In der Lebensmitte

Gibt es überhaupt eine Midlife-Crisis?

Sobald „die biografische Vergangenheit länger ist als die zu erwartende Lebenszukunft“, befinden wir uns in der Mitte des Lebens. Wer diese Lebensphase bewusst gestaltet, hat es im Alter leichter. Die Krise der Lebensmitte ist Chance und Aufgabe zugleich, diese Mitte bewusst zu suchen.
Gibt es überhaupt eine Midlife
James Fowler
Joschka Fischer bei einem Marathon 1998.
„Das eigentliche Problem, vor dem der Mensch in der Lebensmitte steht, ist seine Haltung gegenüber dem Tod“, betont Anselm Grün.

Die berühmt berüchtigte „Midlife-Crisis“ gibt es laut neueren entwicklungspsychologischen Erkenntnissen nur selten. Der Pastoraltheologe Peter Abel spricht davon, dass sich nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene in einem „permanenten Umbau“ befinden. Insbesondere zwischen dem 40. und 50. Geburtstag treten allmähliche, fast unmerkliche Wandlungsprozesse auf, die das bisherige Selbstverständnis langsam unterhöhlen können. Ein nicht ungefährlicher Prozess, kommen doch bisherige Sicherheiten ins Rutschen.

Kevin Spacey, Held des Kinofilmes „American Beauty“, wird in der Lebensmitte von seiner Firma nicht mehr benötigt. Er gibt sein spiessiges Erwachsenenleben auf und pubertiert mittels Bodybuilding zum ewigen „Jungmann“. Das Familienleben entgleist. Das Projekt Lebensmitte kann auch scheitern. Im Film geht es tödlich aus.

Angst vor Veränderungen

Wie der kindhafte Mensch vor der Unbekanntheit der Welt und des Lebens zurückschreckt, so weicht auch der Erwachsene vor der zweiten Lebenshälfte zurück, weiss der Tiefenpsychologe C.G. Jung.

In der Tat stehen körperliche, seelische und geistliche Veränderungen an. Die hormonellen Umstellungen im weiblichen Körper sind bekannt. Aber auch die männlichen Hormone sollen Veränderungen auslösen. Das zunehmend graue Haar und die bleibenden Falten betreffen beide Geschlechter gleichermassen. Die Körperkräfte lassen allmählich nach.

Eine vierstündige Wanderung, die bisher nur durstig machte, schleicht sich nun in die Knochen. Der Sohn überholt den Vater, die Tochter ihre Mutter. Neben körperlichen Anzeichen meldet sich auch die Seele in neuer Weise. Eine innere Unruhe macht sich breit. Mit den bisherigen Lebensentscheidungen wurden Weichen gestellt. In der nächsten Lebensphase stehen nicht mehr alle Optionen offen.

Habe ich das bisher Gelebte so gewollt? Kann und will ich so weiter gehen? Der Druck von aussen, verbunden mit inneren Erwartungen an mich selbst, mögen mich eine Zeit lang noch zu Höchstleistungen treiben, früher oder später pralle ich an die Wand der eigenen Begrenzung. Es wird offensichtlich, was ich kann und was mir fehlt.

Wofür brenne ich?

Die Kerze ist mir zum deutlichen Lebenssymbol geworden. Sie gibt sich hin, während sie lebt beziehungsweise brennt. Auch ich habe keine Wahl. Ich muss mich so oder so hingeben, wenn ich leben will. Die Frage ist nur, wem oder wofür ich mich hingebe und ob sich diese Hingabe lohnt. Fragen, die spätestens jetzt gestellt werden sollten.

„Opfere dein Leben nicht für die Firma“, hat der Wirtschaftsprofessor Fred Malik einmal sinngemäss geschrieben, – „sie kann es dir nie zurückgeben“. Glücklich der Mensch, der sein Leben für Gottes Sache hingeben kann. Solcher Gottesdienst ist wahrlich eine vernünftige Sache. Das Brennen der Kerze kann im fünften Lebensjahrzehnt oft zum Ausbrennen ausarten.

Als ich vor einigen Jahren in einer Zeitung einen Artikel über die Symptome des „Burnouts“ las, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Hier wurde mein eigenes Empfinden beschrieben. Im Rudel von Ansprüchen und Aufträgen hatte ich kaum noch Ruhe gefunden. Ich steckte in einem Korsett, dem ich aus eigener Kraft nicht mehr entkommen konnte. In unserer Dienstzweierschaft als VBG-Leitung konnte dies nicht verborgen bleiben. Das feinfühlige Echo meines Leitungspartners, aber auch die rasche Reaktion des Arbeitgebers bewahrten mich vor einem akuten Burnout.

„Ein grosser Anteil dessen, was wir als Burnout benennen, kann auf die Proteste der Seele zurückgeführt werden, deren Sehnsüchte nach Berufung zu lange vernachlässigt wurden, oder unterdrückt oder verletzt,“ erklärt der Religionspsychologe James Fowler. „Die wahre Leere kommt von der Entdeckung, dass die Strategie, uns nur in uns selbst zu gründen, eine unangemessene Basis für unser Leben ist“. Worauf gründet das Leben?

Die Flucht vor sich selbst

Die Flucht aus dieser Lebensphase und damit weg von sich selbst hat viele Wege. Sie enden allesamt in der Sackgasse. Wir bleiben, menschlich gesehen, auf uns selbst geworfen.

Obwohl uns die Werbung etwas anderes einflüstern mag: die Orientierung am Outfit der Jugendkultur wirkt bei Fünfzigjährigen komisch. Ein schickes Paar Marken-Turnschuhe macht um kein Jährchen jünger. Der weibliche Aufwand zum Eintauchen in den Jungbrunnen bleibe hier unkommentiert. Schliesslich soll er Männern Eindruck machen. Diese wiederum angeln sich in dieser Phase mit Vorliebe eine jüngere Frau, die ihre Tochter sein könnte. Das ist nicht nur unangemessen, sondern auch missbräuchlich.

Sich in die Arbeit zu stürzen, verschiebt die notwendigen Fragen auf später, im Extremfall bis zum Zeitpunkt, wo sich diese erübrigen. Vielleicht betritt man jetzt zum ersten Mal die Wüste der Gottesferne. Das Festhalten an überlebten Gottesbildern hilft nicht weiter. Sie können das Leben nicht mehr prägen, wirken unglaubwürdig und drohen früher oder später zum Absturz des Glaubens zu führen.

Es geht um den Kern

Flucht führt nicht weiter. In der Lebensmitte geht es darum, zur Mitte des Lebens zu finden: zum eigenen Kern, zur Berufung, aber auch zu den eigenen Grenzen. Vielleicht ist es nun nicht mehr angesagt, mit den Mitgliedern der Jungen Kirche Fussball zu spielen; die Herausforderung, dasselbe mit den Gleichaltrigen in der Männerriege zu tun, genügt. Der Mittagsschlaf darf nun, so weit von den Umständen her möglich, zur entspannenden Gewohnheit werden.

„Meide immer deine Leistungsspitze“, rät der deutsche Aussenminister Joschka Fischer nach seiner Midlife-Crisis, fügt aber sofort hinzu: „Gib niemals auf“. Dieses Nicht-Aufgeben hat nun einen neuen Rahmen. Er wird gezogen durch die Lebensberufung innerhalb realistischer Grenzen. Mancher Mensch entdeckt in der Lebensmitte, „wie er oder sie zu stottern anfängt, wenn er vom Göttlichen redet“.

Ganz werden

Die Begründung meines Lebens in Gottes Existenz war für mich noch nie in Frage gestellt. Der Ausdruck dieser Begründung muss aber neu und oft auch anders gefunden werden. Manches, was ich früher selber in Jüngerschaftskursen weitergab, muss ich heute neu und oft auch anders buchstabieren. Daraus resultiert kein Buchstaben-Glaube. Viel mehr ein neues Vertrauen in Gott, das allerdings oft erkämpft und erbeten werden muss.

Laut dem Johannes-Evangelium der Bibel wollen der Vater und der Sohn durch den Heiligen Geist in uns Wohnung nehmen. Ein Christ, eine Christin findet deshalb auf dem Weg nach innen nicht nur den eigenen Kern, sondern darüber hinaus den innewohnenden Christus. Die zweite Lebenshälfte soll der Kultivierung des Lebens dienen. „Damit ist die Aufgabe verbunden, sich mehr von der Aussenwelt ab- und der eigenen Innenwelt zuzuwenden“.

Ungelebtes entdecken

Bisher Ungelebtes darf nun entdeckt, akzeptiert und angemessen ins Leben integriert werden. „Die Lebensmitte verlangt, sich nun auch den gegensätzlichen Polen zuzuwenden, den ungelebten Schatten anzunehmen und sich damit auseinander zu setzen“, sagt Anselm Grün in Anspielung auf C.G. Jung. Sollen wir demgemäss alle Prinzipien, Werte und Ideale über Bord werfen, um nun das Gegenteil zu leben? Das sei keine wirkliche Integration, meint Anselm Grün.

Auf diese Weise verfalle man dem bisher Ungelebten und verdränge das bisher Gelebte. Es gehe um eine „Erhaltung der früheren Werte zusammen mit einer Anerkennung ihres Gegenteils“. Bei Männern heisst das laut Grün etwa, die bisher verdrängten weiblichen Seiten zuzulassen (bei Frauen entsprechend die männlichen Aspekte). „Gibt der Mann seine weiblichen Züge, also seine Gefühle, das Schöpferische und Weiche in sich nicht zu, so projiziert er es auf Frauen, die ihn dann faszinieren“. Der Mann soll sich in der zweiten Lebenshälfte „eingestehen und bejahen, dass er all das, was ihn an der Frau so anzieht, in sich selbst trägt“. Es geht um die bewusste Entfaltung der Gefühlskräfte, der musischen und künstlerischen Seiten, die jeder in sich trägt, schreibt Grün.

Diese Auseinandersetzung mit dem Unbewussten ist nicht ungefährlich, sie braucht einen Schutz. Laut C.G. Jung ist dies die Religion. „Die Religion gewährt dem Mann die Geborgenheit, die er bei der Mutter sucht, führt ihn aber zugleich aus der infantilen Bindung an seine Mutter hinaus“. Einfacher gesagt: Gott ist immer schon da. Ich kann nicht tiefer fallen als in seine Hand. Hier finde ich immer wieder Ruhe, mitten im Sturm des Lebens. Intime Zeiten mit Gott helfen, die wahre Mitte des Lebens“ – den innewohnenden Christus – zu finden.

Erfahrungen weitergeben

Die mittleren Jahre sind aber auch dazu da, das bisher Erlernte und Erfahrene an die nächste Generation weiter zu geben. Mit dieser Generativität kann etwas geschaffen werden, das die eigene Existenz überlebt, man wird gebraucht. „Je generativer sich Menschen im mittleren Alter verhalten, desto zufriedener sind sie, desto grösser ist ihr Selbstbewusstsein, desto gesünder fühlen sie sich und desto weniger werden sie von depressiven Verstimmungen gequält“, so die Erkenntnis einer amerikanischen Forschergruppe. Umso unverständlicher sind die Tendenzen im Wirtschaftsleben, dieses Wissen ungenutzt zu lassen, indem ältere Arbeitnehmer zum Alteisen befördert werden.

Die letzte Grenze

Die Sandwich-Position zwischen den eigenen Kindern und den betagten Eltern ist ein weiterer Ausdruck der Lebensmitte. Zum Loslassen der Kinder gesellt sich nun auch das Einlassen auf die letzte Grenze. „Das eigentliche Problem, vor dem der Mensch in der Lebensmitte steht, ist seine Haltung gegenüber dem Tod“, betont Anselm Grün. „Nur wenn der Mensch an ein Weiterleben nach dem Tode glaubt, ist das Ende seines irdischen Lebens, ist der Tod ein vernünftiges Ziel. Nur dann hat die zweite Lebenshälfte in sich selbst ihren Sinn und ihre Aufgabe“. Alles, was ich jetzt zum letzten Mal tue, ist ein Stück Sterben. Der Rückzug auf das Wesentliche setzt aber auch neue Kräfte frei und gibt Raum zum kreativen Handeln.

Sehnsucht darf nun bewusst zugelassen werden. Sie deutet an, dass nicht aller Tage Abend ist. Schliesslich gilt für Christen unabhängig vom Lebensalter: Das Beste kommt noch. Beim bewussten Sich-vertraut-Machen mit der eigenen Sterblichkeit hilft dem entsprechend die Glaubensgewissheit, dass mit dem innewohnenden Christus das ewige Leben schon jetzt da ist.

Artikel zum Thema: Lebensmitte als Chance nutzen

Datum: 31.03.2007
Autor: Hanspeter Schmutz
Quelle: Bausteine/VBG

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