Back to the roots?

Was unsere Gemeinden von den ersten Christen unterscheidet

Kirche steht für Tradition bis hin zur Unveränderlichkeit. Dabei ist sie permanent in Bewegung. Und die grössten Unterschiede zu den ersten Gemeinden zeigen deutlich: ein echtes «back to the roots» ist weder möglich noch sinnvoll.
Wurzeln

Der Wunsch ist unter Europas Christen weit verbreitet: «back to the roots» – zurück zu den Wurzeln. Wir wollen glauben wie die ersten Christen. Und wir wollen in Kirchen und Gemeinden leben, die Gott so unmittelbar erfahren, wie es im Neuen Testament den Anschein hat. Der Fachbegriff für dieses Gefühl ist Nostalgie, und er beschreibt die Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die es so nie gab. Denn auch zu biblischen Zeiten war nicht alles Gold, was glänzte. Sonst hätte Paulus kaum einen Brief schreiben müssen… Und selbst zu tatsächlich so gewesenen Haltungen und Handlungen ist keine echte Rückkehr möglich. Das Nachdenken darüber kann aber einen guten Weg in die Zukunft aufzeigen.

Eine grosse Familie

Ein typischer Wert der frühen Christen war es, dass Gemeinde sehr familiär war. Diesen Anspruch haben zwar auch moderne Kirchen, doch er äussert sich heute völlig anders: man sagt schnell «Du» zueinander, es gibt nach dem Gottesdienst eine Tasse Kaffee und beim Beten reicht man sich schon einmal die Hände.

Nichts davon ist schlecht, es hat nur wenig damit zu tun, was die Urgemeinden darunter verstanden, wenn sie sich als eine grosse Familie fühlten. Statt der heutigen Vater-Mutter-Kind-Kleinfamilie ging es damals um bedingungslosen Zusammenhalt in einer ganzen Sippe. Preston Sprinkle meint dazu: «Du musstest deine Verwandten nicht mögen, aber es wurde von dir erwartet, dass du sie liebst.» Dieser scheinbare Widerspruch erklärt sich unter anderem dadurch, dass Familie Schutz und Versorgung bot, Arbeit und Zuwendung. Immer wieder betont besonders Paulus diesen Zusammenhang – und die dadurch neue Zugehörigkeit. Er unterstreicht zum Beispiel in Epheser, Kapitel 2, Vers 19: «So seid ihr nun nicht mehr Fremdlinge ohne Bürgerrecht und Gäste, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen (oder Familienangehörige).»

Viele der damaligen Familienaufgaben übernimmt zurzeit unser Sozialsystem. Vieles wäre uns heute auch als Christen zu «nah», denn Familie schenkt ja nicht nur Zuwendung, sondern spricht auch ins eigene Leben hinein. Die Frage, die sich für Christen heute ergibt, ist: Wie lässt sich eine verbindliche, tragfähige Beziehung miteinander als Christen leben?

Der Umgang mit Geld

Ein weiterer grosser Unterschied zu früher ist der Umgang mit Geld in der Kirche. Abgesehen von der damals unbekannten Kirchensteuer, durch die die Grosskirchen heute finanziert werden, war auch das Ausgeben des Geldes völlig anders orientiert. Heute sind die grössten Posten in einem Gemeindehaushalt Personalkosten und Miete bzw. Abzahlung für ein Gebäude. Mission und Wohltätigkeit spielen demgegenüber nur eine kleine Rolle.

Das Neue Testament spricht nie von Gehältern oder Gebäudekosten, noch nicht einmal vom oft zitierten «Zehnten», stattdessen vom «Geleiten» von Missionaren (vgl. 1. Korinther, Kapitel 16, Vers 6 – damit ist ihre finanzielle Versorgung gemeint!) und immer wieder vom konkreten Helfen, wie es schon Jesus erwartete: «Verkauft eure Habe und gebt Almosen!» (Lukas, Kapitel 12, Vers 33).

Auch im Bereich der Finanzen hat sich vieles geändert. Manches dadurch, dass Gemeinde Struktur gewonnen hat und – ja, das ist ein Gewinn! Denn Wachstum ohne Strukturentwicklung ist schlichtweg nicht möglich. Die Frage, die sich trotzdem für Christen heute ergibt, ist: Wie lässt sich ein verantwortungsvoller Umgang mit Geld leben, der sich nicht nur um die eigenen Belange dreht?

Die Bibel als Basis

Ein weiterer grosser Unterschied erschliesst sich erst auf den zweiten Blick: es ist der Umgang mit der Bibel. Tatsächlich bezeichnen sich viele christliche Gemeinden heute explizit als «bibeltreu», und viele Christen haben mehrere Bibelübersetzungen im Regal stehen. Doch damit wird bereits ein Teil der Verschiebung deutlich. In frühchristlicher Zeit konnten die wenigsten Gläubigen lesen und fast niemand besass Teile der Bibel – sie waren schlichtweg unbezahlbar. Stattdessen hörten die Christen regelmässig auf Lesungen der Bibel und lernten ganze Passagen auswendig.

Momentan breitet sich laut Preston Sprinkle eine neue Art von biblischem Analphabetentum aus: «60 Prozent der wiedergeborenen Christen können nicht einmal fünf der Zehn Gebote benennen, und 81 Prozent sind nicht von den christlichen Glaubensgrundsätzen überzeugt – oder kennen sie einfach nicht.»

Dies ist allerdings kein rein geistliches Phänomen. Man entdeckt es auch in fast jeder Küche. Dort stand früher genau ein Kochbuch, aber die Hausfrau hatte alle Grundrezepte im Kopf. Heute stehen dort ein Dutzend Trendkochbücher, aber kaum jemand weiss spontan, wie ein Hefeteig herzustellen ist…

Gerade das letzte Beispiel unterstreicht, dass die Veränderungen der Christen und ihrer Kirche nicht im luftleeren Raum geschehen. Sie sind Ausdruck von gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen, die sich – selbst wenn man das wollte – nicht einfach zurückdrehen lassen. Doch so, wie Christen heute nach alten bzw. neuen Formen des familiären Zusammenlebens suchen, wie sie einen geistlichen Umgang mit Geld kultivieren müssen, so stellt sich auch für ihre Bibellektüre die Frage: Wie gewinnt Gottes Wort heute in Kirchen und Gemeinden neu Gestalt?

Utopia statt Retrotopia

Der Ruf, zurück zu den Anfängen zu gehen, kann nicht die Lösung sein. Denn heutige Probleme lassen sich nicht mit gestrigen Ideen lösen. Der Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman entlarvt diesen vergeblichen Versuch in seinem Buch «Retrotopia», in dem er analysiert, warum unsere Gesellschaft sich lieber an der Vergangenheit orientiert, als nach vorne zu schauen: «Welche Erleichterung ist es da, aus dieser undurchschaubaren, unergründlichen, unfreundlichen, entfremdeten und entfremdenden Welt voller Falltüren und Hinterhalte in die vertraute, gemütliche und heimatliche … Welt von Gestern zurückzukehren.»

Sicherlich hilft ein «Blick in den Rückspiegel», doch Glaube und Gemeinde lassen sich nicht rückwärts leben. Sie funktionieren nur nach vorne.

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Datum: 06.03.2019
Autor: Hauke Burgarth / Preston Sprinkle
Quelle: Livenet / Relevant Magazine

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