Christliche Viren verbreiten sich

Achtung, fromme Corona-Fake News!

Ausserordentliche Zeiten bringen Menschen offenbar auf ausserordentliche Gedanken. So blüht in Corona-Zeiten auch der Markt für christliche Fake News – frommer Unsinn, der meistens über Whatsapp ganz persönlich und glaubwürdig daherkommt.
Whatsapp-Chat
Rhetorische Frage von nau.ch-Kolumnist Sam Urech: «Ist Jesus stärker als das Coronavirus?»
Graffiti aus dem 2. Jahrhundert

«Ich war den Tränen nah, als ich die Geschichte von Don Giuseppe Berardelli (†72) las», schreibt der Kolumnist und Christ Sam Urech auf Nau.ch. «Ein infizierter Priester aus Bergamo, der sein Atemgerät einem anderen überliess und starb. Und das, obwohl die Kirchgemeinde des Priesters das Gerät extra für ihn kaufte. 'Spiegel', 'BBC' und viele weitere berichteten von ihm.

Unzählige Christen feierten Don Giuseppe in Whatsapp-Gruppen und auf Facebook. Das Problem: Die Geschichte stimmt kaum. Don Giuseppe war bestimmt ein wunderbarer Mensch. Aber das Gerät, das übrigens dem Krankenhaus gehörte, wurde ihm abgenommen, weil er es nicht ertragen konnte.

Ein – sicher noch harmloses – Beispiel für falsche Nachrichten, die sich heute in Windeseile auch in frommen Kreisen verbreiten (wir bei Livenet haben diese Geschichte übrigens hier korrigiert).

Der Atheist, der zu Gott fand

Ein anderes Beispiel ist die rührende Geschichte eines «Dr. Julian Urban», Arzt und Atheist in der Lombardei, der durch das Zeugnis von Christen im Corona-Horror zum Glauben gefunden haben soll. Auf einer rumänischen Facebook-Seite entstanden, ging die Story viral, irgendjemand fand ein Foto, das allerdings einen ganz anderen Arzt zeigt. Die Geschichte ist erfunden, denn in der Lombardei gibt es keinen Mediziner mit Namen Julian Urban.

Christliches Blut immunisiert

Diese Geschichte ist deutlich abstruser: In China seien Corona-Kranke nach Blutübertragungen von Christen auf wunderbare Art geheilt worden. «Kein Virus liess sich mehr nachweisen», heisst es in einer Sprachbotschaft, die uns vorliegt (Livenet berichtete). Also: Das Blut von Christen habe heilende Kraft, und es wird fromm kurzgeschlossen: «Jesus ist grösser als Corona!» Wow.

Warum fallen wir auf sowas herein?

Wenn es etwas Erstaunlicheres gibt als solche Geschichten, dann die Tatsache, dass sie von so vielen Christen kritiklos geglaubt und weiterkolportiert werden. Heute kann sich ja jeder Virus, jede Idee, jede noch so abstruse Story elektronisch in Stunden millionenfach verbreiten. Was geht hier ab? Mehrere Faktoren spielen hier zusammen.

Persönlich = wahr?

Ein Grund ist, dass die meisten solcher Nachrichten über Whatsapp (oder Facebook) zu uns kommen – meistens von Menschen, die wir kennen und denen wir vertrauen. Also denken wir: Was von dem kommt, muss doch stimmen.

Achtung, Kurzschluss! Lange nicht alles, was Tante Frieda per Whatsapp schickt, muss stimmen. Nicht einmal alles, was Pastor X schreibt. Versuchen Sie immer, mehrere Quellen zu finden und im Zweifelsfall festzustellen, wo eine News herkommt. Das bewahrt natürlich nicht 100-prozentig vor Falschmeldungen (auch Livenet und andere weltberühmte Medien nicht), aber gehört zur sozialen Medienkompetenz, die wir heute brauchen. Und: Überlegen Sie es sich dreimal, bevor Sie unkritisch etwas weiterverbreiten.

Wundersucht und Turbo-Charismatik

Es tut gut zu hören, dass Gott noch Wunder tun kann, jetzt erst recht. Wunder stärken unseren Glauben, oder? Also – je mehr Wunder, desto besser. Wer will da schon mit dem Seziermesser des kritischen Hinterfragens dahinter? Kann Gott nicht alles?      

Achtung, Kurzschluss! «Aus mehrerer Zeugen Mund» soll auch ein Wunder bestätigt werden. Das ist nicht Unglaube, sondern gehört zur Wahrheit des Evangeliums. Halb- oder Unwahrheiten ehren Gott nicht! Natürlich tut Gott heute Wunder, aber sie lassen sich nicht einfordern, programmieren, zur Norm erheben.
Es gibt eine Turbo-Charismatik, die nur darauf wartet, wieder etwas Übernatürliches zu hören und weiterzusagen, ohne Rücksicht auf Verluste. Aber wehe dem Glauben, der sich vor allem von Wundern ernährt! Geistliche Adipositas ist etwas Lebensgefährliches – kann es im wahrsten Sinne des Wortes sein, wenn man liest, dass fromme Leiter sich rühmen, ihre Kirche nicht zu schliessen, weil «das Virus hier keinen Platz hat».

Wunder sind wunderbar. Aber sie sind nicht tägliches Brot, eher Kuchen. Und sie eignen sich auch nicht besonders gut, dass Menschen zum Glauben kommen – siehe Lukas-Evangelium, Kapitel 16, Vers 31.

Schlicht und einfach naiv

Viele Fake News schliesslich werden von Christen einfach aus Naivität verbreitet. Eine gewisse Unschuld ist ihnen zu eigen, und der Vater der Lüge hat bisweilen leichtes Spiel mit ihnen. Jesus sagt es deutlich: Seid nicht nur ohne Falsch wie die Tauben, sondern auch klug wie die Schlangen. Das ist im Medienzeitalter aktueller denn je. Sicher, Christen sollen – nach Philipper-Brief, Kapitel 4, Vers 8 – positiv denken, reden und Gutes weitersagen (übrigens einer der Leitsätze von Livenet). Aber: Nicht alles, was positiv klingt, ist wahr. Tief und positiv glauben ist eins, alles glauben ist etwas anderes.

Zur Ehrenrettung der Kirche: Christen sind nicht die einzigen, die Fake News erfinden, glauben und verbreiten. Die Welt ist voll davon. Und zu den fiesesten Fake News gehören die Stories, die man sich von Christen erzählt. Das ist übrigens nicht neu – schon im zweiten Jahrhundert wurde kolportiert, dass Christen einen Esel anbeten: «Alexamenos betet seinen Gott an» heisst die Inschrift auf diesem Graffiti, der ersten Darstellung des Gekreuzigten übrigens.

Diskussion über «Fake News» im Livenet-Talk

Eine vertiefte Auseinandersetzung mit diesem Thema gibt's hier im Livenet-Talk vom 3. April 2020:


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Datum: 03.04.2020
Autor: Reinhold Scharnowski
Quelle: Livenet

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