Die anderen im Blick

Vom Verzehrer zum Ernährer

In unserer gegenwärtigen Kultur scheint es zwei einander entgegengesetzte Auffassungen von Humanität zu geben, davon, wie der Mensch leben soll: Die eine ist das Ideal der Selbstverwirklichung, der Selbststeigerung und des Selbstgenusses, auch auf Kosten anderer. Die andere ist das Ideal der verantwortlichen Fürsorge für den Nächsten, wie Jesus es im Gleichnis vom barmherzigen Samariter beschreibt.
Getreide gehört zu den Spekulationsobjekten an den Finanzmärkten.

Das Christentum nennt die beiden Ideale den «alten» und den «neuen» Menschen. Es ist nicht schwer zu sehen, dass die beiden einander entgegengesetzten Auffassungen für die uns heute bedrängenden Probleme – z.B. der Welternährung und des Umweltschutzes – direkte Konsequenzen haben.

Umpolen ist möglich

Man kann die beiden Haltungen mit den Begriffen «Verzehrer» und «Ernährer» bezeichnen. Der Verzehrer verzehrt nicht nur rücksichtslos die Natur, sondern auch die Menschen seiner Umgebung, mit dem Ziel der Selbststeigerung und der Verwirklichung seiner eigenen Wünsche und Ansprüche. Der Ernährer gibt sich nicht damit zufrieden, nicht zu zerstören und zu verzehren; er pflegt keine blosse Vermeidungsmoral. Er sucht vielmehr positiv zur Erhaltung und Entfaltung seiner Umgebung beizutragen.

Nun wird keiner von uns als Ernährer geboren. Von Natur aus sind wir alle ziemliche Individualisten, die sich selbst für den Mittelpunkt der Welt halten und sich auch entsprechend benehmen: Je mehr einer hat, desto mehr will er! Aber dies muss bei keinem einzigen Menschen so bleiben. Die Bibel berichtet davon, wie sich ein Mensch vom Verzehrer zum Ernährer wandeln kann.

Der Nobody Josef

Der alte Sheik Jakob liebt den Spätgeborenen seiner verstorbenen Lieblingsfrau Rahel über alles. Josef wird von ihm nach Strich und Faden verwöhnt. Seine neidischen Halbbrüder verpetzt der Junge regelmässig beim Vater. Durch seine selbstverliebten Träume steigert er nur ihren Hass. Eines Tages beschliessen sie, ihn endgültig loszuwerden. Erst werfen sie den lästigen Angeber in eine ausgetrocknete Zisterne; dann verkaufen sie ihn an ägyptische Sklavenhändler. Aus dem Traumtänzer ist ein Nobody geworden. Doch im fernen Ägypten verschärft sich die Odyssee noch. Durch brutale Intrigen und Verleumdungen landet der rechtlose Sklave schliesslich in den Tiefen des Gefängnisses, wo er für lange Zeit in Vergessenheit gerät.

Doch der Nullpunkt wird für Josef zum Wendepunkt. Das Leiden verwandelt ihn. In aussichtsloser Lage, wo alle Träume von der eigenen Grösse endgültig ausgeträumt sind, wird Josef sich seiner Verantwortung bewusst. Anstatt in Selbstmitleid zu versinken, fängt er an, für seine Mitmenschen zu denken und zu sorgen. Das bleibt nicht unbemerkt. Doch es dauert lange Jahre, bis Josef das Gefängnis verlassen kann und sich sein geänderter Charakter in Freiheit bewährt. Am Ende wird er «Vater des ganzen Landes» genannt. Als ein Mensch, der selber über Jahrzehnte keinerlei Geborgenheit erfahren hat, gibt er in sieben schweren Hungerjahren einem fremden Volk wie ein Vater Vertrauen und Sicherheit. Aus einem Verzehrer, der nur auf sich und seinen eigenen Vorteil bedacht war, ist ein Mensch geworden, der über sich selbst hinaus das Wohl seiner Mitmenschen im Blick hat und buchstäblich die Hungernden ernährt.

Thomas Mann gab dem dritten Band seines grossen Josef-Romans den Titel: «Josef, der Ernährer». Für die Zukunft ist es überlebensnotwendig, dass es mitten im Zerfall unserer Welt solche Menschen gibt, die sich aus Verzehrern zu Ernährern umwandeln lassen. Denn: «Die letzte verantwortliche Frage ist nicht, wie ich mich heroisch aus der Affäre ziehe, sondern wie die nächste Generation weiterleben kann.» (Dietrich Bonhoeffer)

Datum: 27.09.2013
Autor: Reinhard Frische
Quelle: Blog Reinhard Frische

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