Basel gyygt

Kinder mit Migrationshintergrund erhalten Geigenunterricht

«Basel gyygt» ermöglicht mit Gruppengeigenunterricht und Kinderstreichorchester den Einstieg in den regulären Instrumentalunterricht für Kinder aus sozial benachteiligten Schichten. In sechs Jahren wuchs das Projekt von 18 auf über 250 Kindern.
Basel gyygt (Bild: Dienstagsmail)

Kinderstreichorchester den Einstieg in den regulären Instrumentalunterricht für Kinder aus sozial benachteiligten Schichten. In sechs Jahren wuchs das Projekt von 18 auf über 250 Kindern.

Anstoss zu «Basel gyygt» gab ein missglückter Kinobesuch: Pfarrer Christoph Ramstein wollte sich mit seiner Frau in einem Landkino in Sissach wieder mal einen spannenden Streifen anschauen. Doch nach gut 50 Minuten standen schon alle wieder auf. Auf dem Ticket war nicht der Film, den sie sich ansehen wollten. Doch der Film «Fiddlefest» hatte es in sich: Er dokumentiert, wie Roberta Guaspari in den 1980er Jahren als Arbeitslose in New York das «East Harlem Violin Program» lancierte.

Nach 20 Jahren im Pfarramt übernahm Christoph Ramstein im Herbst 2014 die Geschäftsleitung der 1859 gegründeten Evangelischen Stadtmission Basel. Und er erinnerte sich an diesen Kinobesuch vor vielen Jahren. Auch in Basel könnte man etwas Vergleichbares mit Kindern aus ganz schwierigen sozialen Verhältnissen wagen. Zur Zielgruppe gehörten neben Flüchtlingskinder auch Kinder, die kaum Zugang zur klassischen Musik hatten.

Aus Inspiration wurde Pilotprojekt

Christoph Ramstein wuchs selber in einem musikaffinen Elternhaus aus. Sein Vater war Lehrer und Vizedirigent mehrerer Chöre und Orchester in der Region Basel. «Mein Vater war der lauteste im Haus. Wir Kinder haben alle Arten von klassischer Musik mitgehört.» Als Christoph Ramstein auf das Potenzial der Kinder im Basler Quartier Klybeck/Kleinhüningen aufmerksam wurde, ging ihm der Film Fiddlefest wieder durch den Kopf. Bei einem Vortrag traf er auf eine talentierte junge Geigerin und sprach sie darauf an. Sie kannte «El Sistema» – ein öffentlich finanziertes Musikausbildungsprogramm, das 1975 in Venezuela vom Pädagogen, Musiker und Aktivisten José Antonio Abreu gegründet wurde. Die junge Geigerin sprach darauf an und hat das neue Projekt in Basel gleich mit ihrer Masterarbeit kombiniert: «Ich schenke euch ein Semester, wir probieren das aus.» So kam es 2015/16 zum Start mit Unterstützung der Geigerinnen Livia Berchtold und Daphné Schneider.

Lehrkräfte – nicht nur aus kirchlichen Kreisen – kümmern sich um die Kinder. Sie erreichen mit den Kindern Erstaunliches: «Ich habe Dinge gesehen, da würden Fachleute sagen, das ist nicht möglich.» Im Gruppenunterricht und im Kinderorchester lernen die Kinder sozial, kulturell und kommunikativ. Sie machen erstaunliche Fortschritte bezüglich Kreativität und Konzentrationsfähigkeit.

Von 18 auf über 250 Kinder

Christoph Ramstein kümmerte sich um die Beschaffung der Geigen. Zuerst konnte er bei einem Geigenbauer entsprechende Geigen mieten. 19 Kinder und Jugendliche meldeten sich für das erste Semester zum Unterricht in Gruppen. Davon haben 18 durchgehalten – eine riesige Erfolgsrate! Das 19. Kind fehlte nur, weil es wegen eines Schulwechsels nicht mehr kommen konnte.

Pfarrer Ramstein brachte das Projekt nun in den Vorstand. Dort hatte ein Mitglied einen festen Eindruck: «Was wir jetzt beginnen, werden wir nie mehr aufhören können.» Obwohl das Projekt noch ein Pilotversuch war und Christoph Ramstein einen grossen Lernprozess durchlaufen musste, entwickelte sich «Basel gyygt» kontinuierlich. Nur einmal gab es zahlenmässig einen leichten Einbruch. Im Herbst 2017 waren es bereits 60 Kinder in neun wöchentlichen Lektionen an vier Standorten. «Das ist ein beeindruckendes, berührendes und notwendiges Projekt! Insbesondere die Verbindung von grossem sozialpädagogischem Engagement und gleichzeitig sehr ernsthaftem Anspruch an die allerersten Schritte auf der Geige finde ich wunderbar», erklärt Barbara Doll, Professorin für Violine an der Hochschule für Musik Basel FHNW.

Erster grosser Auftritt

Es gelang Christoph Ramstein, immer mehr Instrumente zu mieten, bis die Mieten gehörig zu Buche schlugen. So machte er sich als Laie kundig, wie man Instrumente einkaufen kann: Obwohl jeder Geiger sagt «Du musst es gesehen und gespielt haben», hat Christoph Ramstein gelernt, Geigen zu kaufen: «Wir konnten qualitativ ansprechende Geigen zu Preisen erwerben, die uns niemand glaubt!» So kontaktierte er 2018 einen Geigenbauer in Rostock, ob er über Geigen in Kindergrössen verfüge. Prompt kam die Antwort, dass er 76 Stück in Kindergrössen habe. Diese konnte die Stadtmission für insgesamt 2500 Euro erwerben.

Aktuell nehmen schon über 250 Kinder pro Woche in 36 Gruppen an den Gruppenlektionen teil. Über 90 Prozent haben einen Migrationshintergrund. Anfang 2019 wurde das «Basel gyygt Kinderorchester» gegründet. Im Rahmen der dritten «Nacht des Glaubens» – einem Festival für Kunst und Kirche – vom 17. Juni 2022 hatte das Kinderorchester «Basel gyygt» im Stadtcasino im Hans Huber Saal um 18.00 Uhr seinen ersten grossen Auftritt.

Musik bringt viel für das Leben der Kinder. Sie lernen soziales Verhalten im Orchester beim Zusammenspielen. «Da findet konkrete Integration statt. Musik ist ideal zur Gruppenbildung. Da würde noch sehr viel drinliegen!», erklärt Christoph Ramstein. In allen Schweizer Städten mit substanzieller Migration könnte man so etwas umsetzen: «Wenn man das mal gesehen und erlebt hat, könnte man gesellschaftlich einen grossen Beitrag leisten. Die Evangelische Stadtmission Basel würde ihr Know-how gerne zur Verfügung stellen. Das Projekt macht einfach Freude!»

Zum Thema:
Mit über 80 Anlässen: Erfolgreiche «Nacht des Glaubens» in Basel
Claudia Hoffmann: «Ich entdeckte auch Neues in mir»
Mustafa Yesildeniz: Ein Flüchtling wird Heimleiter

Datum: 22.09.2022
Autor: Markus Baumgartner
Quelle: Dienstagsmail

Publireportage
Werbung
Livenet Service
Werbung