Zurück zur Neuzeit

Warum Aberglaube, Irrationalität und Co auf dem Vormarsch sind

«Zurück in die Zukunft» heisst eine Science-Fiction-Trilogie aus den 1980er-Jahren. «Voran in die Vergangenheit» könnte man die These des Historikers Volker Reinhardt überschreiben. Er beobachtet, dass in unserer postmodernen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts Denkmuster und Werte der frühen Neuzeit eine Art Auferstehung feiern.
Wahrsagerin

Eigentlich ist Volker Reinhardt Spezialist für die frühe Neuzeit und da besonders für die italienische Renaissance. Doch in der Neuen Zürcher Zeitung begründet er ausführlich, warum Mentalitäten, Bewusstseinshorizonte, Welterklärungen und Werthaltungen des 16. und 17. Jahrhunderts heute eine fröhliche Wiederkehr feiern. Natürlich sind es nicht exakt die gleichen gesellschaftlichen Phänomene, aber sie sind für den Historiker sehr eng mit ihnen verwandt.

Ablehnung von Naturwissenschaften

Das erste Symptom ist die Diskreditierung der Naturwissenschaften. 1632 musste Galileo Galilei dem kopernikanischen Weltbild abschwören – also dem Wissen, dass die Erde sich um die Sonne dreht. Damit konnte sich die Physik zunächst nicht gegen ein theologisch-motiviertes Weltbild durchsetzen. Seit dem 18. Jahrhundert jedoch triumphierte die Wissenschaft auf breiter Front. Reinhardt sieht diesen wissenschaftlichen Vorrang bis 1945 andauern. Doch nach Hiroshima begann er sich ins Gegenteil zu verkehren: «der Naturwissenschaftler als Zauberlehrling, der seine Formeln nicht mehr unter Kontrolle hat». Zunehmend erzeugt Wissenschaft Angst statt Glück; sie bietet auch dem modernen Menschen kein emotionales Zuhause.

Rückkehr der Orakel

Das zweite Symptom ist die Rückkehr der Orakel. Zwar wird Jenseitigkeit, wie sie in den Kirchen angeboten wird, von vielen Menschen abgelehnt. Gleichzeitig boomt aber der private Esoterikmarkt: «Handlinien-Leser, Glaskugel-Seher, Sterndeuter können sich vor Nachfrage kaum retten… Heute erweitern Schamanen, Voodoo-Priester und selbsternannte Hexen das Angebot.» Als Grund nennt Reinhardt den Verlust des Besonderen durch die Wissenschaft. Der Mensch scheint nur ein Objekt zu sein und nicht mehr Krone der Schöpfung – dies nimmt man aber gern für sich persönlich in Anspruch.

Übernatürliche Erscheinungen

Das dritte Symptom ist die Normalität des Übernatürlichen. Sie reicht vom «Tatort» im Fernsehen, in dem eine Wiedergängerin die Handlung bestimmt («Fürchte dich» vom 29.10.17) bis hin zum selbstverständlichen Glauben an Werwölfe, Zombies oder Vampire – als bewiesene Realität. Reinhardt ergänzt leicht sarkastisch: «Das Zugeständnis an den Zeitgeist besteht allein darin, dass die Hexe des 21. Jahrhunderts überwiegend Gutes tut.»

An den Pranger gestellt

Das vierte Symptom ist die Rückkehr des Prangers. Jahrhundertelang setzte die Gerichtsbarkeit auf Hinrichtungen und Strafen, die wie Volksfeste inszeniert wurden. Relativ spät erst kamen solche öffentlichen Gewaltakte aus der Mode. Doch laut Reinhardt ist der Pranger wieder zurückgekehrt: in digitalisierter Form. Was früher auf dem Marktplatz stattfand, geschieht heute als Shitstorm bei Facebook oder als üble Online-Beschimpfung.

Umgang mit dem Zeitgeist

Demütigung, Ritualisierung, Familie… Die Liste geht noch weiter. Und die Herleitungen des Historikers erscheinen keineswegs an den Haaren herbeigezogen. Sie leuchten ein. Bleibt die Frage, wie wir als Teil dieser Gesellschaft mit diesen Phänomenen umgehen können. Wissenschaftliche Überheblichkeit («Da steh ich drüber – ich denke aufgeklärt») ist genauso realitätsfremd wie christlicher Dünkel («Gut, dass wir dem Wort Gottes und nicht dem Zeitgeist folgen»). Eine Verwissenschaftlichung der Welt löst dieses Problem offensichtlich nicht. Ein Rückfall in mittelalterlichen Aberglauben auch nicht. Doch einige Phänomene offenbaren Sehnsüchte, auf die der christliche Glaube durchaus tragfähige Antworten hat. Gott widerspricht nicht wissenschaftlichen Erkenntnissen, aber er betont, dass er uns als Menschen geschaffen, uns dadurch Würde verliehen und Aufgaben gegeben hat.

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Datum: 09.12.2017
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet / NZZ

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