Der weltweite Kult um den Ball

Kult?

Und manchmal nutzen Gebete sogar hier. Der brasilianische Verein “Flamengo Rio de Janeiro“ hat diese Erfahrung jedenfalls machen dürfen. Neun bittere Jahre ohne Titel lagen hinter dem populärsten Club Brasiliens, erzählt der Dichter Eduardo Galeano. Die Anhänger kamen fast um vor Hunger nach Erfolg.

Nur Zufall?

Da versprach ein Priester Rettung, wenn die Spieler vor jedem Spiel zur Messe gingen und am Altar einen Rosenkranz beteten. Auf diese Weise eilte Flamengo fortan von Sieg zu Sieg. Die anderen Vereine protestierten: Flamengo gebrauche verbotene Waffen. Der Priester aber sagte, er weise nur den Weg des Herrn. Drei Mal hintereinander wurde Flamengo Meister.

Fussball - bloss die schönste Nebensache der Welt? In Brasilien gleicht das Spiel einem nationalen Kult. Gott ist Brasilianer, heisst es, wenn die Selecao, die Nationalmannschaft, bei der Weltmeisterschaft antritt. Aber nicht nur im Land des vierfachen Weltmeisters neigen die Fans zur emotionalen Raserei, gerade wenn es um den goldenen Weltmeisterpokal geht. Ein irischer Fussballfan sagte beim WM-Spiel gegen Deutschland, er würde „sogar zu Allah beten, damit Irland gewinnt“.

Millionen Fussballfans riskieren Ärger mit dem Chef und sitzen während der Arbeitszeit vor den Fernsehern, um die Spiele der Nationalelf zu verfolgen. Selbst aus Asien - bislang kaum für Fussballleidenschaft bekannt - berichten irritierte Korrespondenten von buntbemalten, enthemmten japanischen und koreanischen Zuschauern.

Ist Fussball vielleicht sogar schon zur modernen Ersatzreligion geworden? Besorgt fragt die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) bei einer bundesweiten Plakataktion: „Sind Fussballer unsere wahren Götter?“

Für den Berliner Sportphilosophen Gunter Gebauer liegt das Heilige jedenfalls auf dem Platz - in der heutigen, neoliberalen Fussballepoche sogar noch mehr als früher. „Geld macht heilig“, so der Professor. „Je mehr Spieler wie Luis Figo verdienen, umso entrückter werden sie vom Alltag der Fans“ - und umso mehr steigen sie in der Verehrung zu Heiligen auf.

„Widerliche Vergötzung“

Den badischen evangelischen Landesbischof Ulrich Fischer widert solche „Vergötzung“ an. Als Jugendlicher sei er noch alle 14 Tage zum HSV gepilgert, unter dem zunehmenden Kommerz habe seine Begeisterung aber stark gelitten. Der 53-jährige ehemalige Torjäger auf den Bolzplätzen von Stelle bei Oldenburg vermisst heutzutage vor allem die Ethik eines Uwe Seeler. Das Idol hatte ein Millionenangebot von Inter Mailand abgelehnt und war lieber seiner Heimatstadt Hamburg treu geblieben.

Der Philosoph Gebauer und der Theologe Fischer warnen davor, den Kult um den Ball ob vermeintlich negativer Konsequenzen für milliardenfaches Seelenheil allzu ernst zu nehmen. „Ohne Fussball wäre die Welt kälter“, sagt Gebauer. Über Fussball könne jeder reden, er stille die zunehmenden Sehnsüchte nach Gemeinschaft.

„Es gibt auch keine Konkurrenz zwischen Kirche und Fussball“, so Gebauer. Viele Rituale der Anhänger machten den Fussball vielmehr zu einem religiösen Phänomen, mit dem die Kirche gut leben könne. Bischof Fischer hat auf einem Kirchentag erlebt, wie eine La-Ola-Welle minutenlang durchs Stadion flutete. „So eine Begeisterung sollte es ruhig öfter bei der Kirche geben“, wünscht er sich.

Letztlich verblassen eh alle Worte zur grauen Theorie und alle Rituale zu faulem Zauber, wenn das Runde nicht ins Eckige will. Das mussten auch der Verein Flamengo und sein Fan im Priestergewand leidvoll erfahren. Im vierten Jahr verlor Flamengo den Meistertitel wieder. Die Spieler hörten auf, in die Messe zu gehen und beteten den Rosenkranz nicht mehr. Der Priester bat den Papst um Hilfe. Doch aus Rom kam nie eine Antwort.

Datum: 17.06.2002
Autor: Christoph Ertz
Quelle: Epd

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