Wenn das Kind “Schadensfall” wird

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Jüngst ist ein weiterer Rechtsstreit über einen, wie es in der Sprache der Gerichte heisst, “Unterhaltsschaden der Eltern bei unterbliebenem Schwangerschaftsabbruch” vom deutschen Bundesgerichtshof entschieden worden. Die beklagte Ärztin wurde zur Erstattung des Unterhalts für das Kind verpflichtet. Die Eltern warfen der Ärztin vor, Fehlbildungen während der Schwangerschaft pflichtwidrig nicht erkannt zu haben, und machten geltend, die Mutter hätte sich bei Kenntnis der schweren Behinderung für einen rechtlich zulässigen Schwangerschaftsabbruch entschieden.

Ähnliche Fälle und Entscheidungen hat es seit den 80er Jahren mehrfach gegeben. Sie sind unter der Kurzbezeichnung “Kind als Schadensfall” bekanntgeworden. Regelmässig führen sie - aus nur zu verständlichen Gründen - zu grosser Empörung: Was für ein Durcheinander in der Wertorientierung unserer Gesellschaft richten wir an, wenn die Geburt eines Menschen rechtlich als Schadensfall verstanden wird? Die schärfste Kritik an der jüngsten Entscheidung des Bundesgerichtshofs gipfelte in dem Vorwurf, das Grundgesetz sei bei ihm “nicht in guten Händen, weil er das Recht nicht mehr zum Schutz des Schwächsten, nämlich ungeborener, kranker Kinder, in Anwendung bringt”.

Bundesverfassungsgericht gespalten

Die Sachlage ist freilich kompliziert. Weshalb sollen alle Ärzte für schuldhafte Fehldiagnosen haften, nur nicht die Frauenärzte für die schuldhaft falsche Beurteilung einer Schwangerschaft? Wären die Eltern in dem jüngsten Fall über die vorauszusehende Behinderung ihres Kindes korrekt informiert worden und hätte daraufhin eine Abtreibung stattgefunden, so hätte dies kaum jemand bemerkt und sich darüber erregt. Jetzt, wo die Eheleute sich des Kindes angenommen haben, sollen sie sich wegen ihrer Klage schief ansehen lassen - und mit ihnen die Richter?

Es wird schwer, vielleicht unmöglich sein, einen Ausweg aus dem rechtlichen Dilemma zu finden. Das zeigt sich ja auch daran, dass selbst das Bundesverfassungsgericht in seiner Beurteilung gespalten ist. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat 1993 die Feststellung getroffen, eine rechtliche Bewertung des Daseins eines Kindes als Schadensquelle sei mit der Verfassung, nämlich mit dem Schutz der Menschenwürde, nicht vereinbar. Der Erste Senat hingegen hat die Rechtsprechung zum “Kind als Schadensfall” 1997 ausdrücklich bestätigt.

Nationale Stiftung für behinderte Kinder

In dieser Lage hilft wohl nur ein ganz neuer Lösungsansatz weiter. Er könnte darin bestehen, die Klagen auf Schadensersatz bei der Geburt eines behinderten Kindes faktisch überflüssig machen. Also: wirksame Hilfe statt blosser Empörung. Robert Leicht hat vor einigen Tagen (in der ZEIT vom 27. Juni 2002) folgenden Lösungsweg beschrieben: “Der Staat gründet eine nationale Stiftung, aus deren Mitteln allen Eltern geholfen wird, die ein behindertes Kind zu versorgen haben.

Die Hilfe bemisst sich nach der Höhe des zusätzlichen Pflegeaufwandes, der den normalen Kindesunterhalt übersteigt ... Den betroffenen Eltern würde künftig eine makabre und unwürdige Klage erspart. Und uns allen bliebe eine beklemmende und empörende Situation erspart, für die wir gleichwohl keine Abhilfe wissen. Einfach und billig mag der Weg nicht sein. Aber wer keinen besseren weiss, muss aufhören, über diese Schadensersatzforderungen und höchstrichterlichen Urteile zu klagen.” (Der Autor, Vizepräsident Hermann Barth (Hannover), ist theologischer Leiter des Kirchenamtes der EKD)

Datum: 08.07.2002
Quelle: idea Deutschland

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