Ohne Rauch geht’s auch

Volkssucht Zigaretten: Die Folgen des Missbrauchs werden nach wie vor unterschätzt

Schick ist das Rauchen schon lange nicht mehr. Wenn Kinohelden zum Glimmstengel greifen, muss der Film schon mindestens zwanzig Jahre alt sein. In Flugzeug, öffentlichen Gebäuden und manchen Restaurants gilt heute Rauchverbot. Doch das Verdrängen des Blauen Dunstes aus dem öffentlichen Leben täuscht über die Tatsache hinweg, dass immer noch rund jeder dritte raucht. Der Griff zur ersten Zigarette erfolgt immer früher, derzeit liegt das Durchschnittsalter bei 13,6 Jahren. Sieben Prozent der Zwölfjährigen rauchen nach eigenen Angaben regelmässig. Die Gefahren werden nach wie vor unterschätzt. Für Christen hat das Thema eine geistliche Dimension. Da der Qualm den Körper (der laut Bibel der “Tempel des Heiligen Geistes” ist, 1. Korinther 6,19) angreift, betrachten viele das Rauchen als eine Sünde – und würden gerne davon wegkommen. Gibt es Wege aus der Sucht?

Hätten Sie’s gewusst: Die häufigste Folge regelmässigen Tabakkonsums ist weder Lungenkrebs noch Raucherbein. Am heftigsten setzen die inhalierten Giftstoffe dem Herzen zu, weshalb Raucher extrem infarktgefährdet sind. Jährlich sterben in Deutschland schätzungsweise 100.000 Menschen vorzeitig an den Folgen des Rauchens, in der Schweiz sind es 8.300. Zählt man die jährlichen Todesopfer von Selbstmorden und Morden, Autounfällen und Alkoholsucht, Aids und illegalen Drogen zusammen, liegt die Summe immer noch niedriger als die Zahl der Rauchertoten. Und jedes Jahr machen Wissenschaftler neue Entdeckungen, die die tödliche Wirkung des Blauen Dunstes unterstreichen. Noch in diesem Jahr will die Weltgesundheitsorganisation WHO eine Untersuchung vorlegen, die 3.000 Studien auswertet, an denen insgesamt mehrere Millionen Menschen beteiligt waren. Bereits jetzt kann nach Angaben der 29 Experten aus zwölf Ländern als gesichert gelten, dass Tabakrauch nicht nur Lungen, Bronchien, Speiseröhre, Zunge und Lippen zusetzt, sondern indirekt auch den Krebs an Blase, Niere, Magen, Leber, Gebärmutter sowie Nase und Stirnhöhle fördert. Wer raucht, reduziert seine Lebenserwartung durchschnittlich um sieben Jahre.

Gefahr für Passivraucher

Auch die Gefahren des Passivrauchens sind dramatischer als bislang angenommen. Wer mit einem Raucher zusammenlebt, steigert sein Lungenkrebsrisiko um mindestens 20 Prozent. Von den weltweit rund 1,2 Milliarden Rauchern stirbt nach Erkenntnis der Forscher die Hälfte vorzeitig an Krankheiten, die auf den Blauen Dunst zurückzuführen sind. Einer amerikanischen Studie zufolge hat es sich als Illusion erwiesen, dass Zigaretten mit weniger Nikotin und Kondensat, sogenannte Light-Marken, auch weniger gesundheitsschädlich seien. Die krebsfördernde Wirkung ist offenbar fast genauso stark – zumal der Durchschnittsraucher beim Umstieg auf ein Produkt mit weniger Nikotin mehr Zigaretten raucht, um seinen Nikotinspiegel halten zu können.

Sucht beginnt in der Jugend

Warum rauchen Menschen überhaupt? Der Einstieg geschieht meistens in einer Jugendclique. Wer dazu gehören will, muss mitmachen. Vor allem ungefestigten Persönlichkeiten fällt es schwer, nein zu sagen. Aus einer “Jugendsünde” wird allzuschnell ein Laster von Dauer: Drei von vier erwachsenen Rauchern geben an, vor dem 18. Lebensjahr mit der Qualmerei begonnen zu haben. Rauchen ist allerdings mehr als gequälte Suchtbefriedigung. Zum einen gibt es Tabakgeniesser, die glaubhaft machen, dass ihnen das Paffen oder Inhalieren des Blauen Dunstes einfach schmeckt. Dazu löst das Nikotin im Gehirn einen zarten Rausch von angenehmen Gefühlen aus. Besonders stark ist dieser Effekt beim “Anfänger” oder bei der ersten Zigarette nach einer Phase des Verzichts. Der Kettenraucher spürt diesen “Kick” nicht mehr, weil er ohnehin einen hohen Nikotinspiegel hat.

Nikotin gefährlicher als Alkohol

Das Tückische am Nikotin: Es ist bei weitem nicht so gesundheitsschädlich wie der Teer (Kondensat) im Rauch, aber es macht abhängig. Zuerst psychisch, schnell aber auch körperlich. Das geht viel flotter als beim Alkohol. Während viele Menschen nur gelegentlich (also nicht täglich) Bier, Wein oder Schnaps zu sich nehmen, ist der Gelegenheitsraucher selten. Wer einmal angefangen hat, braucht seine Nikotindosis täglich. Fast jeder Raucher ist süchtig.

Eigene Disziplin: Nikotintherapie

Bis er sich diese Sucht eingesteht, kann es allerdings Jahre, manchmal Jahrzehnte dauern. “Gerade bei jüngeren Leuten finden wir sehr häufig die Überzeugung, sie könnten jederzeit mit dem Rauchen aufhören, wenn sie wollten.” Diese Beobachtung macht Ulrike Herr immer wieder. Die Psychologin betreibt zusammen mit ihrem Kollegen Matthias Dauenhauer in Reutlingen die “Doppelpunkt-Praxis für Ergotherapie und Psychotherapie”. Eine Spezialität der beiden: Raucherentwöhnung. Sie haben sich zu sogenannten Nikotintherapeuten weiterbilden lassen. Ihr Wissen und ihre Erfahrung wenden sie an bei Kursen, betriebsinternen Seminaren und Einzelbetreuung. Ihre Erfolgsquote kann sich sehen lassen: Ein Jahr nach der Entwöhnung lebt immerhin noch jeder zweite abstinent.

Aufhören auf einen Schlag

Ob 5 oder 50 Zigaretten täglich: Wer aufhören will, sollte es abrupt tun. “Das langsame Reduzieren der Zigarettendosis funktioniert in der Regel nicht”, so die Erfahrung von Matthias Dauenhauer. Die beiden Nikotintherapeuten ziehen ihre Kurse in der Regel so auf, dass sich die Teilnehmer an fünf Abenden hintereinander treffen. Der Grund: In dieser Zeit kommen die Raucher über den körperlichen Entzug hinweg. Der tritt bei rund zwei Drittel der Entwöhnungswilligen auf. Sie klagen über Herzrasen, Kopfweh, Schlafstörungen und Gereiztheit. Bei ihrem Umfeld ernten sie dafür kein Verständnis – aber in der Entwöhnungsgruppe. Dort schildert jeder, wie er zum Rauchen gekommen ist. Auch demütigende Erfahrungen der Sucht wie etwa das Qualmen im Winter auf dem eiskalten Balkon, wenn Rauchen in der Wohnung verboten ist, kommen zur Sprache.

Nikotinpflaster können helfen

Gemeinsam reden die Teilnehmer über Strategien, der Lust nach dem Glimmstengel nicht nachzugeben. Mancher verzichtet mit den Zigaretten auch gleich aufs Bier, weil er das eine ohne das andere nicht recht geniessen kann. Nach den fünf Entwöhnungstagen haben in der Regel neun von zehn Teilnehmern mit dem Rauchen aufgehört. Kein Tabu sind dabei Ersatzstoffe, die das Nikotin über Pflaster, Kaugummi oder sogar Nasenspray transportieren. Im Gegenteil: Werden diese Mittel richtig eingesetzt, verdoppelt sich statistisch die Chance auf ein rauchfreies Leben. Wer später trotzdem wieder zu einer Zigarette greift, lernt, das als “Ausrutscher” zu betrachten und nicht als das Ende aller Abstinenzbemühungen. Ermutigung gibt in diesem Prozess auch das Rauchertelefon, das vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg eingerichtet wurde (06221-424200, Montag bis Freitag 15-19 Uhr). Es ist eine Art “Sorgentelefon” für Nikotinabhängige.

Was rauchende Arbeitnehmer kosten

Ulrike Herr und Matthias Dauenhauer sind Experten in Sachen Blauer Dunst. Beim Weltkongress für Psychotherapie, der diesen Sommer in Wien stattfindet, stehen die beiden mit diesem Thema auf der Rednerliste. Beide haben schon ihre Diplomarbeit dem Rauchen gewidmet. Ihre Arbeit ist so erfolgreich, dass sie in ganz Baden-Württemberg von Krankenkassen und Firmen zu Seminaren eingeladen werden, etwa von Daimler-Chrysler. Für Unternehmen kann sich ein betriebsinterner Entwöhnungskurs schnell bezahlt machen. Laut einer Studie des Instituts für Arbeits- und Sozialhygiene in Karlsruhe haben Raucher durchschnittlich 83 Prozent mehr Krankentage pro Jahr als nichtrauchende Mitarbeiter. Nikotinabhängige Frauen weisen sogar 140 Prozent mehr Fehltage auf als ihre abstinenten Kolleginnen. Die häufigere Arbeitsunfähigkeit von Rauchern kostet die deutsche Wirtschaft jährlich schätzungsweise mehr als sechs Milliarden Euro.

Entwöhnungskurse als Lebenshilfe

Die Entwöhnungs-Experten aus Baden-Württemberg sind beide Christen: Ulrike Herr gehört der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) an, Matthias Dauenhauer den Siebenten-Tags-Adventisten. Gerade die Adventisten (ihre nach aussen sichtbare Besonderheit liegt darin, dass die Mitglieder statt dem Sonntag den Samstag als Ruhetag begehen) kümmern sich mehr als andere Kirchen um das Thema Gesundheit. Sie propagieren eine vegetarische Ernährungsweise und sie bieten in ihren Gemeinden Entwöhnungskurse für Raucher an. Damit leisten sie nicht nur Lebenshilfe, sondern bringen manchen Zigarettenabhängigen in Kontakt mit Christen, der ansonsten mit dem Glauben nichts am Hut hat.

Rauchen – eine Sünde?

Unter Christen ist das Thema Rauchen heikler als bei anderen Zeitgenossen. Viele sehen darin nämlich nicht nur eine schlechte Angewohnheit, sondern eine Sünde. Und damit wird es zum geistlichen Problem. Das Suchtverhalten, die Schädigung des gottgegebenen Körpers und die Geldverschwendung passen nicht zu einem befreiten Leben in Jesus Christus – so die Überzeugung, die in vielen evangelikalen Gemeinden mehr oder weniger klar gelehrt wird. Ulrike Herr und Matthias Dauenhauer haben häufiger Christen in ihrer Praxis. Diese berichten von einem Gefühl des Scheiterns, weil sie eine Gewohnheit praktizieren, die sie letztlich selbst für unbiblisch halten. Andere beginnen, an der Allmacht Gottes zu zweifeln, weil sie trotz Betens nicht von der Zigarette losgekommen sind.

Die Therapeuten haben aber auch einen dritten Ansatz entdeckt: das Bewusstsein des Rauchers, im Kampf gegen die Sucht zu reifen. Ein Klient habe zugegeben, dass er “Barmherzigkeit” gegenüber den Schwächen anderer erst gelernt habe, als ihm das eigene zwanghafte Verhalten im Umgang mit den Glimmstengeln bewusst geworden sei. “Gott hilft nicht aus jedem Problem heraus, aber in jedem Problem”, formuliert Matthias Dauenhauer. Der bekennende Christ betet auch mit nikotinabhängigen Klienten – allerdings nur, wenn diese das wünschen. Zum Aufhören mit dem Rauchen ist es seiner Überzeugung nach nie zu spät. Auch nach jahrzehntelangem Zigarettenmissbrauch besteht eine gute Chance, dass sich der Körper regeneriert.

Zigarettensucht als Lustkiller

Und was sollen Eltern tun, deren Kinder in die Nikotinfalle gegangen sind? “Sie dürfen Zigaretten nicht zu sehr verteufeln – denn verbotene Kirschen schmecken besonders süss”, sagt Ulrike Herr, selbst Mutter von zwei Töchtern. Einerseits kommt es ihrer Überzeugung nach auf das Vorbild an. Das Rauchverbot an die Jugendlichen klingt aus dem Mund eines qualmenden Vaters nicht sonderlich überzeugend. Andererseits sollten Eltern ihren Kindern auf partnerschaftlicher Ebene begegnen, ihr Selbstbewusstsein stärken und ihnen deutlich machen, dass sie den Zigarettenkonsum überhaupt nicht nötig haben. Wer Söhne gegen das Rauchen einnehmen will, findet noch ein zusätzliches Argument: Der Qualm greift nicht nur die empfindlichen Blutgefässe im Herzen an, sondern auch im Penis. Alleine in der Schweiz haben schätzungsweise 18.000 Männer Erektionsstörungen, die auf das Konto des Tabaks gehen. Jeder Zug an einer Zigarette bekommt für Männer bei der Vorstellung, wegen der Nikotinsucht eines Tages im Bett nicht mehr zu können, einen bitteren Beigeschmack.

Datum: 08.07.2002
Autor: Marcus Mockler
Quelle: idea Deutschland

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