Wann beginnt das Recht auf Leben? - Einige Bemerkungen zur rechtlichen Stellung des ungeborenen Kindes

Die Frage nach dem Beginn des Lebens lässt sich auf verschiedenen rechtlichen Ebenen regeln. In der Bundesverfassung befinden sich die wichtigsten Rechtsgrundsätze, die auf die ganze Rechtsordnung Ausstrahlung haben. Das Privatrecht regelt die zwischenmenschlichen Beziehungen und u.a. die Frage, ab wann eine Person "rechtsfähig" ist, d.h. Rechte und Pflichten hat und wie bei Interessenkollisionen zu entscheiden ist. Demgegenüber ist das Strafrecht dazu gedacht, die wesentlichsten Verstösse gegen die Rechtsordnung staatlich zu sanktionieren. Dass ein Verhalten nicht strafbar ist, heisst zwar nicht, dass es (privatrechtlich) zulässig ist bzw. gebilligt wird. Aber der Rechtsschutz für den von einer solchen Handlung Betroffenen wird natürlich erheblich aufgeweicht.

Die Verfassung garantiert zwar das Recht auf Leben, sagt aber nicht ausdrücklich, wann dieses beginnt . Zwar lässt sich mit guten Gründen dafür plädieren, dass das Recht auf Leben und die Menschenwürde schon dem Embryo zukommen. Weil wir keine Verfassungsgerichtsbarkeit kennen und die Gerichte somit an einen abweichenden Entscheid des Gesetzgebers gebunden sind , kann man allerdings für das ungeborene Kind daraus keine direkt durchsetzbaren Rechtsansprüche ableiten.

Nach Art. 31 Abs. 2 ZGB, also im Privatrecht, ist das Kind vor der Geburt "unter dem Vorbehalt rechtsfähig, dass es lebend geboren wird." Nach umstrittener, aber (zur Zeit) wohl herrschender Auffassung bedeutet dies, dass dem ungeborenen Kind so lange alle Rechte (und Pflichten) zukommen wie einer bereits geborenen Person, bis die Möglichkeit einer Lebendgeburt dahin gefallen ist. Deshalb darf auch der Bedingungseintritt, nämlich die Lebendgeburt, nicht verhindert werden. Zu den Persönlichkeitsrechten des Kindes gehört das Recht auf Leben und körperliche Integrität. Das Kind, das im Mutterleib verletzt wird, hat deshalb grundsätzlich Schadenersatz- und Genugtuungsansprüche gegenüber dem Verletzer - und sei dies die eigene Mutter. Allerdings können die Persönlichkeitsrechte des Kindes mit denjenigen anderer Personen kollidieren. Dann muss eine Interessen- bzw. Güterabwägung stattfinden. Beispielsweise wäre also bei einer ungewollten Schwangerschaft das Recht auf Leben des Kindes mit dem Recht auf eigene Persönlichkeitsentfaltung der Schwangeren (und u.U. dem Persönlichkeitsrecht des werdenden Vaters!) zu vergleichen. Dass diese Persönlichkeitsgüter von sehr unterschiedlichem Gewicht sind, ist kaum zu bezweifeln, weshalb aus privatrechtlicher Sicht eine Abtreibung nur dann zulässig sein kann, wenn das Leben der Mutter auf dem Spiel steht. Allerdings nützt dies dem Kind insofern nichts, als es, wenn es abgetrieben wurde, keine Möglichkeit hat, rechtlich gegen die Mutter oder den Arzt vorzugehen. Hierzu bräuchte es die Hilfe des Staates, nämlich insbesondere Schutz in Form der Strafbarkeit der Abtreibung .

Das Rechtsgut Leben wird im geltenden Strafrecht an sich hoch gewichtet. Ein Tötungsdelikt liegt allerdings erst vor, wenn ein bereits geborener Mensch umgebracht wird. Vor Beginn der Geburt sind die Sonderbestimmungen betr. Abtreibung (Art. 118 ff. StGB) anwendbar. Das Leben des Embryos ist ein selbständiges Rechtsgut, das grundsätzlich auch gegen den Willen der Schwangeren geschützt wird, wobei allerdings das Strafmass geringer ist als bei einer vorsätzlichen Tötung nach erfolgter Geburt. Die Abtreibung ist strafbar, wenn nicht die besonderen Voraussetzungen der Straflosigkeit, nämlich "eine nicht anders abwendbare Lebensgefahr oder grosse Gefahr dauernden schweren Schadens an der Gesundheit" der Schwangeren vorliegen . Nur diese so genannte "medizinische Indikation" vermag also die Straflosigkeit zu begründen, wobei die Gesundheitsgefährdung sowohl physischer wie auch psychischer Natur (z.B. Suizidgefahr) sein kann. Freilich verhält es sich in der heutigen Praxis so, dass (je nach Kanton!) bereits geringfügige psychische Beeinträchtigungen genügen, um ein entsprechendes ärztliches Gutachten zu erhalten. Bei dieser "psychischen Indikation" werden zudem oft auch der Gesundheitszustand des Kindes ("eugenische Indikation") oder die wirtschaftliche Unzumutbarkeit der Kindererziehung ("soziale Indikation") mit berücksichtigt. Gesetzeswortlaut und Rechtsanwendung klaffen somit auseinander.

Die Fristenregelung, über die am 2. Juni 2002 abgestimmt wird, schützt den Embryo weniger stark als das geltende (geschriebene) Recht. Bis zum Ablauf von 12 Wochen seit Beginn der letzten Periode (d.h. ca. 10 Wochen seit der Befruchtung und 8-9 Wochen seit der Nidation) bleibt der Schwangerschaftsabbruch straflos, wenn die Frau schriftlich geltend macht, sie befinde sich in einer Notlage. Der Arzt oder die Ärztin hat mit der Schwangeren ein "eingehendes Gespräch zu führen und sie zu beraten." Der Arzt muss der werdenden Mutter zudem einen Leitfaden aushändigen, der ein Verzeichnis der kostenlos zur Verfügung stehenden Beratungsstellen, ein Verzeichnis von Vereinen und Stellen, welche moralische und materielle Hilfe anbieten, sowie Auskunft über die Möglichkeit der Adoptionsfreigabe enthält. Allerdings kann eine Abtreibung unmittelbar im Anschluss an dieses Gespräch durch den beratenden Arzt vorgenommen werden. Nach Ablauf von 12 Wochen ist der Schwangerschaftsabbruch nur noch dann straflos "wenn er nach ärztlichem Urteil notwendig ist, damit von der schwangeren Frau die Gefahr einer schwerwiegenden körperlichen Schädigung oder einer schweren seelischen Notlage abgewendet werden kann. Die Gefahr muss umso grösser sein, je fortgeschrittener die Schwangerschaft ist." Eine Abtreibung ist damit an sich (wie übrigens auch nach geltendem Recht) bis zum Beginn der Geburt zulässig, sofern eine medizinische Indikation vorliegt. Diese muss allerdings nicht mehr von einem zweiten Arzt bestätigt werden, und die veränderte Formulierung zeigt auf, dass der psychischen Indikation ein stärkeres Gewicht zugemessen wird. Ausserdem ist zu beachten, dass die strafbare Abtreibung nicht mehr (wie unter geltendem Recht) notwendigerweise mit einer Freiheitsstrafe, sondern unter Umständen nur noch mit einer Busse geahndet wird.

Angesichts der heute schon sehr liberalen Praxis ist es schwierig zu beurteilen, ob eine solche strafrechtliche Neuregelung die Abtreibungszahlen tatsächlich in die Höhe treibt. Allerdings ist die Fristenregelung ein deutliches Signal des Gesetzgebers (bzw. der Stimmberechtigten) dafür, dass dem Embryo, jedenfalls in den ersten Lebenswochen, nur ein sehr beschränktes Lebensrecht zukommt, indem die Mutter - abgesehen vom erwähnten Beratungsgespräch mit dem Arzt - alleine bestimmt, ob sie sich in einer "Notlage" befindet. Dieses Signal dürfte auch für andere Rechtsbereiche (etwa bei der Auslegung der erläuterten privatrechtlichen Regelung, aber insbesondere auch im Bereich der Fortpflanzungsmedizin und Stammzellenforschung) längerfristig nicht ohne Konsequenzen bleiben. Ein Blick auf die diesbezügliche rechtliche Diskussion in Deutschland zeigt dies.

Datum: 05.05.2002
Autor: Regina E. Aebi-Müller

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