Nicht nur für Katholiken

Fünf Lektionen zu «Heilig leben im Alltag»

Natürlich ist er katholisch, der Papst. Aber er bringt immer wieder Dinge auf den Punkt, die auch für Evangelische wichtig sind. Wie zum Beispiel in seiner neuesten Lehrschrift «Gaudete et Exsultate – ein Ruf zur Heiligkeit in der heutigen Welt».
Papst Franziskus

Papst Franziskus macht den Spagat: Er lebt ein intensives geistliches Leben und ist gleichzeitig zutiefst an den Nöten der Menschen von heute interessiert und beteiligt. Seine letzte Lehrschrift heisst «Gaudete et exsultate» («Freut euch und jubelt», ein Zitat aus Matthäus, Kapitel 5, Vers 12). Ein guter Teil von dem, was er darin den Katholiken sagt, ist für Evangelikale ebenfalls hochaktuell. Hier fünf Erkenntnisse und Ermahnungen zur Reflexion:

1. Nicht nur ich, sondern ein Volk

«Der Herr hat in der Heilsgeschichte ein Volk gerettet. Es gibt keine vollständige Identität ohne Zugehörigkeit zu einem Volk. Deshalb kann sich niemand allein, als isoliertes Individuum, retten, sondern Gott zieht uns an, wobei er das komplexe Geflecht zwischenmenschlicher Beziehungen berücksichtigt, das der menschlichen Gemeinschaft innewohnt: Gott wollte in eine soziale Dynamik eintreten, in die Dynamik eines Volkes.» (Artikel 6)

Es gibt unter Evangelikalen eine deutliche Tendenz zum Individualismus. «Ich» bekehre «mich», die «persönliche Beziehung» zu Jesus wird betont, und in der «Stillen Zeit» geht es vor allem um Gott und mich. Das ist alles in Ordnung, hat aber eine Kehrseite: Jeder sucht sich die Gemeinde und die geistlichen Leckerbissen aus, die ihm munden. Und wenn es nicht passt, gehe ich halt woanders hin. Unser Individualismus birgt immer die Gefahr in sich, dass das Volk, das sich Gott beruft, und die Gemeinschaft als beliebiges Anhängsel betrachtet wird statt als zentrales Element des Heils.

2. Das Leben hat nicht eine Mission, sondern ist eine Mission

Kann der Heilige Geist uns etwa dazu anspornen, eine Mission zu erfüllen, und uns gleichzeitig auffordern, vor ihr zu flüchten oder uns nicht ganz hinzugeben, um den inneren Frieden zu bewahren? Manchmal sind wir jedenfalls versucht, die pastorale Hingabe oder das Engagement in der Welt als zweitrangig zu betrachten, als wären sie «Ablenkungen» auf dem Weg der Heiligung und des inneren Friedens. Man vergisst dabei, dass «das Leben nicht eine Mission hat, sondern eine Mission ist». (27)

Evangelikale sind von Natur aus Aktivisten. Wir fühlen uns nicht wohl, wenn wir nicht irgendein christliches Programm zu verfolgen haben. In Gemeinden geht es gern um Zahlen und Ziele. Als Reaktion darauf gibt es dann oft Bewegungen und Strömungen, die uns auf die meditative Schiene bringen wollen. Wenn der Papst Xavier Zubiri mit dem Wort zitiert «Das Leben hat nicht eine Mission, sondern ist Mission», ruft genau das zum ausbalancierten Lebensstil auf. Unser Dienst besteht nicht nur aus konkreten Programmen, sondern ist ein komplexes Gewebe aus Arbeit, Ruhe, Gemeinschaft und Beziehungen mit Gott und Menschen.

3. Der innere Raum der Ruhe

Das bedeutet nicht, die Momente der Ruhe, der Einsamkeit und der Stille vor Gott zu verachten. Ganz im Gegenteil. Die ständig neuen technologischen Errungenschaften, die Attraktivität des Reisens, die unzähligen Konsumangebote lassen nämlich dem Erklingen der Stimme Gottes manchmal keinen Raum. Alles füllt sich in immer grösserer Geschwindigkeit mit Worten, oberflächlichem Genuss und Lärm. Dort herrscht keine Freude, sondern die Unzufriedenheit derer, die nicht wissen, wofür sie leben. Wie können wir da nicht erkennen, dass wir dieses hektische Rennen stoppen müssen, um einen persönlichen Raum wiederzuerlangen, was manchmal schmerzhaft, aber letztlich immer fruchtbar ist, in dem ein aufrichtiger Dialog mit Gott aufgenommen wird? Irgendwann werden wir uns mit der Wahrheit über uns selbst konfrontieren müssen, um sie vom Herrn durchdringen zu lassen… (29)

Dieser Text spricht für sich selbst.

4. Wenn die richtige Lehre und Erkenntnis an erster Stelle steht

Franziskus warnt vor zwei historischen Ablenkungen von der biblischen Heiligkeit, dem Gnostizismus und dem Pelagianismus. Der Gnostizismus glaubt an die eigene Erkenntnis (Gnosis). «Der Gnostizismus setzt einen im Subjektivismus eingeschlossenen Glauben voraus, bei dem einzig eine bestimmte Erfahrung oder eine Reihe von Argumentationen und Kenntnissen interessiert, von denen man meint, sie könnten Trost und Licht bringen, wo aber das Subjekt letztlich in der Immanenz seiner eigenen Vernunft oder seiner Gefühle eingeschlossen bleibt. (…) Denn es ist gerade den Gnostikern eigen zu glauben, dass sie mit ihren Erklärungen den ganzen Glauben und das ganze Evangelium vollkommen verständlich machen können. Sie verabsolutieren ihre eigenen Theorien und verpflichten die anderen, sich den von ihnen genutzten Argumentationen zu unterwerfen.» (35)

Grosse Teile des historischen Evangelikalismus betonen die richtige Lehre. Für das Geheimnis ist kein Raum. Und in den Streitigkeiten, die in der evangelischen Welt bis heute nicht ausgestorben sind, geht es immer um Lehrgebäude gegen Lehrgebäude, Erkenntnis gegen Erkenntnis. Darum warnt Franziskus: «Wenn jemand Antworten auf alle Fragen hat, zeigt er damit, dass er sich nicht auf einem gesunden Weg befindet; möglicherweise ist er ein falscher Prophet, der die Religion zu seinem eigenen Vorteil nutzt und in den Dienst seiner psychologischen und geistigen sinnlosen Gedankenspiele stellt. Gott übersteigt uns unendlich, er ist immer eine Überraschung, und nicht wir bestimmen, unter welchen geschichtlichen Umständen wir auf ihn treffen.»

5. Verbale Gewalt im Internet

Schliesslich eine sehr praktische Ermahnung: Franziskus warnt vor dem «Netzwerk verbaler Gewalt», das das Internet und soziale Medien oft charakterisiert. Gerade Menschen, die meinen, «die Wahrheit verteidigen zu müssen», können sehr hitzige Gefechte im Internet führen. «Auch Christen können über das Internet und die verschiedenen Foren und Räume des digitalen Austausches Teil von Netzwerken verbaler Gewalt werden. (…) So entsteht ein gefährlicher Dualismus, weil in diesen Netzwerken Dinge gesagt werden, die im öffentlichen Leben nicht tolerierbar wären, und man versucht, im wütenden Abladen von Rachegelüsten die eigene Unzufriedenheit zu kompensieren. Es ist auffällig, dass unter dem Vorwand, andere Gebote zu verteidigen, das achte Gebot – 'Du sollst kein falsches Zeugnis geben' – zuweilen komplett übergangen und das Ansehen anderer gnadenlos zerstört wird.» (115) 

Die Lehrschrift «Gaudete et exsultate» auf Deutsch

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Datum: 18.04.2018
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet / Christian Today

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