Ein Jahr nach der Revolution

Wird aus dem arabischen Frühling ein Winter?

Das neue ägyptische Parlament besteht zu 75 Prozent aus Islamisten und pocht auf strenge, koranische Regeln. Die Kopten hoffen auf Druck aus Europa, damit sich ihre Nation nicht in einen Gottesstaat nach iranischem Vorbild wandelt.
Das ägyptische Parlamentsgebäude

«Neun Millionen Stimmen gingen zu Unrecht an die islamistischen Kräfte». Diese Schlagzeile dominiert seit Tagen die ägyptische Presse. Aus Katar, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten flossen Bestechungsgelder. die ägyptische Tageszeitung «el-Yaoum7» berichtete von hunderten Millionen ägyptischen Pfund, die beispielsweise von der privaten, radikal-islamischen «Katar Foundation» den Weg in die Taschen von Behörden und Stimmenzählern gefunden haben sollen. Andere Artikel berichten davon, dass ein Mitglied der Muslimbrüder seine Stimme rund dreissig Mal abgeben konnte, weil er mit so vielen Stimmausweisen «ausgerüstet» wurde.

Kopten wollen zivilen Staat

Medhat Klada, Autor und Vorsitzender des Dachverbandes der europäischen Kopten, sagte gegenüber livenet.ch: «Die Kopten kämpfen für einen zivilen Staat, nicht für einen religiösen.» Sehr wichtig sei deshalb die Verfassung. «Es ist für uns nicht erheblich, ob ein Muslim oder Christ an der Macht ist. Wichtig ist für uns, dass die Gewählten für Ägypten arbeiten.» So habe Papst Shenouda III. vor den Wahlen gefordert, dass die Kopten wählen gehen und dabei der Qualität den Vorrang geben, nicht dem religiösen Hintergrund. «Wenn ein Muslim geeigneter wäre, solle man ihn wählen, sagte unser Patriarch.»

Scharia wichtiger als Verfassung

Die Muslimbrüder erhielten 47 Prozent der Stimmen und die meist bärtigen Salafisten einen Viertel. Am Montag wurde das neue Parlament vereidigt. «Dieses Parlament ist eine der Forderungen der Revolution», hiess es laut der Zeitung «Die Presse» auf einem Transparent, das Demonstranten hochhielten, während die 498 Abgeordneten an ihnen vorbeizogen. Bei der mehrere Stunden dauernden Ablegung des Eides jedes einzelnen Abgeordneten kam es zu ersten Unterbrechungen, als Mamdouh Ismail, ein Mitglied der Salafisten, seinen Eid auf die Republik und Verfassung mit dem Zusatz versah, «solange das nicht dem Gesetz Gottes widerspricht», also der Scharia. Laut der «Presse» forderte ihn der kommissarische Parlamentssprecher Mahmud El-Sakka darauf unter Applaus des Parlaments auf, den Eid ohne Zusatz zu wiederholen.

Medhat Klada sagt, die Kopten hätten Angst: «Den Beschwichtigungsversuchen der Muslimbrüder trauen wir nicht, auch wenn sie sich in letzter Zeit ungewohnt moderat darstellten.» Denn ihre Anhänger hätten in der über 80-jährigen Geschichte stets jede Gelegenheit genutzt, das Land zu islamisieren.

Salafisten werden forscher

Wörter wie «Menschenrechte», «Demokratie» oder «Religionsfreiheit» würden völlig anders interpretiert, als im Westen. «Religionsfreiheit» bedeutet, dass man vom Christentum zum Islam konvertieren darf. Wer den Islam aber verlässt, wird verfolgt.
Medhat Klada gegenüber der «Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte» (IGFM): «Von Europa erhoffen wir uns, dass Druck auf Ägypten ausgeübt wird, um zu verhindern, dass Ägypten ein islamistischer Staat nach dem Vorbild von Saudi-Arabien und Iran wird.»
 
Seit dem Triumph der Salafisten treten diese radikaler auf und fordern Badekleider statt Bikinis an den Stränden und Alkoholverbote. Und sie betrachten die Pyramiden als Zeugnisse einer Kultur von Ungläubigen, die verdeckt werden müssen.

Gestohlene Revolution

Zuerst verschmolzen Christen und Muslime zu einer friedlichen Revolution. «Bis sich die Islamisten politisch einmischten», erinnert sich Medhat Klada. «Statt zur Einheit, riefen sie „Islameya, islameya“, das heisst „Islamisch“. Sie spalteten die Revolution in zwei Lager; in eines, das einen Zivilstaat wollte, und eines, das einen islamischen forderte. Aus der Einheit wurde Uneinheit und sogar Streit. Dabei demonstrierten Muslime und Kopten vor einem Jahr wie Brüder mitten in Kairo.»
 
Die Kopten scheinen Bürger zweiter Klasse zu bleiben. «Aussichten auf eine Gleichberechtigung sind heute infolge der allgegenwärtigen Politisierung des Islams düsterer als je zuvor. Sämtliche Hoffnungen auf einen säkularisierten ägyptischen Staat, in dem Gleichberechtigung und Toleranz als Massgabe dienen, sind verzogen.»
Heute sei erkennbar, dass die Zukunft Ägyptens nicht in der Moderne liegt. «Fakt ist: Ohne massiven westlichen Einfluss werden Gleichberechtigung und Demokratie in Ägypten zur Farce.»

Vielfältige Kopten

Der grösste Teil der Kopten – was übersetzt nichts anderes als «Ägypter» bedeutet – zählt sich zur orthodoxen Kirche. Aber auch katholische, evangelische und freikirchliche Christen bezeichnen sich als Kopten, wie livenet.ch im Kontakt mit Vertretern verschiedener Konfessionen in Erfahrung brachte. Auch erhält gegenseitige Solidarität den Vorzug gegenüber früheren Vorbehalten.
Je nach Quelle unterscheidet sich die Anzahl der in Ägypten lebenden Kopten erheblich: Die Spannweite reicht von 9 bis 15 Millionen.

Datum: 25.01.2012
Autor: Daniel Gerber
Quelle: belivenet.ch

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