektronischen Medien so viel Gewalt als ‘Unterhaltung’ angeboten bekommen. Das soll keinen Einfluss auf die Seele eines jungen Menschen haben?"3

Entscheidungen in diesen Fragen müssen ohne letzte wissenschaftliche Belege getroffen werden. Sicher und durch neuere Studien belegt, ist, dass die Menge des Fernseh- und Computerkonsums einen Einfluss auf die Entwicklung der Kinder hat. Christian Pfeiffer, Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, beschreibt in der "Zeit"4 aktuelle Untersuchungen, nach denen Kinder zunehmend einen eigenen Fernseher in ihrem Zimmer stehen haben*. Viele Kinder verbringen inzwischen pro Jahr mehr Zeit vor Computer und Fernseher als in der Schule. Pfeiffer führt insbesondere die Filme mit Altersbeschränkung, die erst ab 23 Uhr gezeigt werden, aber mit einem eigenen Fernseher auch von Minderjährigen ohne Kontrolle gesehen werden, als gefährlich an.

Jirina Prekop, Kinder- und Jugendpsychologin, beschreibt in ihrem Buch "Einfühlung oder Die Intelligenz des Herzens" eine Vielzahl von Beispielen aus ihrem Alltag und ihrer Praxis, wie sie Kinder und Jugendliche, aber auch deren Eltern ohne die Fähigkeit zur Einfühlung in andere Menschen (Empathie) erlebt. Sie beklagt die ihrer Meinung nach zunehmende Kälte und Egozentrik in der Gesellschaft:

"Die Anonymität sowie das virtuelle Geschehen am Bildschirm halten den Menschen auf der primitiven Stufe des Mitfühlens fest und erschliessen ihm den Weg zur Einfühlung nicht."5 (S. 132)

Sie sieht – neben anderem – auch die vielfältigen Möglichkeiten des technischen Fortschritts, die schnell entstehenden, aber auch schnell wieder beendeten Kontakte durch E-Mail und Internet als ein Hindernis, wirklich auf andere Menschen zugehen zu können.

Counterstrike und Bergpredigt?

Die Bibel äussert sich zunächst nicht unmittelbar zu diesem Thema der modernen Freizeitgesellschaft. Medien, das "Virtuelle" und Computerspiele haben keine unmittelbare Analogie in der Welt des Orients vor einigen tausend Jahren. In solchen Problemkreisen gilt es, Parallelen zur Welt der Bibel und ihren Aussagen zu ziehen. Im Fragen und Ringen vor Gott muss versucht werden, sein Reden in unsere moderne Welt aus der Bibel herauszuhören. Dass das nicht immer einfach ist und fehlerfrei sein wird, liegt auf der Hand. (An dieser Stelle soll ein Versuch unternommen werden, der gerne auch in eine weitere Diskussion mit dem Autor münden darf.)

Computerspiele werden in unserer Zeit im grossen Gebiet der Kunst angesiedelt und deswegen auch von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien mit geprüft. Zum Themenbereich "Kunst" finden sich immerhin einige (wenige) Aussagen in der Bibel. Interessant ist hier beispielsweise, dass beim Exodus aus Ägypten dem Volk Israel auf Gottes Befehl hin Schmuck von den Ägyptern mitgegeben wurde (2. Mose 11,2). Nun darf man sicher davon ausgehen, dass diese Schmuckstücke nicht nur unter Gesichtspunkten des Designs gefertigt und ausgewählt worden waren, sondern dass zumindest viele der Gegenstände auch eine religiös-kultische Bedeutung hatten. Es waren wohl Bilder von Göttern der Ägypter und andere religiöse Motive darauf abgebildet.

Auffallend ist, dass Gott nicht dagegen vorgeht und nicht gleich alles einschmelzen lässt. Erst später beim Bau der Stiftshütte bzw. beim goldenen Stierbild wurde Schmuck umgearbeitet. Hier wird ein sehr offener Umgang auch mit heidnischer Kunst gezeigt. Auch wenn der Inhalt des Kunstwerks und seine ursprüngliche Absicht nicht mit Gottes Plänen übereinstimmen, wird diese Situation und das Verhalten von Israel als bewusster Auftrag Gottes gezeigt. Es wird aus dem Kontext auch deutlich, dass die Israeliten von diesen abgebildeten Götzen nichts erwarteten.

Im Dekalog in 2. Mose 20 wird deutlich, wo die eigentliche Problematik mit solchen Bildern liegt: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht, heisst der zweite Teil des Bilderverbots im zweiten Gebot. Es geht Gott also in erster Linie nicht um die Darstellung an sich, sondern um unsere Beziehung zu ihm bzw. zu einem Bild oder einer Sache als andere Alternative. Auf die heutige, manchmal virtuelle Welt übertragen, kann ein solches problematisches "Bild" sicher auch der Kontoauszug beim Online-Banking sein. Es geht Gott primär um die Frage, woran das Herz des Menschen hängt.

Ein weiterer Aspekt, den die Bibel aufzeigt, ist der Begriff "Seele". Im biblischen Kontext wird unter Seele das verstanden, was uns zu einem lebendigen Menschen macht.6 Seele ist unsere irdische Lebendigkeit. Das hebräische Wort näphäsch, das im Deutschen mit Seele wiedergegeben wird, bedeutet daneben auch noch Kehle, Schlund. Das Lebendigsein hat also etwas mit dem Aufnehmen und Kommunizieren zu tun: durch die Kehle, die wesentlich für unser Leben ist, nehmen wir Nahrung und Luft und artikulieren uns nach aussen hin durch die Sprache. Diese enge Verwandtschaft der Begriffe zeigt eine Richtung auf, die im Kontext der Bibel immer wieder deutlich wird: Das, was wir in uns aufnehmen, prägt unser Leben, unsere Seele.

Ein Abschnitt, in dem sich die Bibel auch mit einer "virtuellen Welt" beschäftigt, ist die Bergpredigt. Hier spricht Jesus davon, dass Ehebruch und Töten nicht erst in der vollzogenen Tat geschehen. Sie haben ihren Ursprung vielmehr in den Gedanken, die der Tat vorausgehen. Jesus macht hier keinen Unterschied in der moralischen Bewertung. Für ihn beginnt – aus der Sicht Gottes – der falsche Weg schon im Wünschen und gedanklichem "Durchspielen".

Nun besteht trotzdem noch ein Unterschied, ob man einen realen Menschen vor lauter Hass am liebsten umbringen würde, oder ob man "nur" eine Figur aus Pixeln und Bytes "tötet". Der Hass, gegen den Jesus sich in der Bergpredigt wendet, braucht ein reales und konkretes Gegenüber. Trotzdem ist das Verhaltensmuster, das zugrunde liegende Handlungsprogramm, bei vielen Spielen destruktiv und zumindest in einer bedenklichen Nähe zur auf Menschen bezogenen gedanklichen oder tatsächlichen Gewalt.

Im Gegenzug besteht die Gefahr, dass neue Elemente, die in unsere Gesellschaft hineinkommen (wie eben die Egoshooter im Bereich der Computerspiele) besonders kritisch betrachtet werden. Schnell ist auch ein Generationenkonflikt zwischen Eltern und Kindern der tiefer gehende Auslöser für die Bewertung des Neuen. So sind auch viele Kinderspiele, die landläufig durchaus nicht negativ bewertet werden, wie zum Beispiel "Räuber & Gendarm", das Spielen mit Holzgewehren, Indianer und Cowboy primär gewaltorientiert.

Wir finden in der Bibel beides: einmal ein angstfreies und offenes Verhältnis zur Kunst und der kreativen Arbeit des Menschen. Auf der anderen Seite warnt die Bibel vehement davor, sein Herz, das heisst Vertrauen und Zielsetzung im Leben, an etwas anderes als Gott selber zu hängen. Sie weist auch darauf hin, dass wir von unserer Umwelt und insbesondere von den aufgenommenen und konsumierten Einflüssen geprägt werden. Hier ist aber kein einfacher, monokausaler Zusammenhang zu sehen. Die einfache Gleichung: "Wer Counterstrike oder ähnliche gewaltorientierte Spiele spielt, ist ein potentieller Massenmörder", greift in dieser Form zu kurz.

Was einen Menschen letztlich alle gesellschaftlichen Konventionen über Bord werfen und zum Gewalttäter werden lässt, ist ein vielschichtiger Prozess. Die Sozialisation, die genetischen Anlagen und die individuellen Zukunftsaussichten dürften genauso eine Rolle spielen wie der Medienkonsum.

Prävention ist sicher ein wichtiger Aspekt, gesunde Familien und Beziehungsgeflechte in den Familien spielen eine wichtige Rolle. Die Gegenstände, mit denen wir uns real wie gedanklich beschäftigen, prägen uns. Deshalb lautet der biblische Rat: "Alles, was wahr, alles, was ehrbar, alles, was gerecht, alles, was rein, alles, was liebenswert, alles, was wohllautend ist, wenn es irgendeine Tugend und wenn es irgendein Lob gibt, das erwägt!" (Phil. 4,8 und 9). Diese innere Haltung wirkt wie ein Sieb bei der Auswahl unserer Beschäftigungen.

Die Ethik der Bibel ist Orientierung und Leitlinie in den Beziehungen zwischen Mensch und Gott und zwischen Menschen untereinander. Das in der griechischen Tradition verwurzelte Denken, bei dem der Mensch in einen wichtigen Geist und einen unwichtigen Leib aufgeteilt wird, zeigt hier Gefahren: Man kann das Irdische und Körperliche nicht von einem virtuell agierenden Geist trennen. Der Mensch ist eine Einheit, ein untrennbares Zusammenspiel aus Körper und Geist. Dieser Aspekt ist ein Hinweis darauf, dass unser Denken nicht mit beliebigen Inhalten gefüllt werden kann, ohne dass es sich in der konkreten Lebensgestaltung auswirkt.

Was bleibt am Schluss? Die einfachen Antworten fehlen. Es gibt Hinweise und Anzeichen, dass virtuelle Gewalt gefährlich sein kann. Mehr noch als die Angst vor den Gefahren, sollte das Positive prägend sein und der Gewalt und dem Hass entgegenstehen: die Freude an Gott, seiner Liebe und Vergebung. Beziehungen und Kontakte mit Freunden und in der Familie. "Reale" Erlebnisse in Natur und Umwelt, in der Arbeit und beim Sport. Mehr als die Diskussion über Für und Wider mancher Spiele sollten gerade Christen eine reale Umgebung des frohen und mutigen Glaubens und des liebevollen Miteinanders bilden.

Literatur:
1 Wissenschaft online: "Virtual Reality ist in vielen Wirtschaftszweigen bereits Realität" Nachricht vom 10.03.1998 in www.wissenschaft.de
2 Schnell, B.: Virtuelle Realität und Glaube:
www.jesus.ch/www/index.php/D/article/133/9465/;10.10.2003

3 Schröder, G.: Offener Brief vom 3. Mai 2002 anlässlich des Amoklaufs am Gutenberg Gymnasium in Erfurt: www.bundeskanzler.de/
4 Pfeiffer, C.: Bunt flimmert das Verderben; Die Zeit Nr. 39; 18.9. 2003; S. 12
5 Prekop, J.: Einfühlung oder Die Intelligenz des Herzens; München: Kösel; 2002
6 Burkhart, H. [Hrsg.]: Das grosse Bibellexikon; Wuppertal: R. Brockhaus; 1996

Autor: Christian Ellwein

Datum: 18.11.2004
Quelle: factum Magazin

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