Win-win

Interessen offenlegen, verhandeln und gewinnen

Wer Lösungen für alle will, muss eine «win-win-Situation
Glückliche Frauen
Optimistische Jugendliche

» anstreben. Nur: Was ist eigentlich eine «win-win-Situation»? Warum dieser Anglizismus, diese Entlehnung aus der Wirtschaft? Riecht irgendwie nach Kapitalismus. Genügt da nicht der einfache Satz: «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst»?

Nun, manchmal setzen sich Ideen durch, wofür die deutsche Sprache im 21. Jahrhundert keine geeigneten Begriffe hat. Ob uns das gefällt oder nicht.

Gewinn optimieren

Bei einer «win-win-Situation» geht es darum, dass beide Parteien gewinnen. Es geht nicht darum, zu schnell einen faulen Kompromiss hinzubekommen, sondern ernsthaft und mit ganzer Kraft dafür zu sorgen, dass Lösungen von allen getragen, von allen akzeptiert und von allen durchgesetzt werden. Manche gehen noch weiter: Bei einer echten «win-win-Situation» geht es nicht nur um Ausgleich. Es geht darum, dass neue, überraschende Lösungen entstehen: Eins plus eins ergibt dann drei. Am Ende stehen Gewinnsteigerung und Gewinnoptimierung. Ein Gewinn, der für alle Bereiche des Lebens gilt: seelisch, moralisch, geistig, geistlich und auch ökonomisch.

Altruismus versus Egoismus

Wahre Christen aber wissen: Es geht nicht darum, dass wir gewinnen. Es geht darum, das Wohl des Anderen und nicht das meinige vor Augen zu haben. Nichts scheint da schwieriger, als das richtige Verhältnis zwischen Altruismus und Selbstliebe zu finden. Wenn es das überhaupt gibt: das richtige Verhältnis. Mathematisch gesehen schon mal gar nicht. Und doch ist zentral wichtig, dass ich alle Bedürfnisse berücksichtige und Verantwortung dafür übernehme.

Noch hat es niemandem wirklich genützt, dass ich entweder nur an mich oder nur an den Anderen gedacht habe. Da wird viel gelogen, auch unter den Frommen, egal, welcher konfessionellen Zugehörigkeit. Martin Grabe, Chefarzt der Klinik Hohe Mark, sagt dazu: «Da wird häufig vergeistlicht. Man möchte beispielsweise auf keinen Fall geltungsbedürfig daherkommen und sagt sich: 'Dieses eitle Bedürfnis muss weg.' Und nachher ärgert es einen doch. Stattdessen wäre es viel wichtiger zu sagen: 'Doch, ich möchte gerne, dass mein Name auf der Homepage auch erscheint.' Oder: 'Liebe Leute, mir wurde die Leitung übertragen, nun lasst mich das so machen, wie ich es für richtig halte.' Wenn das nicht offen geschehen darf, wird das Ganze doch sehr verklemmt. Grosse Entspannung tritt ein, wenn man sich das in einer Gemeinschaft erlaubt», so Grabe.

Wenn alle gewinnen, sind auch alle glücklich

Erkenntnisse aus der ökonomischen Glücksforschung, unter anderen von Dr. Rudolf Frey an der Universität Zürich getätigt, scheinen neue Erfahrungen ins Spiel zwischen Egomanen und Selbstlosen zu bringen. Seine Forschungen wollen belegen, dass eine Ehe beispielsweise glücklicher macht als der glitzernde «Ferrari». Wer in Beziehungen investiert und sich für Andere ehrenamtlich einsetzt, gewinnt an Glücksmomenten. Der Glücksmoment beim «Ferrari» nutzt sich ab, nicht aber der einer erfolgreichen Beziehung. Dieses kann dort trotz Krisen wiederkommen und stetig Zufuhr erfahren. Die Publikationen von Frey relativieren das ökonomische Glück und ordnen es in einen grösseren Werte- und Erfahrungszusammenhang ein.

Aufrichtigkeit im Umgang mit sich selbst

Wer Interessen offenlegt oder es wagt, die Frage zu stellen, welchen Gewinn er in einer Sache davonträgt, gerät schnell in den Verdacht, schnödem Narzissmus zu frönen. Lieber gestatten wir uns Jammerrunden oder pflegen triefende Opfergefühle, als dass wir Verantwortung für eigene, egoistische Regungen und die Anderer übernehmen. «Willst du der Anderen Führer sein, dann schau erst in dich selbst hinein», sagt Kommunikationsforscher Friedemann Schulz von Thun. Nach innen klären. Keine geheimen Spielchen, sondern Interessen offenlegen. Dann erst ist  «win-win» möglich.

Je nach Prägung lauert hier oder dort aber der Selbstbetrug. Doch die Seele redet Wahrheit. Wenn wir ihr nichts gönnen, sie also nicht ab und an fragen, was sie gewinnt und was sie braucht, holt sie es sich auf neurotischem Weg. Und wird krank. Etwas, das Grabe aus seiner Arbeit gut kennt. «Die Themen Altruismus und Narzissmus sind kein spezifisch christliches Problem. Aber im christlichen Raum gibt es durchaus übertriebenen Altruismus, der oft auch mit Bibelversen begründet wird. Ob es bei einer aufopfernden Hausfrau und Mutter ist, einem Lehrer oder in klassischen Helferberufen. Altruismus ist ein schillernder Begriff. Hinter einer auf den ersten Blick ethisch hochstehenden Selbstlosigkeit kann sich verbergen, dass ein Mensch sich selbst hochstilisieren und manipulieren (narzisstisch aufwerten) möchte. Das könnte z.B. in einer Gemeinde ein Lobpreisleiter sein, der 'nur dienen will', aber keinen neben sich duldet. Oder ein Pastor, der unglaublich viel arbeitet, dabei aber auch alles alleine bestimmt und Widerspruch als geistliches Problem der Betreffenden deutet.»

Schlampiges Netzwerken versus «erwachsenes» Netzwerken

«Win-win-Situationen» suchen heisst in einem Betrieb, auf Kooperation zu setzen. Dies entgegen der Meinung, dass man mit hierarchischen Systemen und Machteinsatz personell und sozial Gewinne einfahren kann. Kurzfristiges Powerplay mag zwar dem Boss seelisch-emotional Gewinn bringen. Wenn ihm aber langfristig niemand seine Unternehmensziele abkauft, bringt das weder monetär noch auf der Beziehungsebene Erträge ein. Wenn jedoch Kontrollwirtschaft durch Beziehungswirtschaft ersetzt und Organisationsgrenzen gesprengt werden, entsteht Platz für Kooperationen und gewinnbringende Netzwerke.

Aber auch da gilt es, den Cocktail an Interessen zu prüfen. «Sind wir nicht alle irgendwie Netzwerker?», spottet Wolf Lotter im Wirtschaftsmagazin «brandeins». Und fragt sich, ob man das, was gemeinhin als Netzwerken bezeichnet wird, wirklich eine Beziehung nennen oder nicht besser als ein schlampiges Verhältnis bezeichnen sollte. Da hat ein virtueller Netzwerker 120’000 Freunde im Facebook und lässt seine engsten Beziehungen schleifen. «Erwachsene Beziehungen dagegen erkennt man daran, dass man vortrefflich miteinander streiten kann», so Lotter. Auch und besonders offline. Von Angesicht zu Angesicht. Und der Autor fährt fort: «Eine Beziehung ist kein Geschenk – sie ist ein Geschäft. Ein Deal. Quid pro quo. Dieses für jenes. Man muss verhandeln wollen, einen Konsens finden und sich überlegen: Was gewinne ich hinzu? Klarere Regeln, klarere Rechte und Pflichten und Verbindlichkeit. Wer Beziehung sucht, muss sich erklären. Klar und deutlich. Das muss zum Alltag werden.»

Win-win: Ein kreativer Vereinbarungsprozess

Denselben Zusammenhang begründet Steven Covey in seinen Überlegungen zur erfolgreichen Mitarbeiterführung weniger wirtschaftlich, sondern entlang moralischer Prinzipien: «Gewinn/Gewinn Vereinbarungen ermöglichen viel mehr Flexibilität, Anpassung und Kreativität als job descriptions, die ja primär auf die Schritte und Methoden fokussiert sind. In den Unternehmen bedeutet Gewinn/Gewinn, dass die vier Bedürfnisse des Mitarbeiterindividuums (physisch-wirtschaftlich; mental: Wachstum und Entwicklung; sozial-emotional: Beziehungen; spirituell: Sinn und Beitrag) berücksichtigt werden», so Covey. Nichts kann besser beschreiben, was «integriertes Christsein» meint. «Im Kern liegt dort das eigentliche Heilungspotenzial des Christentums. Einem Menschen wird angeboten, in eine echte Beziehung, in ein grosses Wir einzutreten. Und was kann es Heilenderes geben als das Wissen: 'Mein grösster Boss findet mich richtig gut!'» so Therapeut Martin Grabe.

Win-win im Alten Testament

Die Bibel ist voll mit Geschichten von Menschen, die mit Gott auf Augenhöhe «win-win-Situationen» angestrebt und erreicht haben. Die Haltung «Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn» (Jakob in 1. Mose, Kapitel 32) könnte man als die Suche nach einer echten «win-win-Lösung» zwischen Gott und Mensch beschreiben. Auch die Frage an Gott, was es ihm denn nütze, wenn er seinen Namen in der Welt nicht verteidigen, salopp gesagt, nicht gewinnbringend einbringen wolle (Jeremia, Kapitel 14, Vers 21), könnte in diese Richtung gedeutet werden. Zu solch mutigem Reden mit Gott fordert Richard Forster auf: «Wir bestehen darauf, dass Änderungen gemacht werden. Biblisches Gebet ist impertinent, beständig, schamlos und unschicklich. Es ist eher wie das Feilschen auf einem Basar, als wie die höflichen Monologe der Kirchen.»

Zur Autorin:

Dorothea Gebauer ist Kulturjournalistin und Mediensprecherin des Theologischen Seminars Bienenberg.

Datum: 25.09.2013
Autor: Dorothea Gebauer
Quelle: Magazin INSIST 4/11

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