Sexualerziehung in der digitalisierten Gesellschaft
Zukunft CH: Frau Freitag, wo steht der gesellschaftliche Diskurs zum heissen Eisen der Pornografie?
Tabea Freitag: Es gibt hier keinen Konsens. Die Heils- und
Bildungsversprechen der Digitalisierung stehen dem Schweigen und der
Sprachlosigkeit angesichts ihrer Schattenseiten gegenüber, denn seit das
Internet mobil zugänglich ist, geraten Kinder vielfach bereits im
Grundschulalter auf einschlägige Seiten. Mit den zutiefst verstörenden
Eindrücken bleiben sie meist allein. Nur 4 Prozent der Kinder reden mit
ihren Eltern darüber. Neben der empfundenen Scham ist es vor allem die
Ambivalenz, die das Reden selbst bei guter Eltern-Kind-Beziehung so
schwer macht: «Das ist eklig und macht mich doch an.» Die
Gleichzeitigkeit von verstörenden Gefühlen und biologischer Stimulierung
verwirrt die natürliche Intuition. Sexbilder verletzen zudem ihre
Schamgrenzen. Darum ist entscheidend, dass erwachsene Bezugspersonen das
Tabuthema aktiv ansprechen, auf eine verständnisvolle Weise danach fragen und über die Folgen aufklären.
Verschärft sich das Problem? Und was hängt alles damit zusammen?
Während die Zahl der Konsumenten in jedem Alter und
Geschlecht und mit jeder Digitalisierungswelle weiter steigt, haben auch
die Inhalte gemäss der Spirale von Angebot und Nachfrage in wenigen
Jahren eine drastische Steigerung hinsichtlich der gezeigten
Demütigungen und Gewalt an Frauen erfahren. Um überhaupt noch einen Kick
zu erleben, brauchen viele Konsumenten mit der Zeit immer brutalere
«Sexzesse». Für deren Herstellung boomen Menschenhandel und moderne
Sklaverei. Aber auch «freiwillige» Darstellerinnen ertragen die
branchenübliche Gewalt in der Regel nur durch Betäubungsmittel, Drogen
und psychische Dissoziation (innere Spaltung).
Wie sind Sie bei Ihrer Arbeit mit dem Thema konfrontiert?
In unserer Fachstelle Mediensucht RETURN begegnen wir
den Folgen sexualisierter Medien in dreierlei Hinsicht: In Beratung und
Therapie mit Menschen, die Hilfe für den Ausstieg aus ihrer
Internet-Sexsucht suchen, sowie mit Frauen, die unter der Pornosucht
ihres Mannes leiden und deren Partnerschaft daran zu zerbrechen droht.
In der Präventionsarbeit mit unserem Programm «Fit for Love?» treffen
wir auf Schülerinnen und Schüler, die dankbar sind, dass sie endlich mit
Erwachsenen offen und zugleich auf gesichtswahrende, nicht
schamverletzende Weise über ihre Fragen und Ambivalenzen hinsichtlich
Pornografie, Sexualität, Liebe und Partnerschaft reden können.
Wie wirkt sich Internetpornografie auf reale Beziehungen aus?
Der Sehnsucht junger Menschen nach einer stabilen
vertrauensvollen Partnerschaft in der Zukunft steht die Gewöhnung an
sexuelle Instantbefriedigung mittels eines unbegrenzten «virtuellen
Harems» gegenüber. Die Suche nach dem noch Besseren, Ultimativen wird in
der Regel auch in der Partnerschaft heimlich fortgesetzt und untergräbt
Vertrauen. Gift für die Beziehungsfähigkeit ist auch die Lüge der
Pornografie, Sex sei immer verfügbar, kenne keine Grenzen und es gehe
dabei ausschliesslich um die eigene Befriedigung. Die narzisstische
Anspruchshaltung: Du hast ein Recht auf Sex! Nimm dir, was du willst!,
fördert nicht nur sexuelle Grenzverletzungen, die besonders in jungen
Beziehungen stark zunehmen. Hier findet auch keine Resonanz mehr statt
zwischen zwei Personen (per-sonare: hindurchklingen). Es
braucht den Resonanzraum unserer ganzen Persönlichkeit, um Sexualität
erfüllend leben zu können. Narzissmus ist im Grunde das Gegenteil der
Fähigkeit zu lieben. Narzisstische Bedürfnisbefriedigung sieht den
anderen primär funktional und benutzt ihn für eigene Zwecke, auch wenn
sich diese Motive gut getarnt hinter Komplimenten u.v.m. verbergen
können. Liebe sieht den anderen als Person in seiner einzigartigen Würde und freut sich an ihm und daran, ihn zu erfreuen.
Durch das Internet scheint der Konsumismus den
Umgang mit der Sexualität zu bestimmen. Wie verändert das den Menschen?
Die vielfältigen sexuellen Angebote im Netz – von
Pornografie über interaktiven Cybersex bis hin zu schnellen Dates via
Smartphone-Apps wie Tinder – ermöglichen sex for fun ohne
jemanden bitten, ohne sich investieren und wirklich einlassen zu müssen
und ohne sich einem Menschen zu verdanken. In «Pornotopia» bekommt der
Konsument alles, jederzeit, sofort und ohne Anstrengung. Die Fähigkeit,
Spannung auszuhalten, ist aber zentral für die Beziehungs- und
Liebesfähigkeit. Bitten, warten und danken fällt Narzissten schwer,
Liebenden leicht.
Wodurch zeichnet sich menschliche Sexualität aus?
Der Umgang mit Sexualität ist nicht in erster Linie
eine «moralische» Frage nach Grenzen, sondern eine nach ihrer Mitte und
Bedeutung. Im Umgang mit Sexualität spiegelt sich die Wertehierarchie
unserer Gesellschaft: Instrumentelle Gesichtspunkte, d.h. die Frage nach
dem eigenen Nutzen, in Bezug auf die Verfügbarkeit von Sex, die
Multioptionalität und Autonomie verdrängen die zentralen Fragen nach der
menschlichen Würde, der Unverfügbarkeit sexueller Hingabe und der
Bedeutung personaler Liebe und Bindung. Wo Inhalt, Sinn und Mitte
fehlen, können auch Grenzen nicht mehr wahrgenommen werden. Entweder sie
werden unklar, verschwommen und verwirrend, oder sie folgen starren
äusseren Setzungen.
Wie macht man junge Menschen fit für die Liebe?
«Bildung» bedeutet sprachgeschichtlich, einer Sache Gestalt und Wesen geben. Das Programm «Fit for Love?» – wozu es auch ein Buch gibt
– vermittelt daher den Sinnzusammenhang der körperlichen, psychischen
und Bindungsdimension von Sexualität auch durch Bilder. So lässt sich
das Trainieren von emotionaler Spannkraft gut im Bild des
Bogenschiessens verdeutlichen: Jugendliche formulieren ihre
längerfristigen Beziehungsziele und erarbeiten dann, was hinderlich oder
förderlich ist, um das Ziel zu erreichen. Was ist nötig, um die
Spannung auf der Sehne, also die Spannung zwischen komplementären
Bedürfnissen, wie Bindung und Autonomie, Spass und Verantwortung, zu
halten und zum richtigen Zeitpunkt loszulassen?
Ein anderes Bild ist das Feuer: Feuer ist Urbild für brennende Leidenschaft, es kann als Kamin- oder Lagerfeuer positive Kräfte entfalten oder als gieriger Flächenbrand Zerstörung anrichten. Jugendliche erarbeiten, was beide unterscheidet.
Gibt es auch ein Bild, das speziell Mädchen anspricht?
Zu den Bildern, die etwas von dem Geheimnis und Wesen
menschlicher Sexualität offenbaren, gehört für mich seit vielen Jahren
auch das Bild des inneren Gartens: Der einzigartige, schöne geschützte
Garten (vgl. Hoheslied Kapitel 4) ist zunächst ein Bild für die Identität – Wer
bin ich? – als auch, im Einladen des/der Geliebten in den eigenen
Garten, für sexuelle Intimität. Besonders Mädchen und Frauen spricht das
Bild sehr an: Wie ist der Garten meiner Persönlichkeit angelegt? Was
will in mir aufblühen, sich entfalten? Bin ich in mir zu Hause, oder bin
ich ausser mir? Muss ich immer online sein, um «in» zu sein, oder kann
ich auch bei mir sein? Die eigene Identität kennen und schätzen
zu lernen ist Voraussetzung für Intimität – den Garten zu zweit zu
geniessen. Zugleich wird hier für gesunde Grenzen sensibilisiert.
Ein Garten ist ja kein Selbstbedienungsladen?
Genau. Da darf niemand einfach kommen, um sich die
Äpfel zu nehmen. Man muss sich erst als vertrauenswürdig erweisen, um in
den Garten eingeladen zu werden. Denn Hingabe, Intimität macht zutiefst
verletzlich. Wer nur an die Früchte will, zertritt andere Pflanzen. Wer
liebt, sieht und sucht den ganzen Garten der Persönlichkeit
und fördert sein Aufblühen. Das schliesst ein, sich gegenseitig mit
seinen Unterschieden und Herausforderungen, mit stachligen Rosen und
trauernden Weiden, in unterschiedlichen Wetterlagen und Jahreszeiten
zuzumuten und anzunehmen und gerade daran zu wachsen. Dann können
Liebende den Garten gemeinsam immer wieder neu mit allen Sinnen
entdecken, staunen und geniessen, wild oder zart erobern, sich suchen
und finden und ihre Liebe und Lebendigkeit feiern. Liebe weckt in beiden
Lebendigkeit und fördert alles, was beide aufblühen lässt. Liebe
schliesst darum Selbstliebe mit ein.
Kann man auch in digitalisierten Zeiten so lieben lernen?
Ja! Und als Eltern, Therapeuten oder Pädagogen, die
junge Menschen begleiten, sollten wir gerade hierfür Zeit investieren,
weil alles Wesentliche im Leben davon abhängt.
Über Tabea Freitag
Tabea Freitag, geboren 1969, ist Dipl.-Psychologin und Psychotherapeutin in eigener Praxis mit dem Schwerpunkt Therapie bei sexueller Traumatisierung sowie bei Mediensucht. Gemeinsam mit ihrem Mann Eberhard Freitag hat sie 2008 «RETURN – Fachstelle Mediensucht» in Hannover gegründet.
Zum Buch und Programm:
«Fit for Love?»
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Datum: 12.02.2020
Autor: Dominik Lusser
Quelle: Zukunft CH