Julia Deeg harrte zwei Monate in Arafats Hauptquartier aus

Yassir Arafat

Berlin. Fast täglich wird in den Nachrichten von Kämpfen zwischen Israelis und Palästinensern berichtet. Julia Deeg hat sie hautnah miterlebt. Zusammen mit anderen Friedenaktivisten hat die junge Deutsche über zwei Monate in Yasser Arafats belagertem Hauptquartier ausgeharrt.

Jetzt berichtet sie über ihre Erlebnisse. Die Stimme hat endlich ein Gesicht. Bislang hatte man Julia Deeg nur über das von Störsendern beeinträchtigte Funktelefon gehört, über das sie für die Medien atemlos berichtete von den Zuständen im Hauptquartier des Palästinenserführers Yasser Arafat, in das sie „aus Protest gegen die israelische Besatzung“ gegangen war. Seit einer Woche ist sie wieder in Berlin.

Schwer, Erlebtes begreifbar zu machen

Es ist eine zierliche Person, die da vor einem dicken Aktenordner in einem Kreuzberger Café sitzt und einen aus neugierig wachen Augen anschaut. Über ihrer Schulter hängt ein verfilzter Zopf, die Beine stecken in schwarzen Löcherjeans.

Hinter ihr liegen die beiden Doggenmischlinge, die sie so vermisst hat. Sie blättert in Zeitungsartikeln, die über sie geschrieben worden sind. Ihre durchdachten Sätze und die Ernsthaftigkeit in ihren Gesichtszügen lassen sie älter erscheinen, als sie ist. Es muss schwer sein, andern begreifbar zu machen, was sie erlebt hat.

Im März will Julia Deeg mit ihrer Mutter in Israel Freunde besuchen. Es ist die erste gemeinsame Reise, seit sie mit 15 von zu Hause wegging, „um mein eigenes Ding zu machen.“ In Berlin merkt sie zu diesem Zeitpunkt, dass sich in ihrer Umgebung kaum noch jemand für den Nahost-Konflikt interessiert. Als sie sich auf die Reise macht, nimmt sie ihre Kamera mit und beschliesst, das Leid ihrer Freunde öffentlich zu machen. Einige Facetten davon kennt sie bereits.

Julia wächst in einem multikulturell geprägten Elternhaus auf. Ihr Mutter, Lehrerin im Studienkolleg in München und Mitarbeiterin im „Eine-Welt-Haus“, ist mit einem Palästinenser verheiratet. Sie schreibt, reist viel und ist häufig auf Podien zu sehen. Nein zu Israels Militäraktionen Der Terminplan ist randvoll. Sie fahren nach Jerusalem zu einem Treffen der „International Solidarity Movement“, eine Bewegung, die in Ländern, wo Menschenrechtsverletzungen geschehen, vor Ort präsent ist. Mit von der Partie ist auch die Gruppe „Grassroots International Protection for Palestiniens“, in der sich Hilfsorganisationen, internationale Beobachter und kirchliche Organisationen wie „Aktion Sühnezeichen“ engagieren. „Es war eine bunte Truppe“, sagt Julia. Gemeinsam ist ihnen, dass sie Nein sagen zu Israels Militäraktionen in den palästinensischen Gebieten.

Als sich am Treffen die bevorstehenden Militärinvasionen abzuzeichen beginnen, erinnert sich Julia an ihr Reportagevorhaben und sagt sich: „Jetzt dreh’ ich mich nicht um und fahr’ nach Hause.“ Als die Buskarawanen Richtung Westbank ziehen, sind sie mit dabei. Unter lebensgefährlichen Umständen gelangen sie in Arafats umzingeltes Hauptquartier. „Mit unserer Präsenz wollten wir ein Zeichen setzen für Menschenrechte, für die Genfer Konvention, gegen Hass und Wahnsinn“, betont sie.

Eingeschlossen in Arafats Hauptquartier, riskiert sie, gemeinsam mit Friedensaktivisten aus aller Welt, ihr Leben. Während des tagelangen Ausharrens leistet die Deutsche seelischen Beistand, versorgt bei Kerzenlicht Wunden. Sie sieht Menschen sterben und schläft, „Rücken an Rücken“ neben einem Querschnittsgelähmten, „um ihn zu stützen“. Sie liegt auf dem Boden unter dem Tisch, damit sie nicht von Geschossen getroffen wird, die durch die Fenster fliegen. Sie ist mit Juden, Christen und Muslimen, mit Kriegsverweigerern und bis an die Zähne bewaffneten Soldaten in einem Raum.

Gebrechlicher Palästinenserchef

Den Palästinenserchef erlebte Julia als gebrechlich und hilflos. Das Bild, als Arafat Julia Deeg zum Dank für ihr Engagement die Stirn küsst, ging um die Welt. „Oft habe ich mich gefragt, was ich hier eigentlich tue, doch spätestens da dachte ich nicht mehr ans Aufgeben“, erzählt sie lächelnd. In den Räumen ist es stockfinster, sie diskutiert mit bewaffneten Uniformierten über ihr Soldatendasein, über ihren Glauben und ihr Leben in einem zerrissen Land, über den fehlenden Respekt gegen religiöse Orte wie etwa der Geburtskirche Jesu in Bethlehem.

Keine Anti-Israelitin

Als sich die Truppen Anfang Mai zurückziehen, bleibt Julia, pflegt Verwundete und dokumentiert die Zerstörungen. Zurück in Deutschland, ist der Medienrummel um sie gross. Man möchte wissen, wer das Mädchen ist, das für Spiegel und CNN berichten konnte. Um nicht als „Arafats Liebling“ dargestellt zu werden, sagt sie in beinahe jedem Gespräch, dass sie keine Anti-Israelitin sei, nur weil sie die Politik der Israelis kritisiert. Dass sie genauso viel Kritik an Arafat und seiner Gefolgschaft übe, die halbwüchsige Selbstmordattentäter als „Märtyrer“ feiere. Dass sie sich erschrocken zeige, wenn propalästinensische Demonstrationen zu antiisraelische Hetzkampagnen ausufern würden. Es bleibe etwas hängen, von all dem, was sie erlebt hat, sagt sie.

Als sie jüngst auf einer grossen Anti-Bush- Demonstration eine Rede hielt, bekam sie Beklemmungen, weil Militärhubschrauber über ihr kreisten. Ihr sei derzeit nicht nach feiern zumute, sagt sie. Lieber sichte sie Presseartikel oder halte Kontakt zu Freunden in Palästina. Die Menschen hinter den TV-Bildern Hinter den täglich verschickten Fernsehbildern aus Nahost sieht Julia jetzt Menschen, Gesichter. „Das kratzt an der Seele“, sagt sie. Sie möchte später gerne das ganze Land besuchen.

Nach den Presseartikeln über sie dürfte das jedoch schwierig werden. Ihre Mutter wurde von den Israelis des Landes verwiesen - mit einem zehnjährigen Einreiseverbot im Pass. Aufgrund ihrer täglichen Berichterstattung für die Medien schlägt sie sich auch noch mit einer Natelrechnung von 10.000 Euro herum. Belastender empfindet sie es jedoch, „dass ich jetzt nicht in Ramallah sein kann.“ Die Grenzen sieht Julia nicht zwischen Palästinensern und Israelis, sondern zwischen Militaristen und Zivilbevölkerung, zwischen Reich und Arm, zwischen Unterdrückern und Unterdrückten. Genau dies hat sie in ihren beklemmenden Fotos festgehalten, die sie in den besetzten Gebieten gemacht hat.

Datum: 05.06.2002
Autor: Vera Rüttimann
Quelle: Kipa

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