Umgang mit einem Phänomen

Wie begegne ich dem Postfaktischen?

Das Wort «postfaktisch» hätte vor fünf Jahren noch niemand in den Mund genommen. Seit 2016 ist der Begriff «Wort des Jahres» und scheint in Zeiten von Donald Trump und einer starken Gefühlsorientierung in Politik und Gesellschaft unser Heute gut zu beschreiben. Und er zeigt mehr als einen kurzfristigen Trend: Die zugrundeliegenden Verunsicherungen sind durchaus ernst zu nehmen.
Was ist Wahrheit?

Jeder Wetterbericht verkündet heute nicht nur die tatsächliche, sondern auch die gefühlte Temperatur. In allen Lebenslagen scheint es neben einer faktischen auch eine «gefühlte Wahrheit» zu geben. Einerseits ist dies ein Zeitphänomen, andererseits hat es Entscheidungen gegen die (scheinbaren) Fakten schon immer gegeben. Seit die Gesellschaft für deutsche Sprache «postfaktisch» 2016 zum Wort des Jahres erklärte, ist diese gefühlte Wahrheit in Form von Fake-News und alternativen Fakten allerdings ein bestätigter Teil unserer Wirklichkeit. Dass dies ein wichtiges theologisches Thema ist, darauf weist Teresa Schweighofer im theologischen Feuilleton «feinschwarz» hin. Ihre Ideen haben diesen Artikel inspiriert.

Was ist eigentlich postfaktisch?

Wenn das Gespräch auf «postfaktisch» kommt, macht sich oft Empörung breit – viele denken an US-Präsident Trump, der immer wieder seiner Lügen überführt wurde und mit grossem Erfolg darüber hinwegging. Seine Pressesprecherin Kellyanne Conway prägte denn auch den Begriff der «alternativen Fakten» (übrigens das Unwort des Jahres 2017).

Postfaktisch bedeutet «gefühlsmässig» oder «unsachlich». Es meint Aussagen, die auf Gefühlen beruhen, nicht auf Tatsachen. Das Wort ist eine Übersetzung des englischen Begriffs «post-truth». Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel unterstrich in einer Rede im September 2016: «Es heisst ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten. Das soll wohl heissen, die Menschen interessieren sich nicht mehr für Fakten, sondern folgen allein den Gefühlen.» Dahinter steckt neben einem wahrgenommenen Werteverfall in der Politik (Trumpifizierung) und dem (selbst?) verspielten Vertrauen der Medien (Lügenpresse) die Frage: «Wem kann ich eigentlich noch trauen?»

Waren Fakten früher wichtiger?

Im allgemeinen Aufseufzen, dass sich niemand mehr für die Wahrheit interessiere, wird schnell vergessen, dass dies kein neues Phänomen ist. Sogar den Begriff «post-truth» verwenden Autoren bereits seit Jahrzehnten. Die Professoren Fritz Breithaupt und Martin Kolmar unterstreichen in ihrem «Kursbuch»: «Die Rede vom ‚Postfaktischen’ vertuscht, dass das Faktische immer schon die Ausnahme war. Wir entscheiden anders. Wir waren in einem bestimmten Sinne immer Anhänger einer gefühlten Wahrheit, die sich eher weniger als mehr mit dem deckt, was die Wissenschaft oder andere Autoritäten als Konsens anerkennen. Einfacher gesagt: Wissen und Fakten waren meist Ausreden zur Deckung unserer Ideologien und Affekte.»

Jill Lepore, eine US-Historikerin, betont einen anderen Aspekt im Umgang mit dem Postfaktischen. Sie hält fest: «Die Wurzel des Problems (…) ist ein bekanntes Paradox. Die Vernunft kann sich nicht verteidigen, ohne auf die Vernunft zurückzugreifen.» In einer Diskussion, die Vernunft ablehnt, ist sie schutzlos.

«Was ist Wahrheit?»

Pontius Pilatus, der judäische Statthalter, drückte seine postfaktische Wahrnehmung von Jesus vor 2'000 Jahren mit den Worten aus: «Was ist Wahrheit?» (Johannes, Kapitel 18, Vers 38). Auch heute geht es den wenigsten Menschen darum, eine wissenschaftlich tragfähige Meinung zu vertreten. Unser Bauchgefühl spielte und spielt eine wichtige Rolle bei allen Entscheidungen. Teresa Schweighofer fragt zu Recht nach: «Aber wenn es nur noch um gefühlte Wahrheiten geht, ist dann auch nur mehr das Gefühl wahr? Wird das eigene Gefühl dann zum letzten Ort der sicheren Erkenntnis? Sentio ergo sum (Ich fühle. Also bin ich)?».

Auch im Glauben gibt es den Trend, Gefühlen den Vorrang vor Tatsachen einzuräumen. «Pentekostalisierung» nennt dies die Wissenschaft (Verpfingstlichung), wobei dieses Denken längst nicht nur in Pfingstgemeinden oder Freikirchen, sondern in allen Kirchen anzutreffen ist. In diese Atmosphäre von Heilung, Erweckung und Begeisterung stellt Schweighofer fest: «Ohne dieses affektgeladene Christentum weder gleich zu verurteilen noch zur Rettung des Christentums hochstilisieren zu wollen, so stellt es doch Anfragen an das jahrhundertealte Selbstverständnis der Theologie als vernunftgeleitete Suche nach Gott.»

Weder ignorieren noch verteufeln

Sowohl Faktenorientierung als auch ein Hören aufs Bauchgefühl eigen sich hervorragend dazu, sie zu verabsolutieren und zu verteufeln. Tatsächlich ist Postfaktizität an sich weder gut noch schlecht. Sie bedarf im Alltag einfach der Deutung und Korrektur – so wie Faktizität auch. Schweighofer sieht hierin eine Chance: «Genau für solche Balanceakte hat die Theologie, die es ja gewohnt ist, in unauflösbaren Spannungen und Paradoxien zu denken, ein ganzes Repertoire an erprobten Werkzeugen. Die Frage ist dabei wohl eher, können Theologinnen und Theologen dieses Repertoire auch säkular argumentieren und sind sie bereit, diese in den, ihrer eigenen Deutungsmacht entzogenen, ‚open-source’-Pool gesellschaftlicher Diskurse einzuspeisen? Ich hoffe ja.»

Zum Thema:
Wie tickt «das Volk»?: Demokratien in der Bewährungsprobe
ChristNetForum in Biel: Alles Fake? Wahrheit in Politik und Medien
Schon vor vielen Jahren: Die erste Fake News der Geschichte

Datum: 27.08.2018
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet / feinschwarz.net

Werbung
Livenet Service
Werbung