Moderne Sexualpädagogik

«Schamlos im Klassenzimmer» oder Sieg der Toleranz?

Unter dem Titel «Schamlos im Klassenzimmer» mischt sich Bernd Saur, Vorsitzender des Philologenverbands in Baden-Württemberg, im Nachrichtenmagazin «Focus» in die aktuelle Diskussion um den neuen Bildungsplan ein. Er malt darin ein gruseliges Szenario der modernen Sexualerziehung – und lehnt dieses Szenario zu Recht ab. Doch wie vollständig ist sein Bild? – Ein Kommentar von Hauke Burgarth
Sexualkunde in der Schule.
Hauke Burgarth

Eine «Sexualpädagogik der Vielfalt» ist das Ziel der Bildungsplan-Reform in Baden-Württemberg. Andere deutsche Bundesländer wie Berlin und Rheinland-Pfalz haben dies längst umgesetzt – ohne grosses Medienecho. Doch das Arbeitspapier aus dem deutschen Süden stösst auf gewaltigen Widerspruch – gerade von vielen Christen.

Pornografisierung der Schule

«Oral- und Analverkehr und sonstige Sexualpraktiken inklusive Gruppensex-Konstellationen, Lieblingsstellung oder die wichtige Frage 'Wie betreibt man einen Puff' sollen in den Klassenzimmern diskutiert werden», entrüstet sich Bernd Saur (60), der als Vorsitzender des Philologenverbands in Baden-Württemberg zur Bildungsplankommission gehört, im Nachrichtenmagazin «Focus». «Das sprengt eindeutig den Rahmen dessen, was Kindern zugemutet werden darf.» In diesem Zusammenhang spricht er von einer «Übersexualisierung, ja Pornografisierung der Schule», die er als Anschlag auf das natürliche Schamempfinden sieht, als eine Art «staatlich sanktionierte Vergewaltigung der Kinderseele». Saur steht mit seinem Vorwurf nicht allein. Zahlreiche Christen protestierten und protestieren noch gegen eine Umsetzung des Arbeitspapiers in der vorliegenden Form. Sie sehen dabei das christliche Familienbild von der Gender-Ideologie bedroht.

Die von Saur zitierten Auswüchse, die angstmachenden Vorstellungen eines übergriffigen Sexualkundeunterrichts, grenzen für mich (als Nichtjuristen) bereits an den Tatbestand des Missbrauchs. Religiöse Gefühle und Glaube werden hier vollständig missachtet, aber auch das Kindeswohl spielt keine Rolle mehr.

Werbung für Toleranz

Basis der Änderungsvorschläge für den neuen Bildungsplan sind Leitlinien, die sich erst einmal vernünftig anhören. Eine darin lautet: «Schülerinnen und Schüler kennen die verschiedenen Formen des Zusammenlebens von/mit LSBTTI-Menschen und reflektieren die Begegnungen in einer sich wandelnden, globalisierten Welt.» (Das Kürzel LSBTTI steht für lesbische, schwule, bisexuelle, transsexuelle, transgender und intersexuelle Menschen.) Dieser in weiten Teilen sinnvolle Ansatz wird allerdings durch die oben beschriebenen Ideen zur Umsetzung stark infrage gestellt. Ein weiterer Kritikpunkt ist: «Wer das liest, wird sich des Eindrucks kaum erwehren können, dass es sich eher um ein in den Lehrplan umgewandeltes Parteiprogramm handelt als um Bildungsziele.» So urteilt jedenfalls Heike Schmoll von der FAZ – und sie bezieht sich in ihrer Kritik längst nicht nur auf sexualethische Fragen.

Einseitigkeit ist nicht hilfreich

«Angst ist ein schlechter Ratgeber.» Dieses Sprichwort gilt für beide Parteien in der Diskussion. Manche Befürworter des neuen Bildungsplans gehen sachlichen Einwänden aus dem Weg und verunglimpfen Kritik von Christen als mittelalterlich, intolerant, rückwärtsgewandt oder fundamentalistisch. Diese Einseitigkeit ist nicht hilfreich – es geht um demokratisch legitime Äusserungen von Eltern, die das Beste für ihre Kinder wollen.

Manche Gegner des Bildungsplans reden von einer Gender-Verschwörung, einer geplanten Indoktrinierung und haben Angst davor, dass ihre Kinder sexuell «umerzogen» würden. Auch diese Einseitigkeit ist nicht hilfreich – mit einem Verschwörer kann man nicht reden, mit einem Abgeordneten, der eine andere Meinung vertritt, sehr wohl.

Vergesst die Lehrer nicht

Ich denke zurück an meine Schulzeit, lasse meine Lehrer Revue passieren – darunter waren Kommunisten genauso wie sehr weit rechts angesiedelte Personen. Haben sie mich beeinflusst? Ja. Indoktriniert? Nein, sicher nicht.

Ich denke an die Lehrerinnen und Lehrer unserer Kinder. Längst nicht immer waren wir mit diesen Pädagoginnen und Pädagogen einer Meinung. Aber wir haben das Gespräch gesucht. Und konnten uns praktisch immer beim gemeinsam gesuchten Kindeswohl treffen.

Offensichtlich lässt sowohl die Kritik am Bildungsplan als auch die Werbung dafür eine ganz wichtige Komponente ausser acht: die Lehrer. Ungeachtet mancher Extreme in den Bildungsplänen sind sie es, die den Unterricht durchführen. Und dabei stärker als manche Politiker auf Machbarkeit, Schamgrenzen und das Wohl «ihrer» Kinder allgemein achten.

Einmischen bleibt sinnvoll

Manch einer mag bei der jetzt geführten Diskussion in Sprichwörtern denken: «Abwarten und Tee trinken.» Doch Aussitzen ist für mich in diesen Fragen keine Option. Es geht um die schulischen Rahmenbedingungen für die nächsten Jahre und Jahrzehnte. Ich wünsche mir, dass die Schule Sexualität auch in Zukunft mit Feingefühl thematisiert und nicht übergriffig. Und ich wünsche mir, dass sie Toleranz gegenüber anderen Lebensentwürfen und sexuellen Ausrichtungen auch in Zukunft vorlebt und lehrt. Und dafür mische ich mich ein.

Datum: 25.10.2014
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet

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