Die grosse Geburtstagsparty für sozial benachteiligte Personen

650 Lebenserfahrungen sind im Saal versammelt.
Bei vielen hat das Leben tiefe Spuren hinterlassen.
Wie die Ärmsten der Stadt plötzlich zu VIP’s werden.
Die begehrten Tickets für die Weihnachtsfeier.
Sozialarbeiterin Christine Hauri verwaltet die Adressen.

Vor der Sozialberatungsstelle der Heilsarmee Zürich hat sich eine lange Schlange gebildet. Es ist Ausgabetag der Tickets zur grossen Weihnachtsfeier im Kirchgemeindehaus Wipkingen. 700 Gäste wurden eingeladen: mit einem persönlichen Brief, durch Sozialstellen oder direkt auf der Gasse.

650 kamen in den vergangenen Jahren. Das Fest ist für sozial benachteiligte Personen reserviert. Für zwei Stunden sind sie VIP’s (Very important persons). Viele kommen jedes Jahr. Senioren mit Ergänzungsleistungen, Familien mit Sozialhilfe, Obdachlose, Drogensüchtige, Prostituierte... Oft ist dies die einzige Gelegenheit, Weihnachten zu feiern und das Packet der Heilsarmee das grösste Weihnachtsgeschenk.

Da sein für alle Menschen

«Kommt her zu mir alle, die ihr bedrückt und beladen seid. Ich will euch erquicken!» Die Heilsarmee ist für ihr christlich motiviertes Engagement an benachteiligten Menschen bekannt. Das Jesus-Zitat aus den Evangelien wird mit viel Einsatz und Liebe in die Tat umgesetzt. «Suppe, Seife, Seelenheil.» Diese drei Schlagworte sind für die ‘Armee Gottes’ Programm. Auch an Weihnachten.

Gerade an Weihnachten! Die „Geburtstagsparty“ von Jesus soll allen Menschen zugänglich sein. Deshalb stehen Offiziere, Soldaten und Helfer in der Adventszeit auf den Strassen der Städte, singen Lieder und sammeln Geld -- Noten und Münzen für ihren helfenden Dienst. Die Topfkollekte wird nur für soziale Aufgaben verwendet. Regional. Das Geld von Zürich wird in Zürich eingesetzt, das von Bern in Bern und so weiter.

Weihnachtsfeier in Zürich-Wipkingen

Christine Hauri und Fritz Schmid investieren zusammen mit ihren Helfern viel in dieses Fest. Aber auch sonst sind die Heilsarmee und ihr Sozialdienst im Dezember sehr gefordert. Hauri weiss aus Erfahrung, dass sie in der Weihnachtszeit überdurchschnittlich beansprucht wird: Deshalb schreibt sie ihre Weihnachtspost schon im Oktober.

Verkäuferinnen sehen sie kurz vor Weihnachten nie durch die Läden hetzen, um noch Geschenke zu kaufen. Dazu ist der Herbst da! «Weihnachten ist eine strenge Zeit. Aber ich habe mich darauf eingestellt. An Weihnachten geht es um die Menschen. Gott liebt Menschen. Alle! Das sollen sie erfahren. Ganz besonders in der Weihnachtszeit.»

Betreuung nicht nur an Weihnachten

Auch die Prostituierten der Stadt erhalten ein Weihnachtsgeschenk. 350 Säckli, gefüllt mit feinem Gebäck, und dazu ein kleines Kärtchen mit einem guten Text tragen die Helferinnen hinaus zu den roten Laternen der Stadt. Sie kennen die Frauen. Viele seit Jahren. Die Heilsarmee ist das ganze Jahr für sie da. Der Besuchsdienst ist oft nächtelang unterwegs, um den Frauen etwas Licht und Freundlichkeit zu bringen. Die Heilsarmee hat einen eigenen Zweig zur Betreuung der Prostituierten aufgebaut.

Hauri war sechzehn Jahren als Sozialarbeiterin unterwegs auf den Gassen Zürichs. Der eigene Glaube gibt ihr dabei die nötige Sicherheit und Stabilität. Auch Begegnungen mit Menschen, die ganz anders denken, handeln und leben, bringen sie nicht so schnell aus dem Konzept. «Ich muss mich nicht ständig anpassen, damit ich dazugehöre. Ich bin sicher, dass Gott nichts aus den Händen gleitet, auch wenn ich ganz und gar nicht weiter weiss.» In den Begegnungen mit Menschen weist Hauri darauf hin, dass sie letztlich nicht für andere verantwortlich ist. «Jeder Mensch hat seine eigene Verantwortung. Und Gott behält den Überblick. Auch in sehr hoffnungslosen Situationen ist seine Liebe und Macht nicht erschöpft.»

Ruhe in die Hektik bringen

Lange stehen sie vor den grossen Türen und warten aufs grosse Fest! Um 14.30 Uhr wird die Tür geöffnet. Die Gäste zeigen ihr Ticket und erklimmen dann eilig die breiten Treppen zum Saal. Fünf liebevoll dekorierte Tischreihen erwarten sie. Nicht alle sind so geduldig. Einige Gäste von der Gasse möchten am liebsten gleich den Kuchen essen und das Geschenk mitnehmen. Aber die Regel ist klar: Essen nach der Feier. Geschenke nur gegen Abgabe des Tickets am Schluss der Veranstaltung.

Während drinnen die Feier beginnt, bleibt es draussen im Foyer unruhig. Zwei Helfer kümmern sich um diese eigenwilligen Gäste. Viele rauchen eine Zigarette nach der anderen. Sie finden keine Ruhe, um die Feier zu geniessen. Ihr Leben ist voller Unrast. Getrieben von Süchten. Aufgewühlt von der Vergangenheit. Doch auch sie sind willkommen! „Alle Gäste sollen wissen, dass sie hier willkommen sind. Das wollen wir sie spüren lassen, sagt Hauri

Erinnerungen werden wach

Die Weihnachtsgäste setzen sich. Sie plaudern. Es wird laut im Saal. Immer mehr Menschen strömen herein. Sie bewundern die Dekoration und warten gespannt aufs Programm. Fünf Minuten dauert die Predigt: „Gott ist Mensch geworden, damit er den Menschen ganz nahe sein kann. Allen! Gott wird Mensch. Das ist die kürzeste Formel für Weihnachten. Das ist das grösste Geschenk, das wir je bekommen können.“ Im grossen Saal erklingen Weihnachtslieder: Oh, du fröhliche... und Stille Nacht. Bei vielen hat das Leben tiefe Spuren hinterlassen. Spuren voller Not und Sorgen. Wenn man den Menschen in die Gesichter schaut, spürt man etwas von den vielen unzähligen Erinnerungen an frühere Weihnachtsfeiern. Kindheitserinnerungen. Gedanken an die Zeit, als der Partner noch lebte. Gedanken an ein Krippenspiel.

Dann kommt der Schluss. Im Foyer werden die Pakete verteilt. Pralinen, sechzig Franken aus der Topfkollekte und die Heilsarmee-Zeitung, damit Weihnachten noch nachklingt.

Datum: 08.12.2005
Autor: Hans Ueli Beereuter
Quelle: Bordzeitung - Texte zum Leben

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