Wo Heilungen geschehen – ganz unspektakulär
Zufällig begegne ich an der Kirchenmauer auf St. Chrischona einer Frau. Sie hat das Tal verlassen, um auf der Höhe eine Brise frische Luft zu erhaschen. Wir reden. Sie ist ergriffen, denn etwas Wunderschönes ist ihr aufgegangen. Vor einigen Jahren war sie schon mal hoch zur Kirche auf St. Chrischona geflüchtet. Die Ärzte hatten ihr gesagt, dass sie niemals Kinder haben werde. In der Kirche hatte sie damals Gott angefleht. Und nun ist sie wieder da, aber nicht allein. Ihre beiden Kinder sind dabei. Und ihr wird an diesem Abend klar: Dies ist der Ort, an dem Gott mein Elend gesehen und geheilt hat.
Manche der «Chrischonakirche-Geschichten» würde ich nicht glauben, wenn sie mir nicht aus erster Hand erzählt worden wären, wenn ich nicht selbst dabei gewesen wäre. Könnte nicht ein Team von Studenten diese Geschichten einmal sammeln und nach wissenschaftlichen Kriterien auswerten? Ich frage mich, ob Chrischona ein spiritueller Ort ist.
Damit meine ich nicht einen esoterischen Ort, einen mythischen Platz, an dem man irgendwelche kosmischen Kräfte anzapfen und erleben kann. Ja, in Schriften und im Internet wird St. Chrischona als ein solcher Ort gehandelt – geben Sie nur mal die Begriffe «Kraftort» und «Chrischona» in eine Suchmaschine ein, Sie werden Augen machen!
Was ist ein spiritueller Ort?
Ein spiritueller Ort ist für mich ein Ort, der dem Menschen in besonderer Weise hilft, sich Gott hinzuhalten. Ein Platz, ein Raum, eine Umgebung, wo es mir leichter fällt, mich für die schöpferische Gegenwart, das erneuernde und heilende Handeln des Heiligen Geistes zu öffnen. Für den Fall, dass er will, der spiritus sanctus. Denn zur magischen Verfügung steht er uns nicht. Aber er ist auch kein Geist, der polternd und ungefragt in unser Leben hinein latscht. Er wartet darauf, dass wir ihm Gegenwart bei uns gewähren.
Vieles deutet darauf hin, dass die Kirche auf St. Chrischona schon seit langer Zeit solch ein geistlicher Ort ist. Der Segen eines solchen Ortes ist, dass hier die innere und die äussere Seite unseres Lebens offen werden für Gott – Leib und Seele. Ist es die Weite, die Stille, das Spiel des Lichtes drinnen und draussen? Die Schlichtheit der Kirche, das nackte Kreuz, die Wärme des Sandsteins, die ich im Rücken spüre? Oder vielleicht das Echo meiner eigenen, halblauten Gebete, der Wiederhall, der mein Singen mehrstimmig macht, obwohl ich doch alleine bin? Könnte es die Gemeinschaft vieler Menschen sein, die sich versammeln und mich wie in die Gegenwart Gottes tragen? Oder die Tradition und Geschichte dieses Fleckchens, so dass ich komme und sage: Seit Jahrhunderten begegnet Gott hier Menschen auf vielfältige Weise. Und nun klinke ich mich da ein, warum sollte er mir nicht nahe kommen und mich berühren?
So etwas wie Eintrittsräume
Wenn christliche Spiritualität die Kunst ist, geistbestimmt zu leben (so die Benediktregel), dann sind spirituelle Orte so etwas wie Eintritts- und Übungsräume für dieses Leben und diese Kunst. Wie gemacht sind diese Orte für die durchgekämpfte und durchgebetete Nacht, in der sich ein Mensch mit Gott verständigt hat und nun mutig tut, was angesagt ist. Hier fasste die Schwerkranke neuen Mut, dass ihr Leben mit der Krankheit nicht in die Zweitklassigkeit abrutscht, sondern neues Glück für sie bereithält. Denn Gott hatte es ihr gesagt!
Reservieren kann man diesen Ort für allen Schmerz, weil es sich hier besser weinen lässt, weil man die Klage hier wochenlang hallen lassen und schliesslich verhallen hören kann. Und hier geschehen Heilungen, innerlich und leiblich, still und spektakulär. Wie bei der Frau an dem Abend im Jahrhundertsommer. Oder wie bei mir an jenem Abend, als die Studenten meiner Lebensgruppe mich im Lobpreis und Gebet plötzlich in die Mitte stellten und Gott ganz schlicht baten, meinen Tinnitus zu heilen, dieses ständige Geräusch in meinem Ohr. Erst einige Wochen später merkte ich, wie sich das Vibrieren und Läuten aus meinem Kopf geschlichen hatte.
Das Gebetsbuch in der Kirche spricht Bände, und auch sonst erzählen Menschen, wie ihnen Gott begegnet ist und an ihnen gehandelt hat. Ist es denkbar, dass Gott uns solche Flecken, Orte und Räume gönnt, einfach weil er es will und uns liebt? Ich meine, St. Chrischona mit seiner Kirche ist ein solch spiritueller Ort.
Dr. Andreas Loos ist Dozent für Praktische Theologie am Theologischen Seminar St. Chrischona (tsc). Er ist verheiratet mit Simone, sie haben zwei Kinder.
Datum: 16.08.2013
Autor: Andreas Loos
Quelle: Chrischona Panorama