Komplexer Herzfehler: Strahlemann Roy

Im Kinderspital
Roy

Die Kontrolle

Es sollte eine ganz normale Kontrolle werden. Nichts deutete darauf hin, dass in Kürze unser gesamtes Leben verändert werde. Am Anfang hiess es nur, dass das Herz unseres ungeborenen Sohnes auf dem Ultraschall nicht klar zu erkennen sei. Als es dann aber hiess, wir müssten einen Ultraschall in St. Gallen vornehmen lassen, weit von unserem Wohnort entfernt, wollten wir es genauer wissen.

Traurige Nachrichten

Meine Frau trug ihr Kind im 4. Monat. Es war ein Wunschkind. Wir wussten bereits, dass es ein Junge wird. Wir nannten ihn Roy und sprachen ihn mit seinem Namen an. Er war also ein festes Mitglied der Familie. Nie hätten wir gedacht, dass es uns treffen könnte. Wir hatten ein Bild von absoluter Reinheit von unserem Kind. Als unser Kardiologe im Kinderspital in St. Gallen uns eröffnete, dass Roy an einem komplexen Herzfehler litt, wurde dieses Bild jäh zerstört. Die Aussichten waren schlecht.

Abtreibung ja oder nein

Schon wieder ein Schicksalsschlag, dachte ich, diesmal werde ich es nicht ertragen können. Ich schaute meiner Vera in die Augen. Sie schienen mich anzuflehen, tu doch etwas, aber ich wusste keine Antwort. Kaum wurde uns eröffnet, dass unser Kind mit einem unheilbaren Herzfehler heranwächst, fragte man uns, ob wir eine Abtreibung vornehmen wollten. Wir entschossen uns, das Spital kurz zu verlassen, um darüber zu sprechen. Als wir draussen waren, lagen wir uns in den Armen und weinten bitterlich. Schluchzend entschlossen wir uns, das ungeborene Kind in Gottes Hände zu legen und eine Abtreibung strikte abzulehnen. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir noch keine Ahnung, welchen Segen wir mit dieser Entscheidung auf unser Leben erhielten.

Als wir unseren Entscheid dem Kardiologen mitteilten, erklärte er, dass unser Sohn zwei komplexe Herzfehler habe. In dieser Kombination müsse man von einem Chromosomenfehler ausgehen, einer sogenannten Rechtsisomerie. Deshalb empfahl er uns einen Fruchtwassertest. Ich glaubte, gelesen zu haben, dass jedes fünfzigste Kind nach einem solchen Test durch eine Fruchtwasservergiftung ums Leben kommt. Deshalb fragte ich den Arzt nach dem Wahrheitsgehalt dieser Meldung. Zu unserer Überraschung wurde diese erschreckende Information aber bestätigt. Zum ersten Mal fragte ich mich, welche Eltern ihr Kind bewusst einer Todesgefahr von 1:50 aussetzen würden. Vermutlich wussten die meisten nichts von dieser Gefahr.
Danach erfuhren wir auch noch, dass der Fruchtwassertest einzig dazu dient, einen Chromosomenfehler zu bestätigen. Was für eine sinnlose Mitteilung!

Keine Unterstützung

In den folgenden Monaten folgten unzählige Untersuchungen in verschiedenen Spitälern. Die Prognosen sprachen anfänglich von einer Lebenserwartung von ein paar wenigen Tagen und erhöhten sich im Verlauf der Schwangerschaft auf ein paar Monate, im besten Fall aber zwei bis drei Jahre, wenn nicht ein Wunder geschehen würde!

In dieser Zeit wurde uns von verschiedenen Ärzten eine Abtreibung empfohlen. Als es dafür zu spät war, wollte man eine Todgeburt einleiten. Aber wie sollte das gehen, unser Kind lebte ja noch? Zu guter letzt wurde uns nahegelegt, der Natur freien Lauf zu lassen und das Kind ohne ärztliche Massnahmen sterben zu lassen, wenn es auf der Welt sei. Es war erschreckend, auf wie viele Arten man den Tod unseres Sohnes herbeiführen wollte, uns aber niemand Mut zusprechen wollte, um am Leben unseres Kindes festzuhalten.

Die Wehen setzten am 25. Februar 2000 ein. Vier Wochen zu früh. Mir kam es recht. Acht Monate auf unseren Bubi zu warten war Geduldsprobe genug. Endlich sollte ich ihn in meine Arme schliessen dürfen.
Die Ärzte waren verständlicherweise nicht mit mir einig. Schliesslich war eine Frühgeburt ein zusätzliches Risiko. Letztlich kam er mit acht Monaten im Uni-Spital Zürich zur Welt. Er wog 2120 g und war gerade mal 42 cm gross. Gegen jegliche Erwartungen entwickelte er sich wie ein gesundes Kind. Gott war uns gnädig.

"Blue Spell"

Drei Monate später hatte Roy einen Zusammenbruch. Ein sogenannter "Blue Spell" suchte ihn heim. Er wurde in ein künstliches Koma versetzt und nach Zürich ins Kinderspital geflogen, wo er am folgenden morgen operiert wurde. Es wurde ihm ein Shunt eingesetzt, d.h. eine Verbindung zwischen der Lungenarterie und der Körperschlagader, um einen höheren Sauerstoffaustausch zu sichern.

Begegnung im Kinderspital

Während wir im Gang auf die Rückkehr von Roy warteten, setzte sich eine junge Mutter neben uns und begann leise zu weinen. Mit Gottes Gegenwart waren wir in der Lage, trotz unserer eigenen unsicheren Situation die Frau zu trösten und uns ihrer Sorgen anzunehmen. Sie hatte ebenfalls ein Kind mit einem Herzfehler und die Prognose war sehr schlecht.

An diesem Beispiel erkannte ich das erste Mal, dass nicht nur die Kinder die Patienten sind, sondern auch die Eltern. Sie bedürfen des Trostes und oftmals wollen sie einfach auch wissen, wie sie damit umgehen sollen.

Suchen nach Hilfe und Hoffnung

Nach der Geburt Roy's riefen wir der Eltern-Vereinigung Herzkranker Kinder an. Eine nette Dame fragte nach, ob wir gerne an einem Gruppentreffen der Eltern teilnehmen wollten. Aber als ich mich erkundigte, wie so ein Treffen abläuft, wusste ich, dass wir dort nicht das finden würden, was wir brauchten. Ausserdem kam die Hilfe etwas zu spät.

Am meisten bedürftig waren wir während der Zeit der Schwangerschaft, als wir von der Invalidität unseres Sohnes erfuhren. Ohne die Leistung der genannten Vereinigung schmälern zu wollen, hätte sie nur einen Teil unserer Nöte abgedeckt. Wir brauchten jemanden, der an uns glaubte und am Leben unseres Kindes festhalten wollte, jemanden, der die Abtreibung nicht als etwas selbstverständliches anschaute, sondern sich kritisch damit auseinander setzte. Wir brauchten jemanden, der uns zeigte, wie man mit der Situation umgeht, ständig an den möglichen Tod des eigenen Kindes erinnert zu werden.

Wir hörten von einer Frau, welche ebenfalls ein Kind mit einer Herzabweichung erwartete. Da ihr keine Hoffnung auf Leben gemacht wurde, verweigerte sie jeglichen Kontakt mit dem Kind in ihrem Leib. Sie suchte ihrem Kind keinen Namen aus, kaufte keine Kleider, noch hatte sie das Kinderzimmer eingerichtet. Ja nicht einmal einen Kinderwagen nannte sie ihr eigen. Ich bin sicher, dass diese Frau nicht viel mehr als etwas Hoffnung brauchte.

Roys Lachen

Mittlerweile wurde unser Sohn nochmals am Herzen operiert. Eine Operation hat er noch vor sich. Aber auch diese Prüfung werden wir mit Gottes Kraft bestehen. Unser Sohn hat sich prächtig entwickelt. In der Motorik scheint er etwas zurückgeblieben, doch ist er geistig absolut normal entwickelt. Roy hat eine besondere Ausstrahlung mit der er jeden um seine Finger wickelt. Sein Lachen hat gar therapeutische Kräfte. Kürzlich nahmen wir für drei Tage ein Mädchen bei uns auf, welches eine depressive Phase durchmachte. Was wir nicht erreichten, vermochte unser Strahlemann mit einem einfachen Lächeln zu tun. Das Mädchen blühte auf und schwärmt noch heute von unserem "Wonneproppen". Viele Leute hat der kleine zum Lachen gebracht. Manche fanden durch sein Zeugnis zu Gott. Es ist wirklich ein reicher Segen, ein solches Kind sein eigen nennen zu dürfen. Wir wissen nicht, wann der Herr ihn zu sich ruft, aber wir wollen keinen einzigen Tag mit ihm missen. Jeder Laut aus seinem Munde klingt wie eine himmlische Symphonie. Wir leben viel bewusster und sind dankbar für unseren Jungen. So sehr, dass wir die Freude mit anderen Eltern teilen wollen. Gerne zeigen wir an unserem eigenen Beispiel, wie man sein Kind annehmen kann, ohne von ständiger Angst begleitet zu werden, so, dass das Leben nicht nur für das Kind, sondern auch für die Eltern lebenswert ist. Meine Frau und ich haben uns entschlossen, jederzeit für Beratung vor und nach der Geburt zur Verfügung zu stehen. Es würde uns sehr freuen, wenn reger Gebrauch davon gemacht würde. Wir sprechen insbesondere Eltern von Kindern an, welche eine unheilbare Krankheit oder Invalidität aufweisen, und stehen auch gern als Berater vor dem Schwangerschaftsabbruch zur Verfügung.

Gottes Hilfe beanspruchen

Roy wird nun 2 Jahre alt. Wie mir scheint wird bei der Abtreibungsfrage der Wert eines Menschen nach seiner Grösse beurteilt. Gott macht aber keine Unterschiede. Für ihn sind alle wertvoll. Deswegen haben wir unsere Situation in die Hände unseres Schöpfers gelegt. Durch sein Wort, das in Ewigkeit bestand hat, haben wir nie unter Angst oder Depressionen gelitten. Wir haben erlebt, was es heisst, seine Kraft in uns zu spüren. Als sie Roy ins Koma legten, war ich selbst kurz davor in einen dunklen Schlaf zu fallen. Ich rief zum Herrn: Bist Du da? Komm erfülle mich mit deinem Heiligen Geist. Von diesem Moment an kam Ruhe und Sicherheit über mich, so wie sich der Nebel im Herbst über den Bodensee legt. Diese göttliche Kraft begleitet uns noch heute. Wir sind eine glückliche Familie, die täglich was zum Lachen hat.

Zum Schluss

Lassen Sie mich noch eines sagen. Als Vera in Erwartung war, sagte man uns oft, dass es keine Rolle spielt, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird, hauptsache, es ist gesund. Wir widersprechen dieser Aussage. Wir sagen, es spielt keine Rolle, ob es gesund ist oder nicht. Wir werden es auf jeden Fall annehmen und lieben.

Datum: 07.05.2002
Quelle: CDK

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