FASD-Syndrom

Wir haben ein Alkoholproblem!

Alkoholkonsum in der Schwangerschaft bringt für die betroffenen Kinder schwerwiegende Schädigungen mit sich, unter denen sie lebenslang leiden. Warum dem Ehepaar Thiemann die Aufklärung über das Fetale Alkohol-Syndrom (FASD) besonders am Herzen liegt.
Schwangere Frau mit Weinglas in der Hand (Symbolbild)
Familie Thiemann

Wenn wir unseren Gästen sagen, bei uns gebe es grundsätzlich keinen Alkohol, oder wenn wir auswärts darauf verzichten, stossen wir manchmal auf Unverständnis, gar auf Ablehnung. Doch wir haben tatsächlich ein Alkoholproblem... Nach zwölf Jahren Ehe hatten wir die Hoffnung nach eigenen Kindern endgültig aufgegeben. Als Christen wollten wir das auch nicht mit allen Mitteln erzwingen, sondern Gott überlassen. So nutzten wir die Zeit, um uns in der Gemeinde zu engagieren, etwa in der Jugendarbeit. Bei einem Hilfstransport für ein Waisenhaus in Rumänien machten wir eine einschneidende Erfahrung, die unser ganzes Leben prägen sollte. Die Kinder freuten sich sehr über die mitgebrachten Geschenke. Sie schienen ihnen aber nicht das Wichtigste zu sein. Vielmehr lechzten sie nach Nähe und Zuwendung, ja, sie belagerten uns regelrecht! Von da an war uns klar, dass Gott unseren Kinderwunsch vielleicht auf ganz andere Weise erfüllen wollte...

Eine schwere Bürde

Endlich kam der grosse Tag, an dem wir unsere zehn Wochen alte Anika bei einer Pflegefamilie abholen und in die Arme schliessen durften! Seit dem Adoptionsantrag war nur ein Jahr vergangen. Vom Jugendamt erfuhren wir, dass Anikas leibliche Mutter – in einem Kinderheim aufgewachsen und schwer alkoholsüchtig – schon mehrere Kinder zur Adoption freigegeben hatte. Auch diesmal nahm sie während der Schwangerschaft Alkohol zu sich und war nicht in der Lage, sich um die Kleine zu kümmern. Ein Teufelskreis!

Damals wussten wir noch nicht, was auf uns zukommen würde. Anfangs erlitt Anika schlimme Krampfanfälle, die auch mitten im Schlaf auftraten. Bis heute leidet sie an einer schweren, nicht behandelbaren Epilepsie. Seit 17 Jahren sind wir deshalb gezwungen, Anika mit einem Babyphone zu überwachen. Das beeinträchtigt nicht nur ihren Schlaf, sondern bringt auch uns oft an den Rand unserer körperlichen und seelischen Kräfte. Zum Glück besitzen wir ein Haus mit mehreren Zimmern. So können wir getrennt voneinander den Schlaf etwas nachholen. Trotzdem sind die dauernde Sorge um Anika und der Schlafmangel eine grosse Belastung für uns.

Fünfzehn Monate nach Anika kam ihr leiblicher Bruder Micha zur Welt. Da wir uns sowieso wünschten, ein weiteres Kind zu adoptieren, nahmen wir Micha aus dem Krankenhaus direkt zu uns nach Hause, trotz schlechter Prognose der Ärzte. Der süsse kleine Junge wog ganze 2500 g!

Als die Kinder zwei und drei Jahre alt waren, lud uns das Jugendamt zu einem Seminar mit dem Thema FASD (Fetales Alkohol-Syndrom) ein. Wir waren erstaunt und zugleich erschrocken, wie viele Parallelen wir bei unseren Kindern fanden. Doch so schlimm wie dargestellt, würde es schon nicht werden, dachten wir. Wir waren überzeugt, dass mit viel Zuwendung, Liebe und Gebet sicher manches heil werden könnte. Leider wissen wir inzwischen, dass FASD nicht heilbar ist, sondern einen Menschen lebenslang begleitet.

Gezeichnet fürs Leben

Kinder sind durch den Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft unterschiedlich stark betroffen. Das stellen wir auch bei unseren Kindern fest. Micha leidet zwar nicht an Epilepsie, dafür weist er körperliche Schädigungen auf: kleiner Wuchs, geringes Gewicht und eine Sehbehinderung. Infolge FASD sind seine Sehnerven geschädigt. Micha wird nie ein Auto lenken dürfen. Als kleiner Junge konnte er sich nicht selbständig beschäftigen, meist musste der Papa mitspielen. Seine Aufmerksamkeitsspanne war häufig sehr kurz. Ständig brauchte er neue Anregungen. Beide, Anika und Micha, lassen sich leicht beeinflussen und neigen zu Selbstüberschätzung. Ihnen fehlt die Fähigkeit der Selbstbeobachtung, Erlebnisse und Verhaltensweisen zu reflektieren. Sie können sich Dinge schlecht merken, vieles muss öfter wiederholt werden. Selbst einmal sicher Gelerntes ist plötzlich wieder weg. Kinder mit FASD haben oft ein schlechtes Verständnis für Zahlen, Zeit und Geld. Das logische Denken fällt ihnen schwer, ihre soziale Kompetenz ist eingeschränkt.

Dennoch sind wir froh und dankbar, frühzeitig Informationen über FASD bekommen zu haben. Das half uns, uns darauf einzustellen und Enttäuschungen vorzubeugen. Denn die Gefahr besteht, von betroffenen Kindern Leistungen zu erwarten, die sie schlicht nicht erbringen können. Der Ausspruch «Sie wollen nicht» trifft auf sie meist nicht zu. FASD-Kinder benötigen deshalb klare Strukturen, Rituale, wenig Umwelt-Reize, feste Bezugspersonen, Zeit, Geduld, unendliche Wiederholungen, kurze Ansagen, Blickkontakt, Visualisierungen, usw.

Trotz Entwicklungsverzögerung trat Anika mit sieben Jahren in die normale Grundschule ein. Nach der 2. Klasse zeigte sich jedoch deutlich, dass sie den Anforderungen nicht gewachsen war. Stundenlanges Üben und Wiederholen bedeuteten für das Mädchen – und auch für uns – eine Qual. Darauf wechselte Anika an eine Lernförderschule. Auch Micha kam nach der 1. Klasse dorthin. Hier war er gut aufgehoben und kam mit dem Unterrichtsstoff dank viel Unterstützung unsererseits einigermassen zurecht. Er lernte auch Freunde kennen. Anika hingegen fiel es immer schwerer, Anschluss zu finden. Seit fast drei Jahren besucht sie eine Förderschule für geistig behinderte Kinder. Vom schulischen Leistungsniveau her ist sie zwar unterfordert, aber im Umgang mit anderen profitiert sie sehr. Sie hat wieder Spass an der Schule. Trotzdem ist es oft ein Kampf, auch wegen der häufig auftretenden Anfälle.

Fatale Unwissenheit

Als die Kinder 12 und 13 Jahre alt waren, bekamen wir definitiv die Diagnose FASD. Das verschaffte uns Klarheit, auch was die notwendige Hilfe betraf. FASD-Kinder sind zu 50-100 % behindert. Bei unserer Anika kam noch eine Pflegestufe hinzu.

Nur Spezialisten können eine Diagnose stellen. Leider wissen viele Ärzte nicht, worum es sich bei FASD handelt. Auch Psychologen, Lehrer und Erzieher sind oft ahnungslos und erkennen das eigentliche Problem nicht.

Der Alkohol gelangt über den Mutterkuchen ins Kind. Seine Konzentration im Nabelschnurblut ist dabei genauso hoch wie im Blut der Mutter! Ab wann Alkohol den Embryo gefährdet, weiss man nicht genau. Völlig unverständlich finden wir den Rat einiger Ärzte an Schwangere, ruhig mal ein Glas Rotwein oder Sekt zu trinken. Auch deshalb ist es uns ein grosses Anliegen, über die gravierenden Folgen des Alkoholkonsums schwangerer Frauen aufzuklären. Alkoholschäden sind übrigens in Deutschland deutlich häufiger als das Down-Syndrom! FASD ist eine Behinderung, die sich absolut vermeiden liesse! Neun Monate ohne Alkohol ist das Mindeste, was Mütter für ihr Kind tun müssten!

Nicht nur im sozial schwachen Milieu wird Alkohol verharmlost und richtet grossen Schaden an. Selbst Akademiker unterschätzen seine Wirkung. Da tendiert man bei Auffälligkeiten eher mal zu ADHS. Mehr als ein Viertel der Frauen in Deutschland trinken während der Schwangerschaft Alkohol. Schätzungsweise 10'000 Kinder werden hier jährlich mit FASD geboren, die Dunkelziffer ist hoch.

Damit nicht genug: Kinder und Jugendliche mit FASD laufen Gefahr, selbst eine Abhängigkeit zu entwickeln. So hat Micha jeweils schon im Treppenhaus den Braten gerochen, genauer gesagt, den Wein am Braten. Trank ich ab und zu ein Bier, beobachtete er das genau. Wie sollten wir den Kindern vermitteln, dass es auch ohne Alkohol geht? Aus diesem Grund beschlossen wir vor drei Jahren, komplett auf Alkohol zu verzichten. Das fiel mir nicht leicht. Nicht jeder kann das nachvollziehen. Selbst unter Christen fehlt oft das Verständnis dafür.

Fast alle Kinder und Jugendliche mit FASD benötigen ein Leben lang Unterstützung und sind unfähig, ihren Alltag selbstständig zu bewältigen. Je älter sie werden, desto grösser auch die Sorgen und Probleme. Welche Arbeit können sie später ausführen? Was leisten? Wo werden sie untergebracht, wenn wir sie nicht mehr betreuen können? Ein Teil der FASD-Betroffenen entwickelt bereits im Kindes- und Jugendalter kriminelle Energien. Mangelnde Einsicht und leichte Verführbarkeit begünstigen den Weg in die Straffälligkeit.

Lichtblicke

Wir hoffen und beten, dass sich für unsere Kinder ein Weg auftut. Noch liegt vieles im Dunkeln. Manches entwickelt sich bei FASD-Kindern einfach auch später. Ich hätte nie gedacht, dass Micha z.B. das Schachspielen erlernt. Heute schlägt er mich mit Leichtigkeit!

Anika hatte schon immer Probleme mit der Feinmotorik. Trotzdem besucht sie seit ein paar Jahren eine liebe Dame im Ort, um zu klöppeln. Sie hat uns schon mit manch erstaunlichem Kunstwerk überrascht! Oder wenn ich wieder mal Probleme mit meiner Rechtschreibung habe, brauche ich nur sie fragen. Sie hat sämtliche Worte fotografisch abgespeichert! Und ihre Schreibschrift sieht aus wie aus dem Drucker.

Micha absolviert zur Zeit ein freiwilliges ökologisches Jahr. Er arbeitet acht Stunden als Landschaftspfleger und muss je eine Stunde mit dem Bus hin- und zurückfahren – eine tolle Leistung für einen 16-Jährigen mit FASD! Leider wurde er kürzlich auf dem Arbeitsweg von einem Auto angefahren und schwer verletzt. Gott sei Dank befindet er sich wieder auf dem Weg der Besserung. Nicht immer verstehen wir die Pläne unseres Herrn...

So erleben wir neben der Sorge und Traurigkeit auch viel Freude und bereichernde Momente mit unseren Kindern. Unser Herr hat uns vier zusammengeführt und sich wohl etwas dabei gedacht.

Vor einem Jahr gründeten wir zusammen mit anderen betroffenen Adoptiv- und Pflegeeltern eine Selbsthilfegruppe. Wir treffen uns sechs Mal im Jahr. Es tut gut, sich auszutauschen und von den Erfahrungen anderer zu profitieren. Interessanterweise sind die meisten Eltern Christen.

Erfreulicherweise gelangt nun auch das Thema FASD vermehrt an die Öffentlichkeit. Wichtig wäre, auf allen alkoholhaltigen Getränken eine aussagekräftige Kennzeichnung aufzudrucken. Oft mangelt es schlicht an Information. Wir hoffen, mit diesem Beitrag zur Aufklärung von FASD beizutragen und vielen Kindern und Eltern eine solch schwere Bürde zu ersparen.

Uns stärkt manchmal ein Spruch von Peter Hahne: «Die Durchreise zur ewigen Heimat ist keine Urlaubsreise, sondern eine Dienstreise.»

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Datum: 01.05.2018
Autor: René Thiemann
Quelle: Ethos

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