Kein Recht zu sterben

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg hat den Fall der 43-jährigen Britin Diane Prettys zurückgewiesen. Die Schwerstbehinderte wollte das Recht zu sterben einklagen. Die Strassburger Richter entschieden, dass der Wunsch Diane Prettys, wegen ihrer unheilbaren Krankheit sterben zu wollen, kein Menschenrecht sei. Pretty, die vom Hals an gelähmt ist, will sich mit der Hilfe ihres Mannes das Leben nehmen. Ein britisches Gericht hatte aber entschieden, dass Prettys Mann im Fall der Sterbehilfe strafrechtlich verfolgt werden müsse.

Sterbehilfe kann in Grossbritannien nach geltendem Recht mit einer Haftstrafe bis zu 14 Jahren geahndet werden. Das Britische Hohe Gericht hatte diese Entscheidung im November bestätigt.

Die Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs fiel einstimmig. Die sieben Richter lehnten die Klage der Britin Diane Pretty ab; die 43-Jährige hatte für ihren Mann die Zusicherung von Straffreiheit verlangt, falls er ihr beim Selbstmord helfen sollte. Pretty leidet an einer unheilbaren Nervenkrankheit und ist bereits vom Hals abwärts gelähmt; sie kann sich nur mit Hilfe eines Sprachcomputers verständigen.

Zuvor hatte Diane Pretty bereits von den britischen Behörden die Straffreiheit zu erzwingen versucht, damit sie selbst den Zeitpunkt ihres Todes bestimmen kann. Dafür bräuchte sie die Hilfe einer weiteren Person - denn auch Selbstmord kann sie allein nicht mehr verüben.

Dass die Gerichte in Grossbritannien, wo Beihilfe zum Selbstmord strafbar ist, das Anliegen der Frau über alle Instanzen abgewiesen hatten, stellte für die Strassburger Richter keinen Verstoss gegen die Europäische Menschenrechtskonvention dar. Pretty hatte in fünf Punkten geklagt: Sie sah das Grundrecht auf Leben ebenso verletzt wie die Rechte auf Schutz vor unmenschlicher Behandlung und auf Privatleben; sie fühlte sich in ihrem Recht auf Gedankenfreiheit beeinträchtigt und sah sich diskriminiert gegenüber Nichtbehinderten, die physisch in der Lage sind, Selbstmord zu verüben.

In allen fünf Punkten widersprachen die Strassburger Richter der Klägerin. Dem Gerichtshof unter Präsident Matti Pellonpää aus Finnland gehörten Richter aus Grossbritannien, Schweden, Polen, Luxemburg, Andorra und Moldawien an. Dass ihre Entscheidung in allen fünf Klagepunkten jeweils einstimmig fiel, ist ein starkes Signal gegen aktive Sterbehilfe.

Zwar ging es in Strassburg jetzt nicht allgemein um Sterbehilfe, sondern nur um die Frage, ob die Strafbarkeit der Beihilfe zum Selbstmord in Grossbritannien im konkreten Fall der Klägerin gegen die Menschenrechte verstösst oder nicht. Doch in ihrem 48-seitigen Urteil äussern sich die Richter teils umfassend über die Frage, ob es ein Recht auf Sterben gibt. Aus der Europäischen Menschenrechtskonvention lasse sich dies jedenfalls nicht ableiten, so ihre Antwort. Wörtlich heisst es: „(Der Gerichtshof) ist nicht überzeugt, dass das von Artikel 2 garantierte „Recht auf Leben“ so interpretiert werden kann, als enthalte es einen negativen Aspekt.“ Und weiter: „Wenn man seine Sprache nicht völlig verdreht, kann Artikel 2 nicht so interpretiert werden, als enthalte er ein diametral entgegengesetztes Recht, konkret das Recht zu sterben; er kann kein Recht auf Selbstbestimmung in dem Sinne schaffen, dass jedes Individuum das Recht hat, den Tod statt des Lebens zu wählen.“

Die Strassburger Richter äussern grosses Verständnis für die Lage der Klägerin. Mit Blick auf die Strafbarkeit der Beihilfe zum Selbstmord in Grossbritannien erklären sie allerdings, diese Bestimmung sei keine von der Menschenrechtskonvention verbotene „erniedrigende oder herabwürdigende Behandlung“. Die Bestimmung sei zulässig, weil sie dem Schutz der Schwachen diene. Zudem sehe auch das entsprechende britische Gesetz Ausnahmen und Erleichterungen vor. So hätten britische Richter durchaus die Möglichkeit, von schweren Strafen abzusehen.

Mit diesem Hinweis geben die Strassburger Juristen ihren britischen Kollegen womöglich einen versteckten Rat, wie mit dem nahen Tod der unheilbar kranken Frau umgegangen werden könnte. Sollte ihr Ehemann tatsächlich beim Selbstmord helfen, könnte es etwa zur Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens kommen, das dann wegen der besonderen Umstände wieder eingestellt werden könnte. Prettys Mann kündigte jedoch erst einmal an, mit Hilfe einer Petition beim britischen Parlament erneut eine Änderung der bestehenden Gesetze verlangen zu wollen.

Datum: 01.05.2002
Quelle: Kipa

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