«Eltern verzichten für ihre Kinder auf Essen»
Herr Siggelkow, Sie bekommen die Armut in Deutschland täglich vor Augen geführt. Was bedeutet die rasante Inflation ganz konkret für die Menschen, um die Sie sich kümmern?
Bernd Siggelkow: Die 7,5 Prozent Inflation, von denen in den Medien immer die Rede ist, sind ja nur ein Durchschnittswert. Im Lebensmittelbereich liegt der Wert zum Teil bei 100 Prozent. Das merken bedürftige Familien mit einem eingeschränkten Etat bei ihren Einkäufen sehr drastisch. Es gibt erste Eltern, die auf ihr Essen verzichten, damit ihre Kinder genug davon haben. Dauerhaft wird und kann das so nicht weitergehen.
Die Familien mit geringem Einkommen sind also nach wie vor am stärksten betroffen?
Kinder, die von Transferleistungen leben, haben am Tag 3,50 Euro für Lebensmittel zur Verfügung. Da funktioniert es nicht mehr, sie gesund zu ernähren oder sie satt zu bekommen. Manche Eltern kaufen ihren Kindern eine Tüte Chips, damit sie schnell satt werden. Das dabei gesparte Geld geht dann noch für andere Anschaffungen drauf. Die Folgeschäden dieser Entwicklung sind gravierend, nicht nur was die Gesundheit der Kinder betrifft. Zudem sind günstige Lebensmittel relativ schnell von den Menschen aufgekauft, die sie sich leisten können und diese bei sich horten.
Vor welchen Folgeschäden haben Sie am meisten Angst?
Wenn ein Kind ohne Frühstück in die Schule geht, kann es sich nicht richtig auf den Unterricht konzentrieren. Bei falscher und einseitiger Ernährung kommt es zu körperlichen Mangelerscheinungen und Übergewicht. Das kann auf die Dauer nicht gut gehen. Die Kinder merken, dass sie auf viele Dinge verzichten müssen, weil sie es sich nicht mehr leisten können. Wenn Eltern jede Ausgabe zehn Mal prüfen müssen, macht das was mit der Psyche des Kindes. Sie haben Angst vor Mobbing in ihrem Umfeld. Da lastet eine unglaubliche psychische Belastung auf den Kindern und Eltern, weil sie für sich kaum noch eine Perspektive haben und sehen.
Ab welchem Tag des Monats wird es für viele Familien eng?
Für die meisten Familien ist es immer eng. Wenn das Geld bis zum 20. Tag des Monats reicht, wissen sie ja nicht, was am nächsten Tag die Milch und am übernächsten Tag die Butter kostet. Auch bei uns in der Arche steigen die Ausgaben: etwa für die Lebensmittel, die wir zum Kochen benötigen. Zudem sind die Spenden gesunken, weil auch unsere Spender die Inflation spüren und das gespendete Geld für ihre eigenen Lebenshaltungskosten brauchen. In der Arche gehen wir davon aus, dass sich bis zum Jahresende unsere Einnahmen halbieren und unsere Ausgaben verdoppeln. Wenn wir das als Einrichtung schon merken, dürfte der Effekt bei den Familien noch deutlich höher sein.
Sehen Sie Ansatzpunkte, um dieses menschenunwürdige Leben zu verbessern?
Ich hatte heute morgen Politiker zu Gast in der Arche. Ich habe ihnen verdeutlicht, dass die Preise ja nicht erst durch den Ukraine-Krieg, sondern seit dem Frühjahr 2021 gestiegen sind. Die Politiker haben sich zu diesem Zeitpunkt die Diäten erhöht. Ich will ihnen da nichts unterstellen. Aber der «kleine Mann» und die Kinder bleiben auf der Strecke, weil man nicht richtig wirtschaftet und nachdenkt. Natürlich brauchen wir Entlastungs-Pakete für bedürftige Familien. Aber in letzter Konsequenz verdient der Staat auch an jeder Preiserhöhung und erhöhten Steuern. Für die Menschen in der Mittel- und Unterschicht scheinen sie sich da nicht so wirklich zu interessieren. Ich verstehe zum Beispiel nicht, warum gesunde Lebensmittel wie Gemüse so hoch besteuert werden müssen. Vor allem gesundes Essen sollten sich die Menschen leisten können. Aber das ist für viele unerreichbar.
Vor einem Jahr haben wir uns über die Corona-Krise unterhalten: Haben Sie noch Kraft für diesen Lauf im Hamsterrad?
Wenn ich kein gläubiger Mensch wäre, stünde ich der Situation sicher ohnmächtig gegenüber. Ich muss zum Beispiel allen meinen Einrichtungen erklären, dass pro Raum nur noch eine Birne brennt. Wir müssen die Kosten senken. Jetzt stehen bald die Budget-Gespräche mit den 30 Einrichtungen für das kommende Jahr an. Ich muss jedem mitteilen, dass sich die Betriebskosten verdreifachen werden. Aber ich nicht weiss, ob die Spenden reinkommen. Ich möchte aber auch nicht, dass wir eine Arche schliessen oder Besucher abweisen müssen. Andererseits glaube ich daran, dass Gott uns versorgt. Davon bin ich jetzt noch abhängiger als in der Vergangenheit. Für Menschen, die mit Gott und Kirche nichts am Hut haben, ist das schwer nachvollziehbar. Von Spenden zu leben, ist immer ein Drahtseilakt. Dieser kann nur mit einem Glaubensfundament und mit Spendern funktionieren.
Gibt es denn auch positive Aspekte der Krise?
Viele Dinge passieren eher aus der Not heraus. Als das erste ukrainische Kind zu uns kam, hat es die ganzen Puppen, die auf dem Tisch lagen, in eine Tüte gesteckt und sich in der Ecke verkrochen. Mir wurde klar, dass sie alle ihre Spielsachen zu Hause lassen musste. Ganz viele Eltern sagen uns, dass sie ohne uns nicht überleben können. Eine Mutter stand letztens mit verweinten Augen vor mir und sagte: «Wenn ich euch jetzt nicht hätte, dann wüsste ich nicht, wie ich mich und meine Kinder ernähren soll.» Ohne unsere Arbeit wären sie völlig auf sich alleine gestellt. Es geht dabei auch viel weniger um die finanzielle als um die moralische Unterstützung. Das bewegt einen. Durch uns haben sie wenigstens ein Fünkchen Hoffnung. Wir versuchen, sie zu stärken und zu motivieren.
Woher nehmen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Kraft, das durchzustehen?
Das ist nicht immer so ganz einfach. Nach zwei Jahren Pandemie mit teilweise doppeltem Arbeitspensum hatten sie gehofft, dass jetzt etwas Ruhe einkehrt. Aber es wurde noch schwieriger. Die Mitarbeiter orientieren sich immer wieder an den Kindern und wissen, wofür sie es tun. Viele sind gläubige Menschen und ziehen daraus Kraft. Alle sind sehr motiviert und lassen sich motivieren. Ich versuche, ein guter Vorgesetzter zu sein und sie zu unterstützen: etwa, wenn sie einen freien Tag brauchen oder Freiräume, um einen Bericht zu schreiben. Wir sind ja nicht nur für die bedürftigen Familien eine Familie, sondern eben auch für unsere eigenen Mitarbeiter verantwortlich. Ihnen soll es genau so gut gehen wie unseren Kindern.
Sie haben vor ein paar Monaten Kinderarmut den Krieg erklärt: Wie ist die Gefechtslage?
Ich bin immer noch ein Sprachrohr für die Kinder in unserem Land. So habe ich auch meine Rolle in den letzten 20 Jahren gesehen. Meine Stimme dafür wird immer lauter. Sie kommt mittlerweile auch in der Politik an. Ich habe gerade an einem internen CDU-Papier zum Thema Kinderarmut mitgearbeitet. Es geht darum, wie man das Thema bekämpfen kann und ich habe meine Expertise und meine Vorschläge eingebracht. Den Abgeordneten der FDP heute morgen habe ich gesagt, dass es gar nicht anders geht, als in den politischen Gremien auf Experten zu hören. Viele Politiker haben noch nie mit bedürftigen Menschen zusammengearbeitet. Wenn wir Kinderarmut den Krieg erklären, müssen wir diesen Krieg gewinnen. Wenn wir ihn verlieren, werden Kinder sterben. Diese Verantwortung möchte ich niemals übernehmen. Oft wird erst reagiert, wenn ein Kind verhungert auf der Strasse liegt. Ich werde dagegen kämpfen, dass das passiert. Wenn wir nichts dagegen tun, bin ich skeptisch, ob uns das gelingt.
Also sollten in der Kinderkommission mehr Experten sitzen?
Um die Kinderarmut zu bekämpfen, definitiv ja. Ich habe manchmal das Gefühl – bitte nicht falsch verstehen –, dass es in unserem Land an Führung mangelt. Uns begegnen so viele Probleme und keiner übernimmt so richtig die Führung und die Menschen an die Hand. Als Arche versuchen wir, das umzusetzen. Natürlich ist das schwierig und herausfordernd. Es nutzt nichts, den Kopf in den Sand zu stecken. Wir müssen Menschen an die Hand nehmen und mit ihnen gemeinsam nach Lösungen suchen.
Was zehrt in dieser Debatte am meisten an Ihren Nerven?
Die Entscheider in den politischen Gremien kommen nicht aus der Praxis. Wir haben am Deutschen Bundestag eine Kinderkommission, aber da sitzen keine Experten drin, die genau mit diesen Menschen arbeiten. Das Zweite ist, dass arme Kinder im politischen Geschehen immer als Randgruppe behandelt werden. Es hat bisher leider noch keine Partei deutlich gesagt, dass wir Kinderarmut in Deutschland haben und etwas dagegen tun müssen. Wir wischen das Thema vom Tisch, aber es ist Realität und das müssen wir zugeben und die Probleme aktiv bekämpfen und nicht nur die Symptome benennen. Das bedeutet auch, die Transferleistungen massiv zu erhöhen.
Können Sie trotzdem zuversichtlich in die Zukunft blicken?
Ich finde, dass uns allen gerade sehr viel Angst gemacht wird und das alle verunsichert. Wir wissen nicht genau, wie sehr wir den Gürtel enger schnallen und die Heizung runterfahren müssen. Das macht mir auch Angst. Wir sollten trotzdem immer wieder Menschen Mut machen. Ich glaube, das ist gerade die grosse Herausforderung. Wenn Politiker dann untertauchen und die Menschen nicht motivieren, ist das schlecht. Angela Merkel wurde ja oft kritisiert. Aber ihren Slogan «Wir schaffen das» höre ich im Moment gar nicht. Ich höre nicht, dass wir als Volk zusammenhalten sollen, um die Krise gemeinsam zu bewältigen. Es braucht Sätze wie: «Lasst uns gemeinsam vorwärts gehen. Lasst uns Mut haben und nicht resignieren.» Wer Ideen dazu hat, soll sie einbringen.
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Datum: 27.07.2022
Autor: Johannes Blöcher-Weil
Quelle: PRO Medienmagazin