Spital- und Heimseelsorge

Kirchliche Baustellen im Gesundheitswesen

Im Gesundheitswesen wächst der Kostendruck. Den spürt auch die Spitalseelsorge. Die steht angesichts von neuen Anforderungen und religiöser Vielfalt auch im Spital vor grossen Herausforderungen. Urs Winter, Theologe und Psychologe, befasst sich mit Fragen der Qualitätsentwicklung in der Spitalseelsorge.
Sterbebegleitung - Frau an Krankenbett

Die Frage ist zwar einfach. Aber vor einer Antwort kann sich die Kirche immer weniger drücken. Urs Winter sagt es so: «Welche gesellschaftliche Rolle will die Kirche heute noch übernehmen? Das ist doch die Grundfrage! Und sie betrifft das Gesundheitswesen nicht weniger als das Schulwesen.» Habe die Kirche diese Frage einmal für sich beantwortet, könne sie definieren, welche weiteren Schritte es brauche, um diese Rolle auch wirklich auszufüllen.

Kostendruck verändert Stellenwert

«Wollen wir im Gesundheitswesen bei den Menschen präsent sein? Was braucht es, damit wir diese Aufgabe auch in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren wahrnehmen können?» Für Urs Winter sind das zentrale Fragen. Denn mit dem Kostendruck im Gesundheitswesen verändert sich auch der Stellenwert der Spitalseelsorge.

Angesichts der Einführung eines neuen Finanzierungssystems in der Schweiz, welches mit sogenannten «Fallpauschalen» operiert, wird die Abgeltung sämtlicher Zusatzdienste schwieriger und komplizierter. Zu denen gehört auch die Spitalseelsorge. Kann die Seelsorge in einem Spital künftig über dieselbe allgemeine Kostenstelle abgerechnet werden - wie etwa die Ergotherapeutin oder der Spitalgärtner?

Spirituelle Begleitung

Die Zeichen, dass auch die Seelsorge in den Grundkatalog der obligatorischen Versicherungsleistungen aufgenommen werden kann, stehen derzeit schlecht, mutmasst Urs Winter. Der Grund ist einfach: «Niemand hat angesichts der Kostenexplosion im Gesundheitswesen ein Interesse daran, diesen prallen Ballon noch stärker aufzublasen.»

Die Frage ist durchaus aktuell. Denn die vom Bundesamt für Gesundheit im Oktober 2010 veröffentlichten nationalen Leitlinien für die Palliativpflege («Palliative Care») sprechen explizit auch die «spirituelle Begleitung» an. In ihrer letzten Lebensphase seien die Menschen «in ihren existenziellen, spirituellen und religiösen Bedürfnissen auf der Suche nach Lebenssinn, Lebensdeutung und Lebensvergewisserung sowie bei der Krisenbewältigung» zu begleiten, heisst es dazu.

Sollen sich die Kirchen darauf gefasst machen, die Seelsorge in den Spitälern in Zukunft auch weiterhin oder sogar vermehrt finanziell mitzutragen? Ja, meint Urs Winter. Denn gerade in den Spitälern und Heimen werde die Kirche in ihrer Begleitung der Menschen wahrgenommen und geschätzt: «Hier kann die Kirche wirklich ihre gesellschaftliche Relevanz an den Tag legen.»

Seelsorge für alle?

Die Spitalseelsorge selber muss sich ebenfalls neuen Herausforderungen stellen. Die heute in der Schweiz noch grösstenteils konfessionell geprägte Seelsorge werde sich verändern und neue Konzepte entwickeln müssen, sagt der Fachmann voraus. Tatsache ist: Die religiöse Vielfalt hat auch in den Spitälern längst Einzug gehalten - im Bett neben dem Katholiken oder dem Protestanten liegt vielleicht der Muslim oder der Hindu. Kommt hinzu: 15 Prozent der Schweizer Bevölkerung sind heute konfessionslos.

Urs Winter ist Befürworter eines Seelsorgekonzeptes, das bereits in Grossbritannien oder Holland praktiziert wird. Und dieses besagt: Die Seelsorgenden sind für alle Menschen im Spital da - egal, ob es sich dabei um Angehörige der eigenen oder einer anderen Religion handelt oder auch um Nichtgläubige.

Die Seelsorge im Krankenhaus wird zur Seelsorge für die Institution. Denn auch im Spitalpersonal finden sich immer mehr Menschen mit einem anderen religiösen Hintergrund. Die Spitalseelsorger seien herausgefordert, sich nicht nur mit Menschen anderer religiöser Herkunft auseinanderzusetzen, sondern auch mit solchen, die ganz andere Sinnstrukturen hätten und denen demzufolge anderes als Religion wichtig sei, erläutert Urs Winter.

«Gesundheitsberuf» Spitalseelsorge?

Die wachsende Vernetzung im Spitalalltag kann ebenfalls nicht spurlos an der Spitalseelsorge vorbeigehen. Das aber rührt an das Selbstverständnis der Seelsorger: Sind sie kirchliche Angestellte in einer nichtkirchlichen Institution? Oder üben Seelsorger wie andere im Spitalteam ebenfalls einen «Gesundheitsberuf» aus, indem sie Menschen angesichts ihrer religiösen, spirituellen und vielleicht auch psychosozialen Fragen begleiten? Als solche sind sie primär Teil des Spitalteams.

Das aber hat Konsequenzen. Denn bisher hat die Spitalseelsorge ihre Arbeit in der Regel nicht dokumentiert: «Wir sind vor allem einfach da und hören zu», machen Seelsorgende geltend. Aber kann im Spitalalltag wirklich eine professionelle Zusammenarbeit stattfinden, wenn nicht auch die Seelsorge über ihr Tun berichtet und ihren Beitrag in das Team einbringt?

Für Urs Winter ist in dieser Frage ein Mittelweg angebracht. Gewiss gebe es im Bereich der Seelsorge die Schweigepflicht. Aber Beispiele zeigten, dass es sehr wohl funktionieren könne, das Team mit medizinisch oder pflegerisch relevanten Informationen aus der Seelsorge zu versorgen, ohne dabei Einblick in konkrete und vertrauliche Gesprächsinhalte zu geben.

Ohne Anpassung an die rationale und faktenorientierte Sprache der anderen Gesundheitsberufe und ohne Dokumentierung der Leistungen der Seelsorge auch in der Forschung gehe es allerdings nicht, betont Urs Winter.

Wachsende Konkurrenz

Auch im Krankenhaus sind die Kirchen nicht mehr die einzigen Sinn- und Lebensdeuter. Es gebe für die Seelsorger eine wachsende Konkurrenz unter den anderen Gesundheitsberufen, erzählt Urs Winter. Er berichtet etwa von Hebammen mit Trauerausbildung. Das führe dazu, dass Seelsorger bei Fehlgeburten gar nicht mehr beigezogen würden, weil die Hebammen auch gleich die Trauerbegleitung der Mutter und der Familie übernähmen.

In den letzten Jahren hat sich die Pflegewissenschaft zunehmend für die ganze spirituelle Dimension des Menschen interessiert. Es sind besonders im englischsprachigen Raum viele Studien dazu veröffentlicht worden - leider beteiligten sich die Seelsorgenden herzlich wenig an diesen Diskussionen, bedauert Urs Winter: «Dabei könnte doch gerade die Theologie eine wichtige Stimme einbringen. Sie hat auf den Menschen einen ganz anderen Blick, der die funktionalistische Sicht der Medizin hinterfragt und ergänzt: Was ist der Mensch? Was heisst Gesundheit, was Krankheit?»

Ambulante Seelsorge

Die Spitalseelsorge ist das eine. Doch die meisten Menschen in der Schweiz möchten laut jüngsten Umfragen zu Hause sterben. Und deshalb kommt auf die Kirchen angesichts der Überalterung die nächste Herausforderung zu. Urs Winter: «Müsste nicht auch an den Aufbau einer ambulanten Seelsorge gedacht werden, integriert wohl in die bereits bestehenden Dienste der spitalexternen Krankenpflege (Spitex)?» Da liege jedenfalls noch vieles brach.

Angesichts der restriktiven Datenschutzbestimmungen in der Schweiz wüssten die Ortsseelsorger oft gar nicht, wenn jemand aus der Gemeinde im Spital sei - und ebenso wenig, wenn jemand nach Hause entlassen werde. Und schliesslich: Angesichts der meist bloss 5 bis 10 Prozent der Gemeindeangehörigen, die zu den regelmässigen Gottesdienstbesuchern gehören, werde der Beziehungsbau in den Gemeinden generell immer schwieriger. Urs Winter: «Aus dem Nichts heraus den Ortsseelsorger anrufen, wenn die eigene Mutter nach einem Spitalaufenthalt wieder daheim ist - das ist wohl eher schwierig.»

Teilzeit-Seelsorger in den Heimen

Eine Baustelle ist auch die Heimseelsorge. Denn die Ortsseelsorger sind mit der zusätzlichen Betreuung der Bewohner in den Alters- und Pflegeheimen oft überfordert - häufig reicht es bloss für einen Gottesdienst und kurze Besuche der eigenen Gemeindemitglieder.

Die reformierten Kirchen sind diesbezüglich weiter, hebt Urs Winter hervor. In den Kantonen Aargau oder Zürich sind in Heimen Seelsorge-Teilzeitpensen eingerichtet worden. Auf diesem Wege sei es für die Seelsorgenden viel eher möglich, sich in ein bestehendes Pflegeteam zu integrieren. Denn schliesslich brauche es eine Vertrauensbasis, um überhaupt zusammenarbeiten zu können.
 

Datum: 18.11.2010
Quelle: Kipa

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