Beat Bachmann

«Pflegefamilienarbeit ist genauso wichtig wie die eines Arztes»

Seit 2006 hilft der Verein Familynetwork mit Sitz in Zofingen (AG) Kindern und Jugendlichen, die vorübergehend oder langfristig nicht in ihren Herkunftsfamilien bleiben können. Inzwischen dürfte die Organisation rund 500 jungen Menschen geholfen haben. Livenet interviewte Beat Bachmann, Geschäftsführer von Familynetwork, über die Arbeit des Werks.
Beat Bachmann

Beat Bachmann, Sie sind Geschäftsführer von Familynetwork, was macht der Verein?
Beat Bachmann:
Familynetwork ist eine soziale Organisation, die seit dem Jahr 2006 in den Bereichen Pflegekinderwesen und Familienhilfe tätig ist. Familynetwork bietet seine Dienstleistungen in den Kantonen Aargau, Bern, Zürich und Solothurn mit Fachpersonen vor Ort an. Wir kümmern uns um Pflegekinder. Diesen Kindern und Jugendlichen, die vorübergehend oder dauerhaft nicht in ihrer Herkunftsfamilie leben können, stellt Familynetwork einen Betreuungsplatz in einer Pflegefamilie und eine Begleitung zur Verfügung. 

Weitere Dienstleistungen sind ambulante Beratungen und Begleitungen in Krisensituationen in Familien. Mit Sozialpädagogischer Familienbegleitung und Besuchsbegleitung engagieren sich die Fachpersonen direkt in der Familie im Aufbau und in der Stärkung von Erziehungskompetenzen und Strukturen. Zudem übernehmen unsere Fachpersonen auch Mandatsführungen im Kindes- und Erwachsenenschutz und führen im Auftrag der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) Abklärungsaufträge durch. Familynetwork bietet auch Aus- und Weiterbildungen in spezifischen Themen des Pflegekinderwesens und im Erziehungsbereich an.

Pro Jahr begleiten Sie rund 100 Pflegekinder, wie viele sind es seit der Gründung von Familynetwork?
Das weiss ich nicht genau. Aktuell begleiten wir rund 60 Pflegekinder. Einige sind seit der Gründung des Vereins in einer unserer Pflegefamilien platziert, andere waren nur vorübergehend bei Pflegefamilien. Es gibt auch Kinder, die nur in den Ferien oder für regelmässige Entlastungswochendenden platziert sind. In all den Jahren sind es wohl über 500 Pflegekinder, die vorübergehend oder dauerhaft in Pflegefamilien von Familynetwork platziert waren oder sind und die wir begleiten und betreuen durften.

Wer entscheidet, ob ein Kind in eine Pflegefamilie muss?
Es gibt immer wieder freiwillige Platzierungen, bei denen die Eltern des Kindes eine Pflegefamilie als kindsgerechte Lösung in einer schwierigen Situation suchen. Die Mehrzahl der Platzierungen in unseren Familien sind allerdings durch Situationen entstanden, in denen die Kinder gefährdet waren und die KESB eingreifen musste. Der Beistand des Kindes sucht in der Regel eine geeignete Pflegefamilie über eine spezialisierte Organisation wie Familynetwork für die Platzierung des Kindes in einer Pflegefamilie. 

Was sind die Gründe für die Trennung der Kinder von ihren leiblichen Eltern und eine Platzierung in Pflegefamilien?
Diese Massnahme wird getroffen, wenn die leiblichen Eltern die erzieherischen und fürsorglichen Pflichten nicht wahrnehmen und die Kinder in ihrer Entwicklung oder Integrität gefährdet sind. Pflegefamilien kommen auch oft zum Einsatz auf Grund von speziellen Situationen, zum Beispiel einer schweren Krankheit.

Wo finden Sie Familien, die sich für das Abenteuer Pflegefamilie entscheiden?
Das ist eine gute Frage. Wir sind ständig auf der Suche nach Familien und Paaren, die sich für das Abenteuer Pflegefamilie interessieren. Familien zu finden, die sich als Pflegefamilie zur Verfügung stellen, ist in den letzten Jahren schwieriger geworden. Damit sich interessierte Personen ein Bild von der Aufgabe als Pflegefamilie machen können, veranstalten wir regelmässig unverbindliche Informationsabende. Eine Pflegetochter und ihr Pflegevater berichten aus ihrem Leben, zudem gibt es interessante Informationen aus dem Pflegekinderwesen. 

Wie sieht das Leben einer Pflegefamilie denn aus?
Jede Pflegefamilie ist anders und jedes Pflegekind bringt seine eigene Lebensgeschichte mit. Auf unserer Webseite erzählen verschiedene Pflegefamilien ihre einzigartige Geschichte. Die Pflegeeltern erzählen von ihrer Motivation, warum sie sich dem Abenteuer Pflegefamilie stellen und geben dem Leser einen Einblick in die täglichen Herausforderungen. Ebenso erzählen die Pflegeeltern von der Bereicherung, die eine Familie erfährt, wenn sie ein Pflegekind dauerhaft oder vorübergehend aufnimmt.

Vor rund zwei Jahren war das Thema Flüchtlinge überall in den Medien, heute kaum mehr. Wie präsent sind Kinder aus Flüchtlingsfamilien bei Ihrer Arbeit?
Die Jahre 2015 und 2016 waren geprägt von der Flüchtlingskrise. Die Solidarität in der Bevölkerung war gross. In Kooperation mit dem Kanton Aargau hat Familynetwork innert kurzer Zeit 22 Flüchtlingskinder, so genannte UMA’s – das heisst unbegleitete, minderjährige Asylsuchende – in Pflegefamilien platziert. Davon sind heute noch neun Flüchtlingskinder in den Pflegefamilien, einige der ehemaligen UMAs sind nun erwachsen und wohnen immer noch in ihrer Gastfamilie. 

Neben der Aufnahme von UMAs in Gastfamilien hat Familynetwork im Januar 2019 von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe das Projekt Gastfamilien für Flüchtlinge übernommen. Ziel des Projektes ist es, dass diese Menschen durch die Aufnahme bei Gastgeberfamilien zu einem selbständigen Leben in der Schweiz finden. Fachpersonen von Familynetwork übernehmen die Betreuung der Gastfamilien und sind auch für die Flüchtlinge wichtige Bezugspersonen bei Fragen zum täglichen Leben in der Schweiz. Finanziert wird das Engagement vollständig durch Spenden.

Welche Rolle spielt der Glaube bei der Arbeit von Familynetwork?
Die Gründungsmitglieder des Vereins Familynetwork waren alle dem christlichen Glauben nahe Menschen. Familynetwork nimmt sich aus dieser Motivation den Bedürfnissen der Menschen und der heutigen Gesellschaft an. Der Verein arbeitet auch heute noch auf der Basis von christlichen Grundwerten, er ist konfessionell und politisch unabhängig. Die pädagogische Arbeit der Pflegefamilien basiert auf professionellen Standards wie in jeder anderen Institution, die Betreuung eines Pflegekindes ist ein öffentlicher Auftrag und muss deshalb neutral und transparent erfolgen.

Was sind die nächsten Projekte?
Wir sind am Aufbau eines Lehrgangs für Pflegefamilien, der die regelmässigen und übrigens vorgeschriebenen Weiterbildungsmodule der aktiven Pflegefamilien integriert und zu einem anerkannten Abschluss führt. Damit sollen die Pflegeeltern nach dem Austritt ihrer Pflegekinder die Möglichkeit erhalten, ihre wertvollen Erfahrungen in einer Anstellung in einer sozialen Institution einzubringen.

Was bewegt Sie persönlich im Hinblick auf die Kinder und Jugendliche, die Familynetwork in den vergangenen Jahren ein Stück auf ihrem Lebensweg begleiten durfte?
Ich bin immer wieder begeistert und berührt über die engagierte Arbeit unserer Pflegefamilien und unserer Mitarbeitenden. Viele Kinder erfahren dadurch Liebe, Geborgenheit, Schutz und blühen auf. Ich setze mich dafür ein, dass jedes Kind in einer Familie aufwachsen kann, in seiner eigenen oder, wenn das nicht möglich ist, in einer Familie, die das Kind aufnimmt und ihm einen Platz in ihrem Herzen gibt.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Ich wünsche mir mehr Familien, die sich entscheiden, einem Kind einen Platz in ihrer Familie anzubieten. Und ich wünsche mir, dass die Arbeit der Pflegefamilien durch die Behörden und die Gesellschaft wieder mehr geschätzt wird. Pflegefamilienarbeit ist wertvoll und genau so wichtig wie die Arbeit eines Arztes, sie sollte ebenso geschätzt und gefördert werden. 

Zur Webseite von Familynetwork

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Datum: 21.09.2019
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet

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