Brainerd hatte immer wieder mit Depressionen zu kämpfen

Brainerd hatte selbst erfahren, was der Unterschied zwischen dem Gefühl der geistlichen Verlassenheit und der Krankheit der Melancholie war. So beurteilte er später seinen eigenen geistigen Zustand wahrscheinlich vorsichtiger als früher. Egal zu welchem Urteil man kommt, er wurde jedenfalls immer wieder von fürchterlichen Depressionen gequält. Und das Wunder ist, dass er darüber hinwegkam und trotz allem weitermachte.

Brainerd sagte, dass er von Jugend an so gewesen sei (S. 101). Doch er sagte, dass es einen Unterschied zwischen den Depressionen vor und denen nach seiner Bekehrung gab. Nach seiner Bekehrung hatte er das Gefühl, dass unter ihm ein Fels der Liebe sei, der ihn auffing , und so konnte er in den dunkelste Stunden immer noch Gottes Wahrheit und Güte spüren, auch wenn er eine Zeit lang gar nichts spürte (S. 93, 141, 165, 278).

Trotzalem war es schlimmge genug. Seie Verzweiflung war oft darauf zurückzuführen, dass er seine eigene verbliebene Sündhaftigkeit hasste. Am Donnerstag, dem 4. November 1942, schrieb er: »Es bringt mich zur Verweig , das ich i meier Seele diese Hölle der Korruption, die immer noch in mir ist, fühle« (S. 185). Manchmal war dieses Gefühl der Unwürdigkeit so stark, dass er sich von Gottes Gegenwart abgeschnitten fühlte. 23. Januar 1743: »Selten habe ich dieses Gefühl, nicht existieren zu dürfen, so gehabt wie jetzt: Ich erkannte, dass ich unwürdig war, einen Platz unter den Indianern einzunehmen. … Keiner kann sich vorstellen, was die Seele leidet, wenn sie nicht in die Gegenwart Gottes kommen darf, als diejenigen, die es auch erlebt haben. Und dieses Gefühl ist bitterer als der Tod!« (S. 195-196).

Oft verglich er seine Depressionen mit dem Sterben. Es gibt mindestens 22 Stellen in seinem Tagebuch, aus denen hervorgeht, dass er sich nach dem Tod sehnt, um vom Elend befreit zu sein. Am Sonntag, dem 3. Februar 1745, schrieb er zum Beispiel: »Meine Seele erinnerte sich an ›den Schrecken und die Bosheit‹ (ich könnte es fast als ›Hölle‹ bezeichnen) des vergangenen Freitags; und ich hatte grosse Angst, dass ich wieder diesen ›Kelch des Zitterns‹ trinken müsste, der unvorstellbar bitterer war als der Tod. Mehr als alles auf der Welt sehnte ich mich nach dem Grab« (S. 285). 16. Dezember 1744: »Mich überwältigte eine derartige Niedergeschlagenheit, dass ich nicht mehr wusste, wie ich weiterleben sollte: Ich hatte eine ungeheure Sehnsucht nach dem Tod: Meine Seele ›versank in tiefen Wassern‹, und ich war bereit, in ›den Fluten‹ zu ertrinken: Ich war so niedergeschlagen, dass meine Seele unter Schock stand« (S. 278).

Das Schlimmste an seiner seelischen Verfassung war vieleicht , das er weder Angst och Liebe emp de konnte. Einige Ausschnitte seines Tagebuches, in denen er über diese Momente schreibt, sind so freudlos, dass Jonathan Edwards sie nicht in das Buch Life of Brainerd aufnahm. Wir wissen das, weil Brainerd 36 Seiten aus seinem Tagebuch selbst behielt, die von der Beineke-Bibliothek der Universität von Yale verwaltet werden und mit Edwards’ Ausführungen verglichen werden können (S. 79, 110-153). Im folgenden Abschnitt wird eine Seite von Brainerds Depressionen gezeigt, die charakteristisch für seine Taubheit gegenüber jeglichen Gefühlen ist.

Ich fühlte mich irgendwie wie ein Krimineller, der auf der Anklagebank auf seine Verurteilung wartet. Ich war ein wenig besorgt, wie mein Fall wohl ausgehen würde, denn ich hatte fast gar keine, vielleicht sogar überhaupt keine Angst vor der Hölle. Ich war mir absolut sicher, dass nichts auf der Welt meinen Zustand ändern könnte, und ich wunderte mich, ja, war fast erstaunt, dass ich mir dessen vorher nie bewusst gewesen war, da es … jetzt ganz klar gezeigt wurde. Ich empfand jetzt, anders als früher, weder Liebe für Gott noch eine himmlische Sehnsucht. Es gab weder Angst vor der Hölle noch Liebe zur Welt von heute. Tatsächlich hätte ich lieber unter etwas gelitten, als im Zustand der Sorglosigkeit weiterzuleben. Ich glaubte, dass alle meine Überzeugungen verschwunden waren, und das war schrecklich. Ich dachte, dass nur die Hölle für mich übrig bliebe, und ich hatte kein Gefühl mehr wie früher, wie schreck¬lich es sein könnte. Tatsächlich schien mir jedes Gefühl für Glück, Hoffnung und Vorfreude aufs Glück, sowohl in der gegenwärtigen als auch in der zukünftigen Welt, gänzlich abhanden gekommen zu sein. Ich fühlte mich auch nicht besonders schlecht, obwohl ich tatsächlich so etwas wie Verweig empfand, und der Gedanke, für immer vernichtet zu sein, war fast zu schön, obwohl ich ehrlich sagen kann, dass ich dafür auch nicht bereit war. Meine ganze Seele war unbeschreiblich verwirrt und fühlte sich verloren, und ich wusste nichts, was mich hätte glücklich machen können, auch wenn ich es, in meiner Vorstellung, ganz leicht hätte bekommen können. Weil ich derartig verloren war, wurde ich zu einem geeigneten Objekt für das Erbarmen Jesu Christi, denn der Sohn war gekommen, um »zu suchen und zu erretten, was verloren ist« (Lukas 19,10) (S. 131-133).

Nur im Rückblick sah er sich als »geeignetes Objekt für das Erbarmen Jesu Christi«. Doch in verzweifelten Stunden hatte er kein Gefühl für Hoffnung, Liebe oder Angst. Das ist die gefürchtetste Seite der Depression, weil die natürlichen Schranken für Selbstmord fallen. Doch im Gegensatz zu William Cowper wurde Brainerd von Selbstmordgedanken verschont. Alle seine Todeswünsche wurden durch die biblische Wahrheit zurückgehalten: »Der Herr hat gegeben, und der Herr hat genommen« (Hiob 1,21). Er wünschte sich viele Male den Tod, doch nur Gott konnte ihn zu sich nehmen (z.B. S. 172, 183, 187, 215, 249).

Der Gedanke daran, wie sehr seine schlechte seelische Verfassung ihn daran hinderte, mit ganzer Hingabe seinen Dienst zu tun, steigerte nur sein Elend. Am Mittwoch, dem 9. März 1743, schrieb er: »Ritt 16 Meilen nach Montauk und hatte irgendwie ein gutes Gefühl auf dem Weg, doch als ich hier ankam und die Indianer sah, überkam mich eine gewisse Mattheit und Leere: Ich zog mich zurück und versuchte zu beten, fühlte mich aber letztendlich schrecklich einsam und allein, und ich litt unter meiner eigenen Widerwärtigkeit und Niederträchtigkeit« (S. 199).

Manchmal lähmte ihn seine Verzweiflung so sehr, dass er unfähig war, etwas zu tun. Dienstag, 2. September 1746: »War noch nie so verwirrt von dem Gefühl der eigenen Nutzlosigkeit und Untauglichkeit für meine Arbeit. Ach, welch ein toter, herzloser, nutzloser, unbrauchbarer Mensch ich doch bin – so sah ich mich jetzt! Meine Stimmung war sehr gedrückt, und meine körperliche Kraft nahm immer mehr ab, sodass ich überhaupt nichts mehr tun konnte. Nachdem die Anstrengung zu gross wurde, legte ich mich schliesslich auf ein Büffelfell; ich musste aber die ganze Nacht schwitzen« (S. 423ff.).

Es ist erstaunlich, wie oft Brainerd mit den praktischen notwendigen Arbeiten weitermachte, obwohl er immer wieder entmutigt wurde. Das machte ihn zweifellos bei vielen Missionaren beliebt, die selbst die Schmerzen erfahren hatten, die er erdulden musste.

Fortsetzung: Standhaft im Leid

Datum: 26.02.2008
Autor: John Piper
Quelle: Standhaft im Leiden

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