Jeder Tag war ein Geschenk

«Ich habe meine Tochter verloren!»

Sechs Monate durfte Andrea ihre Tochter geniessen. Eine lange Lebenserwartung hatte das Kind mit Down-Syndrom und Lungenproblem nicht gehabt. Und doch hat sie eine Lücke in dieser Welt hinterlassen.
Andrea Reck mit Tochter Lavinia (Bild: zVg)
Baby Lavinia

Andrea Reck schwanger. Mit Ehemann Cyrill freute sie sich riesig auf ihr zweites Kind. Während der Schwangerschaft wurde klar: Es braucht einen Kaiserschnitt. Das Baby war nämlich sehr gross. Nach der Geburt wurde mitgeteilt: «Ihre Tochter hat das Down-Syndrom». Damit hatte niemand gerechnet. Und schon folgte die Meldung, dass das Baby auch ein Problem mit der Lunge habe. Dank der Kaiserschnittgeburt konnte das Kind überhaupt lebendig geboren werden.

Eine intensive Zeit für die ganze Familie

Lavinia wurde ins Kinderspital verlegt, wo es die nächsten sechs Monate blieb. Kurz nach der Geburt erfolgte eine Herzoperation, kurz darauf ein weiterer Eingriff an der Lunge. Zweimal musste das Mädchen reanimiert werden – für Andrea immer eine emotionale Achterbahnfahrt. Im Krankenhaus wurde eine Ethikkommission zusammengestellt, um über den Fall Lavinia zu beraten. Zu diesem Zeitpunkt war das Kind ohne die vielen Kabel, an denen es hing, nicht lebensfähig. Ernährt wurde es über Sonden.

Täglich über Mittag besuchte Andrea ihre kleine Tochter im Spital und war jeweils drei Stunden von zu Hause weg. Am Abend übernahm Cyrill den Besuch bei Lavinia. Ein idyllisches Familienleben war so nicht möglich. Es war ein grosses Geschenk, als eine Freundin anbot: «Ich werde einen Abend pro Woche bei Lavinia verbringen.»

Eine Frage des Blickwinkels

«Vielleicht lebt Ihr Kind noch zwei Wochen», wurde Andrea und Cyrill erklärt. «Es könnten aber auch 20 Jahre sein.» Wie sollte mit so einer Lebenserwartung umgegangen werden? Andrea betrachtete jeden Tag mit Lavinia als ein besonders Geschenk und erlebte sie diese Zeit immer wieder als wertvoll.

Reaktionen aus dem Umfeld fielen äusserst unterschiedlich aus. Einige konnten sich negative Kommentare gegen den Gynäkologen nicht verkneifen: «Wie konnte der nur ein Down-Syndrom übersehen!» Andrea war schockiert. War ihre Tochter wegen der Behinderung etwa nicht lebenswert? Oft wurde Andrea mit der unverhohlenen Meinung brüskiert, behinderte Menschen seien eine Last und hätten keine Daseinsberechtigung.

«Wie könnt ihr diesen ganzen Druck aushalten?» fragten andere, die sich die Freude im Leben von Andrea und Cyrill nicht erklären konnten. Vom Krankenhaus her wurde regelmässig Hilfe angeboten. «Es war erstaunlich, wie wir trotz der grossen Belastung immer die Kraft zum Weitermachen erhielten.» Und die Kraft reichte tatsächlich aus. Unterstützt wurden sie von Menschen – auch von solchen, deren Anteilnahme und aufopfernde Hilfsbereitschaft sie sehr überraschte.

Wenn ein Kind stirbt

«Wollen Sie das Kind mit nach Hause nehmen?», fragten die Ärzte. Die Frage stresste Andrea. Würde ihre ältere Tochter Schaden nehmen, wenn sie das Ergehen ihrer Schwester mitansehen musste. Doch dann wagten sie den Schritt und nahmen das Baby nach Hause. Am zweiten Morgen erwachte Andrea und sah nach Lavinia. Sie wollte ihr die nächste Sondennahrung verabreichen. Doch da lag nur noch ihr lebloser Körper. «Sie war einfach eingeschlafen, ich habe nichts mitgekriegt.»

Der erste Moment war heftig. Andrea war am Boden zerstört. Cyrill legte den Körper ihres Babys in den kleinen Sarg – sie selbst hätte keine Kraft dazu gehabt. Das langandauernde Elend blieb aber aus. «Seit Lavinias Geburt habe ich mit Trauern begonnen. Jeder Tag mit ihr, war ein Geschenk und gleichzeitig auch ein Tag des Abschiednehmens.» Das Kind hinterliess eine unwiderrufliche Lücke in ihrem Herzen. Und auch in der Familie.

«Es war mein Kind»

Seit dem Verlust von Lavinia sind dreizehn Jahre vergangen. Zur älteren Tochter gesellte sich später noch ein Sohn. Als Familie denken sie immer zu Geburts- und Todestag an ihr verlorenes Familienmitglied.

Andrea erfuhr, dass jährlich zwei bis drei Familien, die bei der Geburt ihres Kindes von dessen Down-Syndrom erfahren, es daraufhin im Spital zur Adoption abgeben. Sie war entsetzt. «Auch ein behindertes Kind ist doch das eigene Kind!» Sie jedenfalls hat nicht ein «Behindertes», sondern ihre Tochter verloren. Sie hält fest, dass es ein Vorrecht war, Lavinia zu haben und mit ihr viele einzigartige und wunderschöne Momente zu durchleben. «Lavinia hat mein Leben reich gemacht!»

Keine Angst vor dem Negativen

Heute nimmt Andrea die weit verbreitete Angst von Menschen wahr, ein behindertes Kind zu erhalten. «Jedes Leben ist ein Geschenk», sagt sie mit tiefer Überzeugung. «Und Gott wird uns die Kraft geben und uns auch durch schwierige Erfahrungen hindurchtragen.» Es lohnt sich nicht, sich vor scheinbar Negativem zu fürchten und zu versuchen, Problemen aus dem Weg zu gehen. Vielleicht will Gott uns nämlich gerade dort unser Leben reich machen, wo wir es niemals für möglich halten.

Andreas Glaube hat an Tiefe gewonnen. Und auch sonst hat die Geschichte in ihrem Leben Spuren hinterlassen. «In mir ist die Überzeugung gewachsen, dass Gott tatsächlich immer einen Plan hat und alles gut werden wird. Selbst dann, wenn ich keine Vorstellung habe, wie die Sache ausgeht.»

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Datum: 25.05.2020
Autor: Markus Richner-Mai
Quelle: Livenet

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